"Und plötzlich bin ich halbe Serbin"
Ob es verstümmelte Leichen von Serben oder Kroaten waren - ich weiß es nicht mehr. Irgendwann konnte ich die Bilder nicht mehr einfach abhaken. Irgendwann fingen die Nachrichtensprecher an, von Krieg zu reden, und ich hörte hin. KRIEG, und nicht mehr "Konflikt" oder "bewaffnete Auseinandersetzungen". Welche Leichenzahl war dazu notwendig? 20 oder 200? KRIEG im "europäischen Haus" - am Ende des 20. Jahrhunderts. Aber offensichtlich da hinten in der Schmuddelecke, wo man eh nie so genau hinguckt, wo es nicht so drauf ankommt.
Ich bin Europäerin - meinte ich jedenfalls bis vor wenigen Monaten. Mein jugoslawischer Vater war nach dem Zweiten Weltkrieg von Jugoslawien nach England ausgewandert, heiratete dort eine Deutsche mit italienischem Einschlag und hatte mit ihr eine Tochter, die very british heranwuchs: mich. Nation, Heimatland, Volk - für meine Eltern überholte Begriffe von vorgestern. "Jugoslawien" - das war für mich gleichbedeutend mit einer etwas exotischen Küche und mit einer dunkelhaarigen Verwandtschaft in einem schönen Ferienland.
Aber dann, im Herbst 1991, machte mich die Geschichte zur halben Serbin. Meine Familie lebt nur 50 Kilometer südöstlich von Vukovar und Vinkovc, den meist umkämpften Städten. Ich wurde unruhig, zumal das Telefonieren überhaupt nicht mehr klappte. Wenn ich dem Fernsehen glaubte, stand der halbe Balkan in Flammen. Ich kaufte ein Flugticket nach Belgrad.
Ankunft in einem Krisenland. Eine von wenigen Reisenden. An den Eingängen machen Soldaten Sicherheitskontrollen. Ceca, meine liebste Freundin aus der Kinderzeit, holt mich mit ihrem uralten Renault ab. Nur 30 Minuten musste sie für Benzin anstehen, strahlt sie. Treibstoff - die einzige Mangelware. Auf Belgrads Straßen ist vom Krieg nichts zu merken. Die Läden sind voll, es gibt Lebensmittel und Luxusartikel, wenn auch sehr teuer. Entspannte Gesichter sehe ich kaum. "Die meisten Leute, die ich kenne, sind zutiefst erschüttert oder zynisch wegen der politischen Entwicklung", sagt Ceca. "Aber richtig nachvollziehen können wir auch nicht, was passiert ist."
Für sie wurde der Krieg eher beiläufig fassbar: als nämlich die Belgrader Stadtverwaltung die Müll-Container im Zentrum abschaffte, weil man fürchtete, Extremisten könnten Bomben in ihnen zur Explosion bringen. Nun stehen ungewohnte Müllhaufen am Straßenrand.
Der Kriegspropaganda in den gleichgeschalteten Medien entzieht Ceca sich bewusst. Sie könne die Lügen und Manipulationen nicht mehr ertragen. Und dauernd "tamo daleko" zwischen den Nachrichten, die sentimentale Serben-Hymne. Seit kurzem tauche sie sogar in Werbespots auf. Als wir abends gemeinsam die Nachrichten sehen, zuckt sie zusammen wegen der neuen Sprachregelung: Wenn von Kroaten die Rede ist, heißt es nur noch "Ustascha" oder "Faschisten". Cecas bester Freund ist Kroate und lebt in Zagreb.
Im Zweiten Weltkrieg waren die unabhängigen Kroaten unter Ante Pavelic Waffenbrüder der Nationalsozialisten. Die Ustascha war eine rassistische Blut-und-Boden-Bewegung, die Zigtausende von Serben, Juden und Zigeuner in eigene Konzentrationslager verschleppte. Es kam zu grauenhaften Massakern, zu einem Blutrausch, der sogar die deutschen SS-Okkupanten (!) entsetzte. Die zählten im Jahr 1942 200.000 getötete Serben, heutige Historiker gehen von 350.000 Opfern aus. Ein Genozid, der unmittelbar nach dem Sieg der Partisanen Titos zu blutigen Vergeltungsakten führte. Im kommunistischen Vielvölkerstaat Jugoslawien wurden später die Massenmorde beider Seiten verdrängt und verschwiegen. Bis vor etwa zwei Jahren der politische Verfallsprozess einsetzte.
Auch meine Familie litt unter der Ustascha. Mein Großvater Jovan Mikic war der orthodoxe Pope des serbischen Dorfes Martina. Er und seine beiden Söhne standen 1941 auf der Todesliste der kroatischen Faschisten, sie retteten sich vor den Killer-Kommandos nur durch eine waghalsige Flucht. Ihr gesamter Besitz ging in Flammen auf, meine damals 18jährige Tante Jovanka und meine Großmutter kamen monatelang ins Lager.
Für die meisten Serben ist die Ustascha jetzt wieder auferstanden, und der aktuelle Dreisatz einer - historisch begründeten - Paranoia lautet: die Ustascha macht große und kleine Schweinereien, die Europäer schauen wohlwollend zu, und wir Serben müssen es ausbaden.
Meine gescheite, warmherzige Freundin Ceca ist eine Ausnahme, sie ist eine nichtnationalistische Serbin. Früher war sie eine überzeugte Kommunistin, die an das Modell Jugoslawien glaubte. An einen Staat, der blockfrei und krisenfest war, tolerant und gerecht. Sie war Jugendfunktionärin, reiste durch die ganze Welt und stellte sich stolz als "Jugoslawin" vor - für sie ein kosmopolitisches Etikett. Sloweniens und Kroatiens Unabhängigkeitserklärungen empfindet sie als einen historischen Rückschritt, und sie fühlt sich erstickt von der Inflation vaterländischer Bekenntnisse, die ganz Osteuropa zu überfluten droht.
Dass die Uhren plötzlich um Jahrzehnte zurückgestellt wurden, dafür sorgten zwei Männer: der serbische Präsident Milosevic und der kroatische Präsident Tudjman. Weil beide sich ausschließlich für die eigene Machterhaltung interessierten, nutzten sie die Ängste ihrer Völker zu einem Bruderkrieg aus. In ihrem Namen meldeten sich junge Freiwillige zur Front. Zum Töten.
Ich bekomme sie stundenlang in den serbischen Nachrichtensendungen präsentiert, die patriotischen Rambos. Wie obszön, wenn sie ihre Gewehre gedankenverloren liebkosen. Wie schaurig, wenn sie sich auf ihren Panzern filmen lassen, breitbeinig stehend, zum Bund zusammengeschweißt. Und natürlich ragt das Panzerrohr fürs Foto zum Himmel hoch. Und natürlich sagen sie den Reportern: "Wir sind die Härtesten, wir kommen überall durch".
Die Friedensbewegung ist ohnmächtig, erzählt Ceca. Da zünden Abend für Abend eine Handvoll Pazifisten Kerzen an einem Platz in Belgrad an - von der Öffentlichkeit vollkommen ignoriert. Gewiß, Deserteure werden mit Erfolg versteckt, aber zu mehr reicht die Kraft nicht. Wer für Dialog oder schlichtes Hinhören plädiert, wird als Verräter ausgegrenzt. Und was ist mit den "Friedensmüttern", jenen Frauen, die so eindrucksvoll die Parlamente stürmten und ein Ende des Blutvergießens verlangten? "Die werden bald vor Gericht stehen, wegen Landesfriedensbruch oder Störung er parlamentarischen Arbeit. Was hast du geglaubt?"
Fahrt in die Wojwodina, die alte Kornkammer Jugoslawiens. Einst eine autonome Provinz wie auch das Kosovo, inzwischen von Serbien eingegliedert. Sonst donnern bei Tag und Nacht unzählige Fahrzeuge über die autoput, eine der Hauptverkehrsadern des Balkans. Heute ist sie leer. Ab Der Krieg ist vor allem ein Geräusch und zu halten serbische Uniformierte die wenigen Autos an und fragen, ob man Waffen dabei habe. Sie erzählen, dass die Kroaten keinerlei Kontrollen an ihren Grenzen machen, damit ihre faschistischen Krieger ordentlich Nachschub bekämen. Und dass es wie damals sei, als die Ustascha von den Deutschen bewaffnet und ausgerüstet wurde. Ohne deutsche Waffenlieferungen, ohne den Schmuggel aus Österreich würde der kroatische Widerstand doch in wenigen Tagen zusammenbrechen. Und ob ich wüßte, dass deutsche Söldner bei den Kroaten mitkämpfen...
Sremska Mitrovica, 80.000 Einwohner. In der an der Sava gelegenen Stadt leben überwiegend Serben, aber Kroaten und Ungarn stellen starke Minderheiten.
Meine Familie hat ein kleines Haus direkt am Fluß. Hier spielte ich als Achtjährige mit Freundin Ceca und Kusine Jasna am Ufer des Flusses. Hier sah ich zum ersten Mal leibhaftige Hühner. Hier brachte mir meine schöne Tante Jovanka das Fahrradfahren bei und stopfte mich mit Palatschinken voll. Den Teig dazu rührte sie auf der Veranda vordem Haus an.
Von der Veranda aus kann man heute ab und zu aus der Ferne Detonationen hören, und wenn Soldaten der Bundesarmee sich vom Bruderkrieg erholen wollen, schießen sie zur Entspannung Gewehrsalven in die Luft. Bis zur Kriegsfront bei Sid sind es nur 30 Kilometer. Etwa einmal am Tag dröhnen Militärflugzeuge über den Ort hinweg. Der Krieg ist vor allem ein Geräusch. Sogar hier, nur eine gute Autostunde von den "Heldenstädten" Osijek und Vukovar entfernt, hat sich der Alltag nur in seinen Untertönen verändert.
An der Sava, dem historischen Grenzfluß zwischen Serbien und Wojwodina, steht ein alter Mann und angelt. Wie viele seiner Generation spricht er ein altertümliches k.u.k.Deutsch. Der Fluß, in dem ich noch als Kind gebadet habe, sieht giftig, müde aus.
Aber es gibt noch Fische, beharrt der alte Serbe. Während unseres stockenden Gespräches beobachte ich die kleine, graue Personenfähre. Pendler setzen herüber, die entweder zum Markt und zu den vielen Geschäften Mitrovicas kommen oder deren Schicht in den Fabriken der Stadt beginnt. Der alte Mann schimpft auf die Fische und behauptet, dass sie drüben viel zahlreicher, viel besser seien. Ich staune. Es hindert ihn doch niemand daran, so oft er will, mit der Fähre hin und her zu fahren und selber nach zu sehen.
Plötzlich krallt er sich in meinem Arm fest und weist auf das gegenüberliegende Ufer. "Tamo Srbija, tamo sloboda". Dort ist Serbien, dort ist die Freiheit. Die Tränen stehen ihm in den Augen. Weil er am falschen Ufer lebt. "Und weil die Ustascha doch auch die Wojwodina beansprucht. Bis nach Zemun, kurz vor Belgrad, man stelle sich das nur einmal vor!"
Essen mit der Familie. Manche habe ich 15 Jahre lang nicht mehr gesehen. Die Heimkehr der verlorenen Tochter. Sie haben ein Zicklein geschlachtet. Und dann schwere Kost mit Tafelsilber und russischem Porzellan. Im Hintergrund verbreiten die unbesiegbaren Fernsehsprecher abwechselnd Alarm- und Triumphgefühle. Serbische Milizen verbrennen eine kroatische Flagge in einer "befreiten" Straße. Ich höhne über die leeren Rituale und werde dann belehrt: "Wenn wir Serben das Schachbrettmuster auf dem kroatischen Wappen sehen, dann ist das so, als ob bei Euch in Deutschland eine Hakenkreuzfahne weht. Was lernt Ihr eigentlich in der Schule?"
Deutschland ist nicht nur für meine Tischgenossen zum Vierten Reich mutiert. Als die Mauer fiel, davon sind viele Serben überzeugt, entwickelten deutsche Politiker einen Plan zur modernen Kolonisierung Osteuropas. Ein riesiges Hinterland mit billigen Rohstoffen und Arbeitskräften. Außenminister Genscher - der bedrohliche Stratege. Und was ist mit Großserbien? "Ach was", wehrt Tante Juvanka ab, "davon träumen nur Spinner oder Extremisten. Aber Großdeutschland, das gibt es doch schon."
Über Mitrovica donnern wieder ein paar Flugzeuge Richtung Front. Mein 70-jähriger Onkel Drasko blickt sehnsüchtig zum Fenster hinaus. Wenn ernurzehnJahre jünger wäre, könnte er mitkämpfen gegen die Ustascha. Ich bin als einzige erschrocken, als er eine Pistole hervorkramt. Alle Männer, so scheint es, haben eine Waffe.