Türkei: Die Demokratie verteidigen!
Erdogan und die AKP sollen die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gewonnen haben. Das hat die Wahlkommission offiziell verkündet. Recep Tayyip Erdogan ist damit türkischer Präsident mit neuer Machtfülle. Die Türkei ist damit faktisch eine Ein-Mann-Demokratie geworden.
In Istanbul herrscht Totenstille nach der Wahl
Die Opposition bestreitet, dass es bei den Wahlen in der Türkei an diesem Wochenende mit rechten Dingen zugegangen ist. Eine unabhängige und faire Wahl sei das nicht gewesen, bemängeln auch Beobachter. Beschwerden über Wahlbehinderungen, kurzfristige Verlegung von Wahllokalen und Behinderungen bei der Kontrolle der Stimmauszählungen werden immer lauter. Aber der Siegesrausch der Erdogan-Anhänger übertönt jeden Zweifel.
Ich habe mich ein wenig umgehört: Die engagierten Frauen aus dem Frauenprojekt im ostanatolischen Van sind froh, dass zumindest die prokurdische HDP die 10-Prozent-Hürde geschafft hat und ins Parlament einzieht. Meine Verwandten in Ankara können die wundersame Stimmenvermehrung der AKP kaum glauben. Sie fragen sich, woher plötzlich all die vielen Neuwähler kommen. In Istanbul, das berichtet mir eine Freundin am Telefon, herrsche Totenstille; als hätte es den Menschen schlagartig die Stimme verschlagen. Es fühlt sich an, als seien ganze Stadtteile in Depression verfallen, sagt sie.
Kurzum: Das Ergebnis der Türkei-Wahlen hat viele säkulare Türkinnen und Türken schockiert. Denn kurz vor der Wahl stand die Stimmung ja noch auf Wandel. Ganze zwei Millionen Menschen kamen am Donnerstag auf einer Kundgebung der Republikanischen Volkspartei (CHP) in der Vier-Million-Metropole Izmir zusammen. Die Oppositionsbewegung hatte mit CHP-Kandidat Muharrem Ince eine Identifikationsfigur gefunden, die die demokratischen Kräfte schier träumen ließ. Aber wer wie Erdogan den Staatsapparat beherrscht, alle Medien dominiert und über scheinbar unerschöpfliche Mittel verfügt, der gewinnt auch die Wahl. Egal, wie groß die Oppositionsbewegung ist.
Das Land ist zerrissener denn je. „Die Demokratie muss jetzt aus dem Westen kommen“, sagt mein Bruder, der in Istanbul schon auf gepackten Koffern sitzt. Er will nach Dalyan umziehen, in der Nähe der Küste. Denn wer kann, der zieht jetzt in den Westen der Türkei, ins Sommerhaus, und lässt den Fernseher lieber aus. Nur, um nicht Erdogans Reden hören zu müssen, so wie in den letzten Wochen quasi täglich.
Die 10.000 Moscheen der türkischen Religionsbehörde „Diyanet“ waren auch diesmal die Wahlbüros der AKP. Aber die Behörde versorgt nicht nur die WählerInnen in der Türkei mit ihrer Ideologie, sondern auch die im Ausland. Dass in der Bundesrepublik die wahlberechtigten Türken mit zwei Drittel aller Stimmen Erdogan und damit die Autokratie gewählt haben, zeigt einmal mehr, dass sich eine große Zahl der Türkinnen und Türken hierzulande gar nicht integrieren will. Erdogan hat sie erfolgreich in einem kollektiven Selbstbewusstsein geeint: Selbst die Abgehängten unter ihnen fühlen sich als die besseren Menschen – weil sie an Allah glauben.
Und auch der deutschen Politik scheint es nicht ernsthaft an ihrer Integration gelegen zu sein. Wenn der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck nach der Wahl davon spricht, dass dieses Wahlergebnis „kaum ein Beispiel gelungener Integration“ sei, dann ist das nur als Zynismus zu verstehen. Denn die AKP ist in Deutschland ja nur deswegen so stark, weil die Bundesregierung mit Unterstützung aller Parteien seit Jahrzehnten zulässt, dass über die Islam- und Moscheen-Verbände wie DITIB oder Millî Görüş systematisch eine Gegengesellschaft propagiert wird. Eine Gegengesellschaft, die sich inzwischen etabliert hat.
Islam-Verbände propagieren
eine Gegen-
gesellschaft
Von einer „Kultur des Konsens“ mit gemeinsamen Werten, Prinzipien und Traditionen sind wir deswegen weiter entfernt denn je. Stattdessen übernimmt die Politik die Ideologie der Islam-Verbände unhinterfragt als angeblich „unveränderbare Kultur“. Und das führt dann zum Beispiel zu der wahrlich absurden Akzeptanz von Burkinis in staatlichen Schulen. So wie SPD-Familienministerin Franziska Giffey gerade erst auf einer Veranstaltung der Zeit erklärte: "Das wichtigste ist ja das Wohl der Kinder, und das heißt nun mal, dass alle Schwimmen lernen". Frage: Seit wann gehört es zum „Wohl“ eines Kindes, seinen Körper verhüllen zu müssen?
Erst dieser fatale Kulturrelativismus hat die „türk-islam toplumu“, die türkisch-islamische Gemeinschaft, als Gegengesellschaft ermöglicht. Diese Fehleinschätzung führt dazu, dass die islamischen konservativen bis reaktionären Familien ihre Töchter nicht weiter in die Schule schicken, sondern verheiraten. Töchter, die in der Grundschule noch davon geträumt hatten, Ärztinnen oder Pilotinnen zu werden.
Um es deutlicher auszusprechen: Die Demokratie in der Türkei, in Istanbul, in Van und am Strand von Izmir, aber auch in Berlin-Neukölln und in Duisburg-Marxloh muss verteidigt werden.
Necla Kelek