Und aus russischer Sicht?
Es war immer mein Prinzip, auf alle Zuschriften zu reagieren – übrigens auch auf die kritischen, sofern sie auf persönliche Beleidigungen verzichteten, erkennbar sachbezogen und nicht anonym (Mail) verfasst waren. Das habe ich während meiner Zeit bei dem innenpolitischen Fernsehmagazin „Monitor“ so gehalten (1982-1987), als Moderatorin des ARD Kulturweltspiegels (1992–1997), sowie bei meinen diversen Büchern. Aber jetzt bin ich an Grenzen gestoßen.
Wer Demokratie ernst nimmt, muss Interesse an umfassenden Informationen haben
Natürlich habe ich gehofft, dass mein aktuelles Buch „Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens“ zur Kenntnis genommen wird und eine möglichst weite Verbreitung erfährt. Schließlich hatte ich mich mit der Entscheidung, es überhaupt in Angriff zu nehmen, sehr schwer getan. Denn diese intensive Arbeit passte nicht wirklich in meine Planung, und es war abzusehen, dass ich bei den sogenannten Leitmedien nicht nur nicht auf Begeisterung stoßen würde, sondern mit kräftigem Gegenwind rechnen musste. Aber ich fühlte mich irgendwie verpflichtet.
Die Reaktion ist überwältigend, qualitativ wie quantitativ. Sie kommt aus allen Ecken der Bundesrepublik und darüber hinaus. Ganz gleich, ob es sich um Schüler, Studenten, habilitierte Wissenschaftler, Automechaniker, Bäckermeister, Fließbandarbeiter oder Rentner handelt, fast allen gemeinsam ist eine nahezu körperlich spürbare Anerkennung für meinen Mut, die Dinge gegen den Strich zu bürsten und mich nicht einschüchtern zu lassen. Es ist schon bemerkenswert, dass sich in unserer Gesellschaft mit ihrer freiheitlich demokratisch verfassten Grundordnung der Eindruck festsetzt, man brauche Mut, um sich außerhalb des Mainstreams zu äußern.
Ich weiß nicht, was ich Menschen antworten soll, die in der DDR aufgewachsen sind, sich mit jeder Faser nach Freiheit gesehnt und dafür ohne Rücksicht auf das eigene Schicksal gekämpft haben und die mir heute schreiben, dass sie ein ungutes Gefühl beschleiche, wenn sie sich die Presselandschaft anschauen und statt offener konstruktiver Streitkultur einseitiges „Draufhauen“, persönliche Beleidigungen und systematisches Messen mit zweierlei Maß finden, je nachdem in welchem Teil der Welt sich etwas abspielt. Der Hunger nach Differenzierung ist überdeutlich.
Dabei handelt es sich durchaus nicht um irgendwelche „Naivlinge“, die – aus welchen Gründen auch immer – Putin für „den Guten“ halten und „die Schlechten“ grundsätzlich auf der anderen Seite ausmachen. Nein. Aber der Automatismus wird nicht akzeptiert, nach dem aus Moskau ausschließlich Propaganda zu erwarten sei und aus Kiew, Washington oder Brüssel die hehre Wahrheit, die sich natürlich nur an humanitären Zielen und westlichen Werten orientiert.
Medienkonsumenten haben Ansprüche. Und das ist auch gut so. Wer Demokratie ernst nimmt und den mündigen Bürger als ihren unverzichtbaren Bestandteil begreift, der muss ein Interesse daran haben, dass Informationen so umfassend und verständlich wie möglich angeboten werden, damit besagte mündige Bürger in der Lage sind, fundierte Entscheidungen zu treffen. Sonst verkommt Demokratie zum Etikettenschwindel.
Es werden rücksichtslos alle diskreditiert,
die quer denken
Wenn man in Leitmedien jedoch liest, dass diese Bürgerproteste, die bei Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern eingehen, mit Vorsicht zu genießen seien, weil es sich um gezielte Propagandaarbeit „der anderen Seite“ handele, dann macht mich das wütend. Daraus spricht zum einen eine kaum zu überbietende Hybris nach dem Motto: Wir wissen es besser, ihr seid zu dumm; und zum anderen werden rücksichtslos alle diskreditiert, die querdenken. Ist das nicht die Aufgabe einer funktionierenden Zivilgesellschaft, die wir mit Macht anderen Staaten überstülpen wollen?
Die Sorge ist groß, dass sich Interessen, die nicht die ihren sind, durchsetzen und Eskalation eine Eigendynamik entwickelt, die sich nicht mehr stoppen lässt. Offenbar habe ich mit meinem Buch über Russland und den Ukraine-Konflikt einen Nerv getroffen.
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Gabriele Krone-Schmalz: Russland verstehen – der Kampf um die Ukraine und die Ignoranz des Westens (C.H.Beck)