Frauen waren Jägerinnen!
Es sind nun mal die Männer, die den Schinken nach Hause bringen. So heißt es oft noch heute, wenn über den Hauptverdiener der Familie gesprochen wird – und schwupps werden steinzeitliche Analogien gezogen. Da war der Schinken noch vom Mammut. Lange war die Rollenverteilung der Prähistorie klar: Der starke Mann erlegte mit Speer und Pfeil und Bogen das gefährliche Großwild. Die Frau sammelte Beeren, kehrte die Höhle und kümmerte sich um die Kinder. So weit, so falsch. Denn dieses Bild, das sich bis heute durch sämtliche archäologischen, kulturgeschichtlichen und vor allem durch populärwissenschaftlichen Abhandlungen gefräst hat, bekommt schon lange immer mehr Risse.
Ein spektakulärer Fund im Hochland der Anden verschärfte die Zweifel und beschäftigt die Fachwelt noch immer. ArchäologInnen stießen 2018 bei Wilamaya Patjxa, im Süden Perus, auf ein Grab in Höhe von 4.000 Metern. Ein Grab auf solch einer Höhe, gefüllt mit Speerspitzen, Messern und Werkzeugen für die Großwildjagd ließ nur einen Schluss zu: Das muss ein Wahnsinns-Jäger gewesen sein, der dort beerdigt wurde. Entsprechend wird er über den Tod hinaus geehrt und schwer bewaffnet ins Jenseits geschickt. Aber schade. Es ist alles ganz anders.
Die DNA-Analyse der Gebeine ergab: Die sterblichen Überreste des Wahnsinns-Jägers sind nicht nur runde 9.000 Jahre alt – sie sind auch weiblich. Die Tote muss um die 18, 19 Jahre alt gewesen sein – ihre Weisheitszähne waren noch nicht durchgebrochen – und sie muss ihr Leben im Hochland der Anden verbracht haben. Es ist das älteste bisher entdeckte Grab einer Jägerin.
Dieser Fund löste eine Studie aus. Weitere Gräber, die in Nord- und Südamerika entdeckt worden waren, wurden noch einmal genauer analysiert. Die Auswertung zeigte: Unter den 27 mit Jagdwerkzeugen bestatteten ruhmreichen „Jägern“ waren fast die Hälfte Frauen. Diese Funde wiederum wurden nun von der Anthropologin Cara Wall-Scheffler, Professorin an der Seattle Pacific University, in einen Zusammenhang gestellt. Wall-Scheffler und ihr Team hatten Daten aus Funden von 391 Jäger-und-Sammler-Gesellschaften erfasst. Die verteilten sich auf verschiedene Kontinente und Kulturen, darunter 19 verschiedene Gesellschaften aus Nordamerika, sechs aus Südamerika, zwölf aus Afrika, 15 aus Australien, fünf aus Asien und sechs aus Ozeanien. Die Berechnungen der WissenschaftlerInnen ergaben, dass in Jäger-Sammler-Gesellschaften im späten Pleistozän und frühen Holozän, also vor etwa 12.000 Jahren, sogar zwischen 30 und 50 Prozent der prähistorischen Großwildjäger Frauen waren. Weltweit. In 80 Prozent aller Fälle gingen Frauen einer Gesellschaft genauso wie Männer auf die Jagd.
Die Studie belegt außerdem, dass die Jägerinnen flexibler in der Wahl ihrer Methoden und Jagdwaffen waren als die Jäger. Beispielsweise jagten die Frauen der Akha – einer ethnischen Gruppe aus Südostasien – mit Netzen, Speeren, Macheten und Armbrüsten. Die Agta hingegen – so lautet die Sammelbezeichnung für indigene Völker auf den Philippinen – jagten lieber mit leichtem Gepäck: „Einige Frauen bevorzugten die Jagd nur mit Messern, manche benutzen auch Pfeil und Bogen, andere eine Kombination aus beidem“, heißt es in der Studie. Auch die Jagd mit Hunden ist für Frauen dokumentiert. Außerdem widerlegten die Forscherinnen um Wall-Scheffler die Idee, dass Mutterschaft Frauen kategorisch vom Jagen ausgeschlossen hätte. „Bei 50 Prozent der untersuchten Gruppen jagten Frauen gemeinsam mit ihren Kindern“, so die Forscherinnen.
In manchen Gesellschaften gingen Mann und Frau gemeinsam auf die Jagd, in anderen in gleich- oder gemischtgeschlechtlichen Gruppen. Allein oder bei Nacht auf die Jagd zu gehen, das war scheinbar nur Männersache.
Und nicht immer ist klar, ob die Frauen gezielt auf die Jagd gingen oder auf Streifzügen das erlegten, was ihnen zufällig vor den Speer kam. Für Ersteres fanden die Wissenschaftlerinnen immer- hin 36 Belege, für Letzteres lediglich fünf. In Ethnien, in denen die Jagd als die wichtigste Methode der Nahrungsbeschaffung bezeichnet wurde, beteiligten sich Frauen zu 100 Prozent aktiv an der Jagd. In einem Drittel der Gruppen machten die Frauen auch Jagd auf große Tiere.
„Die Vorstellung, dass sich nur Männer für die mitunter gefährliche Jagd eignen, ist allein der Deutungshoheit männlicher Forscher und Archäologen geschuldet“, sagt Forscherin Wall-Scheffler. Forscher hätten diese Funde bis heute gemäß ihren eigenen Rollen interpretiert. Doch die stammten nun mal nicht aus der Prähistorie, sondern aus der Welt des Bürgertums, also aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Diese Rollenbilder wurden den Jäger-und-Sammler-Kulturen einfach übergestülpt.
Und selbst, wenn Archäologen Waffen im Grab einer Frau gefunden hatten, hätten sie nach alternativen Deutungen gesucht. So wurden Äxte dem Haushalt zugeschrieben, Schwerter zu symbolischen Machtinsignien einer Familie, die der Frau vererbt worden sein mussten.
1966 goss ein Anthropologen-Kongress in den USA diese Interpretationen in Zement: „Der Mann, der Jäger“ hieß die Publikation, die daraus hervorging und in Fachkreisen international großen Anklang fand. Später wurde sie ergänzt, durch, raten wir mal, ja genau: „Die Frau, die Sammlerin“.
Über 400 Jahre, bis Ende der 1990er waren Archäologen und Ethnologen fast reine Männervereine, die ihre Funde in die passenden Schubladen einsortierten und Frauen als Trägerinnen der Menschheitsgeschichte schlicht übergangen hatten (EMMA 4/2017). Das änderte sich erst mit der Neuen Frauenbewegung der 1970er. Die brachte Netzwerke hervor wie das Netzwerk archäologisch arbeitender Frauen (FemArc). Heute sind 70 Prozent der Archäologie-Studierenden weiblich. Und immer neue Forschungsmethoden lassen immer präzisere Analysen zu.
Um Frauen dennoch in die Steinzeit zurückkatapultieren zu können, wird heute mit Hormonen argumentiert. Die Hormone sorgten nun mal für generelle Schwäche, kleinere Gehirne und Gefühlsschwankungen. Sie lassen die Frauen im Grunde noch immer lieber Beeren sammeln und Männer den Schinken nach Hause bringen. EMMA widmete darum Hormonen, ihrer Verzahnung mit der Prähistorie und ihren Verballhornungen jüngst ein ganzes Dossier (EMMA 1/24).
„Die Jagd war unter Frauen weit verbreitet, sie haben in vielen Kulturen einen wichtigen Anteil der Versorgung mit Fleisch geleistet. Dass Frauen wegen Menstruation oder Schwangerschaft von der Jagd ausgeschlossen waren, ist reine Projektion“, sagt Cara Wall-Scheffler. Denn Fleisch war das elementarste Nahrungsmittel. Eine Gesellschaft wäre lebensmüde, auf seine besten Jägerinnen zu verzichten, nur weil die keinen Penis zwischen den Beinen baumeln hatten. Möge der Bessere erlegen – oder eben die Bessere. Hauptsache Fleisch.
Grabfunde aus der Stein-, Eisen- und Bronzezeit, die den Zeitraum von 5.300 v. Chr. bis 850 n. Chr. abdecken, gaben ähnliches preis. Bei der Frage, wer welche Arbeiten verrichtete, spielte nicht das Geschlecht, sondern das Alter, die Fitness und das Talent fürs Jagen die größte Rolle. Übrigens: Die Frauen in jenen Jahrtausenden hatten stärkere Oberarme als heutige Weltklasse-Ruderinnen.
Dass ein Mensch mit Waffen beerdigt wird und es sich im Nachhinein herausstellt, dass er eine Frau ist, ist so neu nicht. Schon vor zehn Jahren sind ForscherInnen aus Schweden erste Zweifel gekommen, wie „patriarchal“ die Geschichte ihrer Volkshelden, der Wikinger, wirklich ist. Dem Klimawandel und dem schmelzenden Eis geschuldet, sind im hohen Norden immer mehr Gräber, ja ganze Friedhöfe von Wikingern gefunden worden, die auffallend viele Wikingerinnen in ihren (Grab-) Reihen hatten.
In Solør, Norwegen, fanden britische ForscherInnen 2019 das Grab einer Frau auf einem Wikingerfriedhof, das nur so vor Waffen strotzte. Auch im norwegischen Kjolen und Aunvollen stießen Archäologinnen auf Frauenskelette, die mit Schwertern beigesetzt worden waren. Im britischen Derbyshire stießen ForscherInnen auf ein Massengrab von Wikingern, die im Kampf starben – jeder fünfte war eine Frau.
Spektakulär sind auch Funde von Forscherinnen vor vier Jahren im Westen des heutigen Russlands. Dort lebte vor rund 2.500 Jahren das Nomadenvolk der Skythen.
Und wenn es einen Stamm gibt, der den Amazonen nahekommt, dann sind es wohl die Skythen. Diese Reiternomaden beherrschten ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. die Steppen nördlich des Schwarzen Meeres im heutigen Südrussland und der Ukraine. Sie sind nicht nur durch ihren Goldschmuck bekannt – bei ihnen waren kämpferische Frauen tatsächlich die Regel.
In einem 2.500 Jahre alten Grab auf einem Grabhügel wurden vier Kriegerinnen gefunden. Die Jüngste war ein Mädchen im Alter von zwölf Jahren, zwei Frauen waren in den Zwanzigern, die letzte Frau muss Mitte 40 gewesen sein. Für die damalige Zeit ein hohes Alter. Das Mädchen wurde in einer rituellen Reiterhaltung beigesetzt: Sie sollte bis in die Ewigkeit über die Steppe jagen können.
Laut der US-amerikanischen Althistorikerin Adrienne Mayor waren in einem Drittel der skythischen Gräber Frauen mit Waffen begraben. Viele der Toten hatten Kriegsverletzungen. Erst vor kurzem wurde in Armenien eine Skythin aus der gleichen Epoche entdeckt. Laut Analyse ihres Skeletts waren ihre Rumpf- und Pomuskeln genauso muskulös wie die eines Mannes. Im Bein der Toten steckte noch eine Pfeilspitze.
Die Debatten, wie viele der Frauen vergangener Zeiten Kriegerinnen waren, laufen also heiß. Die Frage nach jagenden Frauen – sie dürfte nun geklärt sein. Eigentlich hätte da auch ein Blick auf die alten Römer geholfen. Schließlich war es Diana, die zur Göttin der Jagd erhoben wurde. Mit Pfeil und Bogen war sie unterwegs. Frauen aller Epochen und Völker taten es ihr gleich. Einige waren so gut darin, dass sie in 4.000 Meter Höhe in einem Ehrengrab beigesetzt worden sind, wie in Peru. Und der Patriarchale Blick auf all das, der wurde nun endgültig zur Strecke gebracht.
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