Esmahan Aykol: Türkinnen ins Exil?
Viki kenne ich seit der Zeit, als ich als Journalistin arbeitete. Sie war damals meine Chefin in der Auslandsredaktion. Eine nette Chefin, mit der ich mich sofort anfreundete. Viki liebte Istanbul und ihre kleine Wohnung mit Blick auf den Bosporus. Deshalb war ich überrascht, als sie mir erzählte, sie wolle die Türkei verlassen. Sie habe vor einigen Monaten die spanische Staatsbürgerschaft beantragt. Viki ist sephardische Jüdin. Ihre Vorfahren wurden im Jahr 1492 aus dem katholischen Spanien vertrieben und fanden im Osmanischen Reich Zuflucht. In Spanien ist kürzlich ein Gesetz verabschiedet worden, das die Nachfahren sephardischer Juden berechtigt, spanische Staatsbürger zu werden. Diese Chance will Viki nun nutzen. Ihre kleine Rente würde in Spanien zum Leben nicht reichen, zumal sie dort auf sich allein gestellt wäre, aber ein EU-Pass würde ihr die Möglichkeit geben, nach Lyon zu ziehen, wo ihre Tochter mit ihrem französischen Mann lebt.
Auch Pelin kenne ich schon lange. Wir haben zusammen Jura studiert. Nach dem Studium hat sie als Managerin gearbeitet, dann ihre eigene Firma gegründet. Sie ist eine erfolgreiche und kluge Geschäftsfrau, die den Wirtschaftsaufschwung der vergangenen Jahrzehnte genutzt hat. „Hier fühle ich mich nicht mehr wohl“, hat sie im Februar nach der Ermordung der jungen Özgecan Aslan gesagt. „Wie soll ich in einem Land Geld investieren, wenn ich nicht weiß, ob wir in fünf Jahren hier überhaupt noch leben können?“ Pelin dachte einen Monat lang nach, wo sie sich wohl fühlen könnte. Im Mai fliegt sie nach London, um dort eine Wohnung zu kaufen. Dadurch bekommt sie leichter ein Visum.
Meine Familie, meine Freunde und Bekannten, die wissen, dass ich deutsche Staatsbürgerin bin, fragen auch mich, was ich hier noch verloren habe, und warum ich noch nicht nach Deutschland gegangen bin. Die Zeiten haben sich geändert. Es sind nicht mehr die armen Schweine aus dem tiefsten Anatolien, die sich in Europa ein besseres Leben erhoffen, es sind wir, die gebildeten, emanzipierten, alleinlebenden Frauen.
In einem sind sich in der Türkei derzeit alle einig: Die Parlamentswahlen am 7. Juni werden unser Schicksal bestimmen. Recep Tayyip Erdoğan, der im August zum Staatschef gewählt worden ist, nachdem er zwölf Jahre Ministerpräsident war, hofft auf einen klaren Wahlsieg der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung). Erdoğan will die Verfassung zugunsten eines Präsidialmodells nach amerikanischem Vorbild ändern und damit noch größere Machtbefugnisse erhalten. Dafür braucht er eine Zweidrittelmehrheit, 367 Sitze im Parlament (von 550). Umfragen zufolge liegt die AKP derzeit mit rund 40 Prozent immer noch vorne, ist aber weit von der absoluten Mehrheit entfernt.
Die Vorstellung, dass Erdoğan und seine islamisch-konservative AKP noch mehr Macht bekommen könnten, ist ein Horrorszenario für alle, die auf eine Demokratisierung der Türkei hoffen. Aber für uns, die gebildeten, emanzipierten Frauen, ist es eine veritable Katastrophe.
Seit seinem Machtantritt 2002 propagiert der bekennende Islamist Erdoğan ein reaktionäres Frauenbild. Mehrfach hat er die türkischen Frauen aufgefordert, früh zu heiraten und mindestens drei – inzwischen fünf – Kinder zur Welt zu bringen. Auf Konferenzen von Frauenorganisationen erklärt der Ehemann einer verschleierten Frau und Vater verschleierter Töchter, er glaube nicht an die Gleichberechtigung von Mann und Frau; Gott habe die Frauen den Männern anvertraut. Er verspricht Gesetze, die Müttern Vorteile bringen sollen; heiratswillige Schülerinnen und Studentinnen erhalten Stipendien und Frauen, die aufhören zu arbeiten, um zu heiraten oder Kinder zu kriegen, bekommen eine Belohnung. Und er kritisiert Feministinnen, die bei Protestkundgebungen singen und tanzen: So etwas sei der türkischen Religion und Kultur fremd.
Auch andere Politiker, wie etwa der Vizeregierungschef und Mitgründer der AKP Bülent Arınç, sind nicht frei von Frauenfeindlichkeit. So forderte Arınç die Frauen auf, in der Öffentlichkeit nicht mehr laut zu lachen und wieder „zu einem Symbol der Keuschheit“ zu werden.
Es gibt im Türkischen ein Sprichwort, das lautet: Der Fisch stinkt vom Kopfe her. Wenn der Staat und seine höchsten Repräsentanten ein solches Frauenbild haben, braucht man sich nicht zu wundern, wenn Diskriminierung und sexuelle Gewalt Tag für Tag zunehmen. Laut der OECD nimmt der Zugang der Türkinnen zur Arbeitswelt jedes Jahr weiter ab, die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern vertieft sich. Auf dem Global Gender Index des Weltwirtschaftsforums belegt die Türkei von 135 Ländern den 124. Platz.
Im Jahr 2010 berichtete das Justizministerium, die Zahl der Morde an Frauen in der Türkei sei im Vergleich zum Jahr 2002 um das 14-fache angestiegen: allein 2009 wurden 1126 Frauen umgebracht. Da die Gesellschaft auf diese Zahl schockiert reagierte, veröffentlicht das Ministerium seither keine Statistiken mehr. Wir wissen nicht mehr, wie hoch genau die Zahl der ermordeten Frauen ist, aber es ist unübersehbar, dass die Morde immer brutaler werden.
Das aktuellste Beispiel ist der Mord an Özgecan Aslan Mitte Februar. Die 20-jährige Psychologiestudentin aus dem südtürkischen Mersin war auf dem Nachhauseweg von der Uni, als ein Minibusfahrer versuchte, sie zu vergewaltigen. Als sie sich wehrte, stach er mit einem Messer auf sie ein und tötete sie mit einem Schlag auf den Kopf. Danach trennte er ihre Hände vom Körper ab, damit keine DNA-Spuren in den Fingernägeln gefunden werden können und verbrannte die Leiche mit Hilfe seines Vaters und eines Freundes.
Die Initiative „Wir werden die Frauenmorde stoppen!“ wurde 2010 gegründet, nachdem Münevver Karabulut ebenso barbarisch ermordet worden war wie Özgecan Aslan in diesem Jahr. Mit kargen Mitteln – sie finanzieren sich durch Spenden und Mitgliederbeiträge – stehen die Aktivistinnen den Familien der ermordeten Frauen bei und bieten ihnen Rechtsbeistand. Laut der Initiative wurden allein in den ersten 65 Tagen dieses Jahres 55 Morde an Frauen begangen. Fadik Temizyürek, eine der Gründerinnen: „Tayyip Erdoğan braucht nur zu sagen, Frauen und Männer seien nicht gleich, und schon wird erneut eine Frau ermordet. Das neue Ausbildungssystem und die Gesetzesänderungen zielen darauf ab, die Frau wieder ins Haus zurück zu verbannen.“ Aber, sagt Fadik, „gleichzeitig durchläuft die Gesellschaft einen Modernisierungsprozess. Die Frauen wollen frei sein. Die Frauen lernen, solidarisch zu sein. Zwar gibt es immer noch Morde. Aber: Am häufigsten bringen Männer ihre Frauen um, weil die sich scheiden lassen wollen. Der zweite Grund für Frauenmord ist, dass sie arbeiten gehen wollen. Das heißt: der Widerstand der Frauen steigt.“ „Als unsere Initiative gegründet wurde, haben wir in Gruppen von fünf bis zehn Frauen jeden Samstag am Taksim-Platz mit unseren lila Plakaten mit der Aufschrift ‚Wir werden die Frauenmorde stoppen!‘ demonstriert“, erzählt Fadik. „Seither sind fünf Jahre vergangen, und inzwischen nehmen hunderte Frauen an unseren Demonstrationen teil.“
Während des Gesprächs klingelt das Telefon. „Die Frauen, die bei uns mitmachen wollen, finden meine Telefonnummer auf unserer Website. Gleich kommt eine neue, die kann ich Ihnen ja vorstellen“, erzählt Temizyürek. So lerne ich Nimet kennen, eine Kurdin um die 50, geschieden. Ihre beiden Töchter hat sie allein großgezogen. Erst vor ein paar Monaten ist sie aus Kars, einer Stadt im Nordosten der Türkei, nach Istanbul gekommen, weil eine der Töchter die Zulassung zur Universität bekommen hat. „Ich bin die erste in meiner Familie, die sich hat scheiden lassen. Was ich an Druck bekommen habe … Nicht nur von der Familie, sondern auch von Freunden und Nachbarn. Ich möchte meinen Töchtern das ersparen, was ich durchgemacht habe. Schon in Kars wollte ich bei Frauenorganisationen mitmachen, aber ich bin nicht allein, ich habe ja die Kinder. ‚Nachher bleiben sie womöglich allein zurück‘, drohten meine Verwandten“, erzählt Nimet und lacht dabei bitter. „Was heißt das: Nachher bleiben sie womöglich allein zurück?“, hake ich nach. „Na, sie verlieren mich eben. Man verschwindet, und noch nicht mal die Leiche wird gefunden.“ Nimet zündet sich eine Zigarette an und fragt: „Sind die Polizisten bei Demonstrationen sehr agressiv? Ich habe ein Herzproblem, ich kann nicht rennen.“ Fadik antwortet: „Ja, agressiv sind sie schon. Aber mach dir keine Sorgen. Wir marschieren untergehakt. Wenn sie uns angreifen, bringe ich dich weg.“
In diesen Zeiten hält es die Türkinnen nicht mehr an ihrem angestammten Platz. Die einen gehen ins Ausland, die anderen demonstrieren auf dem Taksim-Platz. Ich verabrede mich mit Nimet und Fadik für den nächsten Montag zum Treffen von „Wir werden die Frauenmorde stoppen!“ und gehe.
Esmahan Aykol
EMMA Mai/Juni 2015. Ausgabe bestellen