Ukraine-Krieg: Wankt Selenskyj?

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Roger Köppel : Herr Baud, steigen wir ein mit dem Thema Ukraine. Ich habe gerade eine Talkshow gesehen, da hat eine Nato-Expertin gesagt, die Ukrainer seien dabei, jetzt doch wieder ganz wichtige Geländegewinne zu erzielen. Ich glaube, Sie sehen das etwas anders.
Jacques Baud: Diese Einschätzung ist faktisch falsch. Es gibt eine gute Zusammenstellung der New York Times, die zeigt, dass die Ukraine seit Anfang der sogenannten Gegenoffensive in den letzten sechs, sieben Monaten mehr Gelände verloren als gewonnen hat. Heute hat sich die Lage gar nicht verbessert, im Gegenteil. Die Strategie der Russen seit Oktober letzten Jahres war es, die ukrainische Armee langsam zu zerstören, zu zermalmen. Das ist ein Fakt. Die ukrainische Armee wird langsam zerstört. Wir aber haben die ganze Zeit die Russen unterschätzt. Sie seien schlecht bewaffnet, schlecht geführt, dumm und, und, und. Der größte Fehler, den man im Krieg machen kann, ist, seinen Feind zu unterschätzen. Das trifft auch auf die Ukrainer zu. Soldaten sagten, dass sie ihren Medien geglaubt hätten, dass die Russen unfähig seien. Und dann haben wir angegriffen. Aber das war völlig falsch.

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Wie erklären Sie sich als ehemaliger Nachrichtendienst-Offizier die eklatanten Fehleinschätzungen führender amerikanischer Generäle zu Beginn des Krieges? Die haben ja frühzeitig einen ukrainischen Sieg und eine vernichtende russische Niederlage vorhergesagt.
Das war reines Wunschdenken. Ein Nachrichtendienst kann es sich nicht leisten, Emotionen zu haben. Wir müssen mit Fakten arbeiten, mit Zahlen. Es geht um die Beurteilung der Lage. Es geht nicht um unsere eigene Meinung.

Jacques Baud war Nachrichtenoffizier der Schweizer Armee und UNO-Friedensmissionar.
Jacques Baud war Nachrichtenoffizier der Schweizer Armee und UNO-Friedensmissionar.

Hat die Ukraine überhaupt noch eine Chance, diesen Krieg militärisch zu ihren Gunsten zu wenden?
Das ist extrem unwahrscheinlich, weil sie die Mittel dazu nicht haben. Denn auch die Amerikaner und die Europäer haben keine Mittel, um die Ukraine zu unterstützen. Moskau hat schon im Februar 2022 zwei Ziele definiert: Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine. Es ging zum einen um die Zerstörung der neonazistischen paramilitärischen Streitkräfte wie das Asow-Regiment und ähnliche Verbände, die acht Jahre lang im Donbass aktiv waren. Das zweite Ziel der Entmilitarisierung wurde faktisch Ende Mai, Anfang Juni 2022 erreicht, als Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, dass die Ukraine ab jetzt in puncto Waffenlieferungen vom Westen abhängig sei. Der Westen hat vor allem altes Warschauer-Pakt-Material aus den ehemaligen Ostblockstaaten geschickt. Doch plötzlich sagte Selenskyj: Wir brauchen 500 Panzer und so viele Schützenpanzer. Dann kam die Forderung nach anderen hochentwickelten Waffensystemen.

Wenn ich Sie richtig verstehe, ist ein Ende der Kampfhandlungen in Sicht, weil die Russen ihre Ziele erreicht haben und der Westen nicht genügend Nachschub liefern kann. Außerdem scheint der Westen das Interesse an der Ukraine zu verlieren.
Das ist so, und natürlich hat auch der Konflikt im Nahen Osten dazu beigetragen. Aber man sieht eben auch, dass alles, was man 2022 sagte, nicht stimmte. Von einem Regimewechsel in Moskau war die Rede, von einer Niederlage Russlands. Das ist nicht passiert. Putins Popularität ist ungefähr gleich, sogar ein bisschen gestiegen. Die Wirtschaft hat sich verstärkt, auch das Wachstum. Im Gegensatz zu Europa. Im Grunde genommen geht es Russland heute besser als vor einem Jahr.

Wenn das so ist, müsste der Westen eigentlich einen Plan B haben. Gibt es den?
Ich glaube, im Moment nicht. Es gibt verschiedene Meinungen. Wenn überhaupt ein Plan B kommen würde, dann sicher aus Washington, nicht aus Berlin.

Ist es nicht zynisch, was der Westen mit der Ukraine gemacht hat? Man hat sie hoch gelobt und dann fallengelassen.
Das ist so. Übrigens haben amerikanische Politiker gesagt, dass der Krieg in der Ukraine ein billiges Mittel sei, um Russland zu bekämpfen, ohne dass wir das Leben unserer eigenen Soldaten gefährden. Wir haben die Ukraine benutzt.

Ich habe den Eindruck, dass dieser Krieg auch ein Krieg der USA gegen Europa ist. Man hat Europa und Russland auseinandergeschoben und dadurch Europa stark geschwächt und sehr abhängig gemacht. Ist das auch ein Krieg gegen Europa?
Ich weiß es nicht. Mein Eindruck ist, dass Europa ein Kollateralschaden ist. Die Amerikaner haben nur Russland im Visier gehabt und nicht an die Konsequenzen gedacht.

Es gibt viele Stimmen, die sagen, dass sich Russland unter Putin weg von einer Demokratie und hin zu einer aggressiven Diktatur mit imperialistischen Ambitionen entwickelt habe, was letztlich zum Einmarsch in der Ukraine führte. Sie teilen diese Ansicht offenbar nicht. Warum?
Das sind zwei verschiedene Fragen. Nehmen wir die Demokratie. Wenn ich die französische Demokratie mit der Schweizer Demokratie vergleiche, finde ich, dass Frankreich eine Diktatur oder eine Monarchie ist. Was also heißt Demokratie? Der Democracy Perception Index, der jährlich misst, wie sehr ein Volk glaubt, in einer Demokratie zu leben, zeigt, dass die Russen mehr diesen Eindruck haben als die Franzosen.

Und der zweite Punkt? Die aggressive, imperialistische Außenpolitik? Man kann ja nicht abstreiten, dass Russland aufgrund seiner riesigen Ausdehnung ein Land ist, das in Quadratkilometern denkt. Wer garantiert, dass Moskau nach der Ukraine nicht auch nach Moldau oder dem Baltikum greift?
Wichtig für Russland sind seine Landsleute außerhalb der Grenzen. Wer sie schlecht behandelt, behandelt alle Russen schlecht. Dennoch hat Putin 2014 nicht in der Ukraine interveniert, obwohl sein Volk das wollte.

Und obwohl es rechtsextreme Kräfte in der Ukraine gab.
Diese Leute sind in Kiew an der Macht, auch wenn die nicht eine Mehrheit im Parlament haben. Man hat gesehen, wie die Ukraine einen nationalistischen Weg eingeschlagen hat, der zu Spannungen mit der russischen Minderheit führte.

Hat der Westen letztlich diesen Krieg provoziert? Das ist ja die Frage, die man nicht stellen darf.
Die Frage wurde bereits 2019 von einem Berater von Selenskyj in einem Interview beantwortet. Er hat einen Krieg für Ende 2021, Anfang 2022 vorhergesagt. Außerdem veröffentlichte im März 2019 die amerikanische Rand Corporation auf 300 Seiten eine detaillierte Strategie für das Pentagon, wo alles, was man heute sieht, schon beschrieben war.

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Was glauben Sie, wie es jetzt weitergeht? Sind Sie da optimistisch? Oder sehen Sie da noch eine ganz finstere, fürchterliche Weiterführung dieses aus Ihrer Sicht aussichtslosen Kriegs für die Ukraine?
Ich habe keine Kristallkugel. Aber ich glaube, dass der Westen das Problem hat, sich aus der Krise zu winden, ohne das Gesicht zu verlieren. Das ist die Quadratur des Kreises. Verfolgt man den Machtkampf, der sich jetzt in der Ukraine abspielt, könnte es sein, dass der für Moskau prognostizierte Regimewechsel jetzt in Kiew stattfindet. Es wird mit harten Bandagen gekämpft. Leute werden von den Geheimdiensten eliminiert. Im Kern ist es ein Kampf zwischen Selenskyj und dem Oberkommandierenden Saluschnyj. Der Präsident kann ihn nicht einfach entlassen, weil die Armee hinter ihm steht. Hinter Selenskyj stehen nur die Rechten und die Ultranationalisten. Die USA wollen, dass Selenskyj die Präsidentschaftswahlen gewinnt und dann eine friedliche Lösung herbeiführt. Aber Selenskyj will im Krieg nicht wählen lassen. Genau das könnte in der Folge jedoch zu einem gewaltsamen Regimewechsel führen. Das ist meine Befürchtung. Ich hoffe, dass es nicht so kommt. Aber es gibt tatsächlich Probleme im Moment. Die Bevölkerung steht nicht mehr hinter Selenskyj. Auch Umfragen zeigen, dass er sehr, sehr viel an Popularität verloren hat. Irgendwas, irgendwer wird da weichen müssen.

Das Interview erschien zuerst in der Schweizer „Weltwoche“.

Hier das Manifest für Frieden unterschreiben.

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