DeutschtürkInnen wählen Erdogan
Erdogan ist am Ziel angekommen. Er wird nun daran arbeiten, die gesamte Macht bei sich zu konzentrieren und zukünftig als von Allah erwählter Sultan, Kalif und Kadi, also weltlicher und religiöser Führer sowie oberster Richter in einer Person aufzutreten. Die Demokratie hat er schon früher nur als einen "Zug" verstanden auf dem Weg zu seinem Ziel: eine islamische Türkei. Auf diesem Weg haben ihm viele, die heute entsetzt sind, den Rücken gestärkt: von der SPD, den Grünen und der Linken, bis hin zur CDU in Deutschland und darüber hinaus die EU. Bei den westlichen Eliten galt die Türkei lange als das Vorzeigeprojekt für die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam.
Diese romantische Hoffnung wurde gestern Abend endgültig zunichte gemacht. Denn Erdogans Haltung des tek millet (ein Volk), tek devlet (ein Reich), tek lider (ein Führer) führt ihn nun mit der Zustimmung der Straße zur Alleinherrschaft. Der Weg zur Errichtung eines "Gottesstaates" ist frei. Direkt vor der europäischen Haustür scheitert ein demokratischer Staat an Islamisierung und Autokratie. Und 2 von 3 der insgesamt 1,4 Millionen Wahlberechtigten (Deutsch)Türken in Deutschland haben dazu beigetragen.
Erdogans knapper Sieg ist eine Niederlage, die Türkei gespalten
Auf seinem strammen Weg der Islamisierung wird Erdogan auch weiterhin auf seine Landsleute in Deutschland als fünfte Kolonne seiner Politik setzen. Die Doppelstaatsangehörigkeit der Deutsch-Türken macht es möglich. Erdogans knapper Sieg - 51,3 Prozent Ja gegen 48,7 Prozent Nein - ist allerdings tatsächlich eine Niederlage. Denn unter den Bedingungen des Ausnahmezustands, nach einem höchst unfairen Wahlkampf, seiner allgegenwärtigen Medienpräsenz, und dubiosen Vorkommnissen bei der Auszählung, bekam er offiziell nicht die erwartete überwältigende Mehrheit. Für den Allmächtigen, der allen mit dieser Abstimmung „eine Lektion“ erteilen wollte, ist das eine gefühlte Niederlage. Er weiß nun, dass er nicht der Präsident aller Türken ist. Die Türkei ist ein gespaltenes Land.
Trotzdem wird Erdogan sich weiter legitimiert fühlen, das Land nach seinem religiösen Ideal zu formen. Er wird sagen: die Mehrheit will die Todesstrafe, das Volk will den Gottesstaat. Mit diesem Sieg hat der Sieger nun auch alles zu verantworten, was an gesellschaftlichem, wirtschaftlichem und politischem Niedergang in der Ex-Republik Türkei kommen wird.
Zwei von drei der in Deutschland lebenden wahlberechtigten (Deutsch)Türken haben für Erdogans Ermächtigung gestimmt. Am Abend der Abstimmung fuhren Autokorsos mit Erdogan-Fans um den Berliner Breitscheid-Platz - den Ort des grausamen Lastwagen-Attentas - und spielten die (Mehter)Kriegsmusik der Osmanen.
Es waren meist junge Männer, wohl hier geboren und aufgewachsen, die den Sieg des vermeintlich starken Mannes am Bosporus feierten. Mit ihrem EVET haben sie Nein zur Demokratie und Nein zur Integration gesagt. Sie wollen Türken sein und bleiben. Diese Identität haben sie in ihren traditionellen Familien und den aus der Türkei gelenkten islamistischen Moscheen gelernt. Und von der linksgrünen Politik - wie „ihren“ Abgeordneten Özcan Mutlu, Christian Ströbele oder Aydan Özoguz - wurden sie in einer Opferrolle als angeblich "Ausgegrenzte" bestärkt. Jetzt weinen dieselben Krokodilstränen über den Weg der Türkei in die Diktatur.
Keiner dieser Fortschrittlichen und "Antirassisten" hatte bis gestern auf die antidemokratischen Strukturen der Islam– und Kurdenvereine hingewiesen oder gar etwas dagegen unternommen. Dabei waren und sind sowohl die Moscheen - die von der Türkei gelenkten DITIB-Moscheen, wie die aus Saudi-Arabien finanzierten der Muslim-Brüder oder der Milli Görüs, - und die orthodoxen Islamverbände Brutstätten der Erdoganpartei und der Abgrenzungspolitik von Muslime und Türkeistämmigen in Deutschland. 64% der Ja Stimmen wurden in den Moscheen in Deutschland organisiert. Die Wahlkampagnen Erdogans haben die Moscheen getragen. Wie lange möchte unsere Gesellschaft diese Orte der Antidemokratie als Religionsfreiheit schützen?!
Die Mehrheit der Deutsch-Türken lebt in Freiheit - und hat die Unfreiheit gewählt
Diese blinde deutsche Politik verhinderte, dass die jungen Migranten der 3. und 4. Generation eine deutsche Identität annehmen, im Gegenteil: Man hat sie mit der doppelten Staatsbürgerschaft auf die andere Seite gelotst. Jetzt gefallen diese Doppelstaatler sich im Doppelspiel: einerseits nutzen sie Sozialstaat und Demokratie, andererseits gefallen sie sich als Sympathisanten eines islamischen Reis (Führer), identifizieren sich mit ihm.
Die toleranten deutschen Politiker aber feiern weiterhin die doppelte Staatsbürgerschaft als Meilenstein für den von ihnen geträumten Multikulturalismus. Sie sehen nicht, dass sie die Türkeistämmigen damit in ihrem Wunsch, in Deutschland, aber ohne die Deutschen, zu leben, gestärkt haben. Sie behaupten allen Ernstes, die Türkei hätte schon 2004 mit Erdogan in die EU aufgenommen werden müssen, dann wäre jetzt alles gut in der Türkei. Stattdessen hätte die EU den Türken bösartig die Kopenhagener Kriterien vor die Nase gehalten und so in Erdogans Arme getrieben.
Für die freiheitsliebenden Menschen in der Türkei - für meine Familie und meine Freundinnen und Freunde - ist das Ergebnis traurig, denn es entfernt sie noch weiter von Europa und dem Erbe Atatürks. Die Wirtschaftskrise kommt so sicher wie der Ruf des Muezzins, der Bürgerkrieg mit den Kurden wird ihr Leben überschatten, Frauen werden ins Haus gedrängt und auf die Rolle als Mütter reduziert werden.
Die TürkInnen in der Türkei sind ab sofort keine freien Bürger mehr (und sind schon länger stark eingeschränkt). Die Mehrheit der Deutsch-Türken aber lebt in einem freien Land, hat aber die Unfreiheit gewählt. Wir Deutschen und Europäer, woher wir auch kommen, müssen diesen Erdogan- WählerInnen mitten unter uns endlich klarmachen, dass Demokratie und Sozialstaat nur mit Loyalität zu haben ist.
Necla Kelek