Tuğçe ist eine Heldin!
Heute, am 16. Juni 2015, wurden im Tuğçe-Prozess am Darmstädter Landgericht zwei Urteile gefällt. Eines ist ein Urteil qua Gesetz: Sanel M., 18 Jahre alt, der in der Nacht vom 14. auf den 15. November 2014 um kurz nach vier auf einem McDonalds-Parkplatz in Offenbach ausholte und die 22-jährige Tuğçe Albayrak zu Boden schlug, muss für drei Jahre ins Gefängnis. Wegen „Körperverletzung mit Todesfolge“.
Frauen wie Tuğçe sterben, weil Männer zuschlagen
Das zweite Urteil, das heute am Darmstädter Landgericht gefällt wurde, ist ein moralisches. Es hat nicht den Täter, sondern das Opfer im Visier, das seit dieser tödlichen Nacht deutschlandweit als ein Beispiel für Mut und Zivilcourage gilt. Denn schließlich hat die junge Frau etwas getan, was hierzulande unter Schlagzeilen wie „Nicht wegsehen!“, „Zusammenstehen!“ oder „Courage zeigen!“ als verantwortungsbewusstes Handeln verkauft wird: Sie hat eingegriffen. Tuğçe Albayrak hat morgens gegen halb vier Schreie auf der Damentoilette eines Fastfood-Restaurants gehört, ist hingeeilt, hat mehrere betrunkene Männer vorgefunden, die zwei minderjährige Mädchen belästigten, und hat diesen Männern ordentlich die Leviten gelesen. Man könnte auch sagen: Sie hat sich in diesem Moment genau so verhalten, wie jeder es von einem anständigen Kerl erwartet hätte.
Aber Tuğçe war kein Kerl, sie war ein zartes Mädchen. Und sie hat, das kam im Verlauf der Gerichtsverhandlung raus, unanständige Dinge wie „Verpiss dich!“ und „Hurensohn“ gerufen. Und außerdem hatte sie Alkohol getrunken.
"Das Darmstädter Landgericht hat offenkundig nicht die Absicht, Tuğçe Albayrak auf jenem Sockel stehen zu lassen, auf den sie die Öffentlichkeit nach ihrem Tod gehoben hatte", frohlockte die Welt in einem Artikel über den Prozess, in dem die Autorin der Verstorbenen eine Mitverantwortung für ihren Tod attestiert. "Schließlich heißt Zivilcourage eben nicht nur, wie Tuğçe beherzt und kämpferisch für andere einzutreten. Es bedeutet auch, mit Bedacht und kühlem Kopf zu agieren, statt sich selbst und womöglich andere in Gefahr zu bringen."
Zudem, schreibt die FAZ, habe Tuğçe versucht „ein Bild von sich zu verteidigen“. Denn: „Sie war äußerlich nicht die Auffälligste in ihrer Gruppe, aber bekannt als unerschrocken, mutig, schlagfertig.“ Subtext: Sie handelte in dieser Nacht auch aus Geltungsdrang. Und das Deutsch-Türkische Journal fasste es so zusammen: "War Tuğçe Albayrak in Wahrheit eine streitsüchtige, aufbrausende Diva, die sich gerne und überall einmischte? Ging sie oft feiern und sprach dem Alkohol zu?"
Für den Oberstaatsanwalt Alexander Homm war deshalb heute klar: Weder sei Sanel M. ausschließlich ein aggressiver "Koma-Schläger" noch Tuğçe eine "nationale Heldin" für Zivilcourage. So formulierte er es in seinem Schlussplädoyer.
Heldinnen müssen rein sein. Integer. Un-
fehlbar. Und nüchtern.
Damit bediente er ein Klischee: Heldinnen müssen rein sein. Integer. Unfehlbar. Und nüchtern. Eine wie Tuğçe hätte eben wissen müssen, wo ihr Platz ist und wann Frauen besser den Mund zu halten haben. Sie sollte lieber zweimal überlegen, ehe sie eingreift. Und eigentlich hat sie doch ihr Leichtsinn, ihr loses Mundwerk und ihr liederlicher Lebenswandel das Leben gekostet. Oder?
Aber Frauen wie Tuğçe sterben nicht, weil sie fluchen, provozieren oder hochprozentigen Alkohol trinken. Sie sterben, weil Männer zuschlagen. Und allzu oft kann das sogar verhindert werden: Durch einen mutigen Menschen, der im richtigen Moment eingreift.
PS Als die Mutter von Sanel M. nach dem Urteil den Gerichtssaal verließ, musste sie an der kleinen Gedenkstelle vorbei, die Tuğçes Freundinnen und ihre Familie davor aufgebaut hatten. Und spuckte auf das Foto von Tuğçes.