Ukrainer wollen nicht mehr sterben

Präsident Selenskyj mit General Olexander Syrskyj, den er gerade zum Oberbefehlshaber der Ukraine ernannt hat. - Foto: IMAGO
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Mit den aktuellen Ereignissen könnte der Krieg in der Ukraine de-facto zu Ende sein. Auch wenn das in dem nun entstehenden Chaos in diesem armen, gebeutelten und ausgebluteten Land nicht gleich voll sichtbar ist. Jetzt hat die Ukraine damit begonnen, sich selbst zu zerstören. Auch würden sich jetzt deutsche Friedensappelle an eine Bundesregierung wenden, die jeden Bezug zur Realität verloren hat.

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Ich gehe davon aus, dass Selenskyj als Präsident die nächsten Monate nicht überleben wird, denn er verfolgt das wahnsinnig anmutende Ziel, mit einer erneuten Großoffensive doch noch Russland zu besiegen. Dazu will er 500.000 Ukrainer zwangsrekrutieren. Eine solche Großoffensive müsste in drei bis vier Monaten beginnen. Er würde aber dazu weder die Waffen noch die Soldaten oder die Zeit dazu haben, diese Offensive auch nur annähernd erfolgversprechend vorzubereiten. Diese Offensive wäre ein kollektiver Selbstmord. Dagegen wird sich massiver Widerstand formieren. Auch in der Ukraine will heute niemand mehr in diesem sinnlosen Krieg sterben.

Michael von der Schulenburg als UN-Beobachter in Afghanistan.
Michael von der Schulenburg (re) in Afghanistan.

Nun hat Selenskyj auch noch seinen Oberkommandierenden der Armee, Walerij Saluschnyj, entlassen und damit eine Vertrauenskrise in der Armee ausgelöst. Einer Armee, die bereits einen enormen Blutzoll in der letzten fehlgeschlagenen Großoffensive gezahlt hat und die immer weniger Soldaten und Munition hat, um Krieg zu führen. Da kann es nicht mehr lange dauern und man wird auch Widerstand und Zerfallserscheinungen in der ukrainischen Armee sehen – wenn sie nicht schon längst angefangen haben.

Auch wird Selenskyj in seinen Kriegsplänen nicht mehr von der NATO unterstützt. Es gibt kaum noch Waffen- und Munitionslieferungen in die Ukraine. Wie Selenskyj glauben kann, nun doch noch einen Krieg gegen Russland gewinnen zu wollen, ist schleierhaft. Allen voran haben die USA den Kriegsschauplatz Ukraine bereits verlassen.

Und nun wird Präsident Putin am 12. Februar auch noch in dem NATO-Land Türkei empfangen werden. Nur in Deutschland scheint man die Zeichen der Zeit nicht verstehen zu wollen. Es ist geradezu peinlich, einen Bundeskanzler in der Welt herumirren zu sehen, der ausruft: „Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen!“.

Putins Ziel: die Ukraine in den
Einfluss Russlands zu bringen.

Diese Ereignisse werden für uns Europäer noch eine andere unangenehme Konsequenz haben: In wenigen Monaten wird der Präsident der USA vermutlich Donald Trump heißen. (Man hat den Eindruck, dass Präsident Biden es nicht einmal mehr bis zu den Wahlen schaffen wird, auf den Beinen stehen zu bleiben.) Trump wird sich schnell über die Köpfe der Europäer hinweg mit Putin arrangieren. Dann werden die Ukrainer als ein betrogenes Volk in den Tiefen von Chaos und Entbehrungen versinken und wir Europäer – und nicht die USA – werden über viele Jahre hinaus für die enormen Folgekosten dieses unsinnigen Krieges zahlen müssen.

Ich gehe davon aus, dass eine Post-Selenskyj-Regierung sofort mit Russland verhandeln wird, wenn es solche Gespräche nicht schon im Geheimen gibt. Auch wenn der Westen nicht mit Putin reden will, so gibt es ja einen regelmäßigen Kontakt zwischen den Militärs Russlands und der Ukraine – sonst wären die vielen Gefangenenaustausche und die erstaunlich niedrige Zahl der getöteten Zivilisten nicht denkbar.

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Putin wird die Ukraine nicht erniedrigen, er wird auch nicht verlangen, die Regierung auszutauschen (er hat ja nie eine Exilregierung aufbauen lassen), er wird nicht in Kiew einmarschieren und schon gar nicht versuchen, die ganze Ukraine zu erobern. Ich könnte mir vorstellen, dass sein vorrangiges Ziel sein wird, die Ukraine zurück in die Einflusszone Russlands zu bringen. Dazu wird er Konzessionen machen.

Die EU hat kein Konzept. Sie könnte daran zerbrechen.

Aber eine Sache ist schon jetzt klar. Was auch passiert, der Westen – und auch die USA – würden dabei keine Rolle spielen. Die NATO-Ausdehnung nach Osten wird gestoppt werden, und auch Georgien und Moldova wie auch das Schwarze Meer werden zurück in die russische Einflusszone fallen. Der Rückzug der USA aus diesen Gebieten, wie auch aus vielen anderen Gebieten der Welt, wird unter Beifall des Globalen Südens beginnen und eine neue Zeit einläuten.

Die Zeitenwende, die der Bundeskanzler einst beschworen hatte, wird dann sehr anders aussehen, als er sich das vorgestellt hat. Deutschland wird sich wieder einmal zwischen die Stühle gesetzt haben.

Aber all das wird keinen Frieden in Europa bringen. Der Kampf um eine dauerhafte Friedenslösung wird jetzt erst beginnen müssen. Die EU-Staaten werden diesen Frieden mehr brauchen als Russland und doch gibt es bisher nicht die geringsten Überlegungen innerhalb der EU, wie der erreicht werden könnte. Die EU könnte daran zerbrechen.

MICHAEL VON DER SCHULENBURG

Der Autor ist ehemaliger Assistant Secretary-General der Vereinten Nationen und hat in vielen Konfliktregionen der Erde gearbeitet; unter anderem in Langzeitmissionen in Afghanistan, Haiti, Pakistan, Iran, Irak und Sierra Leone, aber auch in Syrien, Somalia, Zentralasien, auf dem Balkan und in der Sahel-Region. 2017 erschien von ihm „On Building Peace – Rescuing the Nation-State and Saving the United Nations” (Amsterdam University Press).

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