Kim Bui: Lässt nicht locker
Kim Bui ist ein Wunderkind, keine Frage. Sie holte 13 deutsche Meistertitel, nahm drei Mal an den Olympischen Spielen teil und beendete ihre Karriere am 13. August 2022 bei den Europameisterschaften in München. Da ist sie unglaubliche 33 (!) und springt ihre Saltos, Flic Flacs und Schrauben so grandios, dass das Publikum stehend applaudiert und der Kommentator ehrfürchtig erklärt: „Besser geht es nicht!“
Aber Kim Bui ist auch eine Revolutionärin. Denn es ist nichts weniger als eine Revolution, die die deutsche Turnwelt da gerade erschüttert. Und ohne Kim Bui hätte es diesen Aufstand der Turnerinnen vermutlich nicht gegeben. Denn die heute 36-Jährige hat eine Bresche geschlagen, durch die ihre Kolleginnen jetzt marschieren können.

Da ist Meolie Jauch, die im Dezember 2024 mit nur 17 Jahren ihre Karriere abbrach, „weil es mental nicht mehr geht“. Es folgte Tabea Alt, die beklagte, man habe sie mit Knochenbrüchen in den Wettkampf geschickt. Dann Lara Hinsberger, die erklärte, sie sei „behandelt worden wie ein Gegenstand, bis ich körperlich und geistig so kaputt war, dass ich für die Trainer (und irgendwann auch für mich selbst) sämtlichen Wert verlor.“ Eine Turnerin nach der anderen ging mit ihren Horrorgeschichten an die Öffentlichkeit, so dass dem Deutschen Turnerbund (DTB) nichts anderes übrigblieb, als zunächst zwei Trainer freizustellen.
Über die haarsträubenden Missstände an den Trainingsstützpunkten hatte Kim Bui schon im Januar 2021 im Sportausschuss des Bundestages gesprochen. Zwei Jahre später hatte sie das System aus Schmerzmitteln und Straftraining, aus Drohungen und Demütigungen in einem Buch beschrieben und darin, wie auch in der ZDF-Doku „Hungern für Gold“, über ihre eigenen Essstörungen berichtet. Der Druck des öffentlichen Wiegens, die harten Sprüche der Trainerin, die Fressanfälle, das Kotzen. „Das Frühstück ließ ich drin, meistens zumindest. Dann schon zu Hause auf die Waage: 100 Gramm weniger als gestern – es würde ein guter Tag werden. 100 Gramm mehr als gestern – es würde ein beschissener Tag werden.“
Sie schrieb über den alltäglichen Sexismus gegen die Turnerinnen, von der „unüberschaubaren Menge Dickpics“, die sie und ihre Kolleginnen zugeschickt bekommen, bis zum Gender Pay Gap zwischen männlichen und weiblichen Sportlern. Eine kleine erste Revolution proben die deutschen Turnerinnen, als sie bei der EM 2020 in Basel in langen Trikots antreten. Natürlich ist Kim Bui dabei.

Gegen die zerstörerischen Zustände aufzubegehren, muss die Tochter vietnamesischer Eltern viel gekostet haben. Denn zu Hause wurde nicht gesprochen. Nicht über die Flucht der Eltern, die 1978 als „Boat People“ nach Tübingen kamen, wo Kim Bui geboren wurde. Nicht über die im Meer ertrunkenen Brüder der Mutter, aber auch nicht über die ungeheure Anstrengung, mit der der Vater sein Studium als Apotheker durchzog und der Familie eine Existenz aufbaute. „Eine Eins wäre besser gewesen“, sagt der Vater, wenn Tochter Kim mit einer Zwei nach Hause kommt. Mit vier beginnt sie mit dem Turnen, wobei ihr die „asiatische Auslegung von Fleiß, Respekt, Ordnung und Disziplin“ einerseits hilft. Auch als sie nach dem Abitur, parallel zum Profi-Turnen, ein Studium der Technischen Biologie absolviert, geht das nur mit eiserner Disziplin. Andererseits hat das Mädchen verinnerlicht: „Ich bin nie genug.“ Fast drei Jahrzehnte lang wagt sie nicht aufzubegehren.
Doch heute spricht Kim Bui. Sie gibt ein Interview nach dem anderen und erklärt: „Ich bin überwältigt. Nach der Veröffentlichung meines Buches vor anderthalb Jahren stand ich in der Öffentlichkeit mehr oder weniger allein mit meinen Schilderungen da. Jetzt sind wir eine Gemeinschaft, entsteht eine Bewegung.“ Sie weiß: „Mit jeder weiteren Stimme wird es schwerer, die Berichte der Betroffenen als Einzelfälle abzutun, denn das sind sie nicht. Hier geht es um ein System, das Sportlerinnen über Jahre manipuliert, erniedrigt und kaputt gemacht hat.“ Doch dieses System scheint nun endlich gesprengt. Dank Kim Bui und ihren Co-Revolutionärinnen.
Weiterlesen Kim Bui: 45 Sekunden (Edel Sports, 19.95 €). - ARD-Mediathek "Hungern für Gold - Essstörungen im Spitzensport"