Über die Ausstellung „Facing India“

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Als ich im Januar 2016 durch Rajas­than im Norden Indiens reiste, erklärte mir eine humorvolle Inderin aus Chittorgarh namens Parvati, dass sie ganz wie ihre göttliche Namensgeberin eine sanfte Natur sei. Doch sie lasse sich nicht alles gefallen und wenn es sein müsse, dann verwandele sie sich in Kali. Wir haben herzlich gelacht. Kali ist die furchteinflößendste aller hinduistischen Göttinnen. Ihr Name bedeutet das Dunkle. Uma, Parvati, Durga und Kali sind Manifestationen der Göttin Devi, dem Weiblichen schlechthin, wobei Kali als Sinnbild des Zornes der göttlichen Mutter gilt. Sie kämpft gegen Dämonen, denn sie ist die Göttin von Zeit, Wandel und Veränderung, die mit ihren drei Augen in die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft blickt.

Die Kämpferin Kali hat Weitblick und macht nicht nur deutlich, wie sehr die immense Bedeutung des Weiblichen als Urkraft im Hinduismus im Gegensatz zur gesellschaftlichen Stellung der Frau in der Gegenwart steht, sondern ist zugleich ein starkes Sinnbild für den Willen zur Erneuerung der Künstlerinnen von „Facing India“. Ein Großteil der Frauen lebt in Indien weit von dem Status entfernt, den Frauen in Europa und den USA bereits erreicht haben.

Wie verhält es sich in einem Land, in dem der Emanzipationsprozess der Frauen zwar Teil des soziostrukturellen Wandels ist, das jedoch mit wenigen Ausnahmen, wie dem matriarchalen Bundesstaat Kerala im Süden des Landes, zutiefst vom Patriarchat geprägt ist? Wie verhält es sich in einer Gesellschaft, in der Frauen vor dem Gesetz zwar gleichgestellt sind und die Unabhängigkeitsbewegung ihre Gleichberechtigung auf die Tagesordnung gesetzt hat, in der sie jedoch stark benachteiligt und häufige ­Opfer von Gewalt sind?

Jedes Jahr sterben zwei Millionen Inderinnen an den Folgen von Diskriminierung und gewaltätiger Übergriffe. Doch in einem im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtigen Land wie Indien gibt es keine pauschale Antwort auf die Frage nach der Situation von Frauen. So betonen engagierte Frauenrechtlerinnen wie Urvashi Butalia – die 1984 Kali for Women, den ersten feministischen Verlag in Indien mitbegründete und heute Zubaan Books in Delhi leitet –, dass zwischen Stadt und Land, Unter- und ­Mittelschicht unterschieden werden muss.

Nach der Unabhängigkeit Indiens 1947 wird die bildende Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem zunehmend freien Raum, in dem Künstlerinnen sich kritisch äußern. Ihr Medium ist zunächst die Malerei, ihre Themen sind die Frauenrolle, Ausschluss, Sexualität, Gewalt, die eigene Landesgeschichte im Zuge der Teilung Indiens 1947, Ökologie und soziale Ungerechtigkeit.

Bereits 1984 erzählt Nilima Sheikh in ihrer Bildserie When Champa grew up die Geschichte der minderjährigen Braut Champa, die nach ihrer Heirat Opfer des in Indien bei als unzureichend betrachteten Mitgiftgeschenken praktizierten Mitgiftmordes durch Verbrennung wurde. Als Multimedia- und Performance-Pionierin gilt Nalini Malani, die zuletzt auf der documenta 13 mit der Arbeit In Search of ­Vanished Blood Aufsehen erregte. Malani setzte sich darin mit Frauen­themen, dem Kampf um ihre eigene künst­lerische Stimme, mit der Teilungsgeschichte Indiens sowie der menschlichen Existenz auseinander.

In der Sammlungsausstellung der National Gallery of Modern Art in Neu Delhi ist die Anzahl der Werke weiblicher Künstlerinnen bis heute äußerst gering. Abgesehen von der ikonisch gewor­denen Pionierin Amrita Sher-Gil (1913 – 1941) erhöht sich die ­Anzahl der Werke von Frauen erst ab den 1990er-­Jahren. So dokumentiert Sheba ­Chhachhi, halb Aktivistin halb Künstlerin, die protestierenden Inderinnen der Frauenbewegung der 1980er- und 1990er-Jahre ­sowie indische Asketinnen und fügt diese Bilder später zu raumgreifenden Bildinstallationen zusammen. Während Dayanita Singh 2001 mit ihrer berühmten Porträtserie Myself Mona Ahmed intime Einblicke in die ­Geschichte von Mona gibt, die sie über zehn Jahre mit der Kamera begleitet. Mona, ein Eunuch, zählt in Indien zu dem so genannten dritten Geschlecht (hijra), das meist in marginalisierten Gruppen zusammenlebt.

Wie nutzen indische Künstlerinnen mit internationaler Reputation heute ihre Stimme? Wie stellen sich die Landesgeschichte, Gegenwart und Zukunft Indiens aus dem weiblichen Blickwinkel dar? Wie gehen sie mit ihrer sozialen Verantwortung und dem Erbe der feministischen Künstleravantgarde Indiens um? Welche Sprache finden sie für das Unausgesprochene? Die indische Kunstszene mit ihren Hauptsitzen in Neu-Delhi und Mumbai ist eng vernetzt, überraschend weiblich geprägt, offen und diskursfreudig.

Das verbindende Element zwischen den Künstlerinnen liegt in der Beschäftigung mit historischen und aktuellen Grenzkonflikten, für die sie schon allein durch ihre Herkunft sensibilisiert sind. Denn unzählige Ethnien, Kasten, Sprachen und Kulturen, Religionen und Philosophien formen in Indien eine pluralistische Gesellschaft, in der sich Identität unter anderem durch die Abgrenzung vom jeweils anderen definiert. In der Gesellschaftsstruktur eines einzelnen Landes bildet sich eine globale Gemeinschaft ab, die mit Problemen kämpft, die weltweit virulent sind.

Sowohl poetisch, metaphorisch und leise als auch radikal, direkt und laut hinterfragen die Künstlerinnen in ihren multimedialen Arbeiten Grenzen in jeglicher Hinsicht – seien es Geschlechtergrenzen, politische oder territoriale, ökologische, religiöse, soziale oder persönliche Grenzen. Ihre Geschichte, ihre Sichtbar- oder Unsichtbarkeit, ihre Legitimität und nicht selten ihre Auflösung sind das Thema der in „Facing India“ gezeigten Werke.

Bharti Kher dringt in das Herzstück indischer Weiblichkeit vor und überführt das Bindi, den Sari oder die typischen, klirrenden Armreifen als „Ready-Made“ in neue Bedeutungsräume und suggeriert trotz der Abwesenheit des weiblichen Körpers dessen Anwesenheit. Für ihren massiven Deaf Room (2002 – 2012) schmilzt sie Glasarmreifen zu kompakten, schwarzen Ziegelsteinen ein und schafft eine dunkle Metapher für die verstummte Stimme unzähliger Frauen. Für ihre wohl mutigste Arbeit Six Women (2014) besucht Kher mithilfe einer NGO Sexarbeiterinnen im Rotlichtbezirk Sonagachi in Kalkutta. Sie porträtiert sechs von ihnen, indem sie ihre Körper abformt.

Am radikalsten beschäftigen sich ­Mithu Sen und Tejal Shah mit Genderfragen. Sens Medium ist das Leben, der Ort ihrer Revolte ist der Körper. In ihren Zeichnungen über­lagern sich Bild und Wort, primäre Geschlechtsmerkmale, Pflanzen, Früchte, menschliche und tierische Elemente zu bizarren Bildwelten voller ungenierter ­Hybride.

Tejal Shah, ostentativ queer, geht in ihrer komplexen documenta 13-Arbeit Be­tween the Waves weiter. Sie lässt in dieser Fünf-­Kanal-Installation ihre aus Zeit und Raum gefallenen, weiblichen Wesen schamfrei vor der Kamera agieren. Ihre Kostüme sind eine Reminiszenz an Rebecca Horns Film Einhorn (1970), der sich wiederum auf das berühmte Korsett von Frida Kahlo (1907 – 1954) bezieht, sodass sich hier drei Generationen ­starker Künstlerinnen verbinden.

Die Radikalität der freizügigen Bildsprache, die Shah wählt, muss in Relation zur Größe des Schrittes gesehen werden, den sie in einem Land geht, in dem Homosexualität immer noch gesetzlich verboten ist. Hier wird die Forderung nach Anerkennung eines flexiblen Genderverständnisses, jenseits von binären, biologischen und sozial konstruierten Geschlechterrollen, mehr als deutlich. Radikalität als Antwort.

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