Und was ist mit dem Vater?

© Henning Rosenbusch/Coburger Neue Presse
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Immerhin wurde Johann G. ebenfalls angeklagt. Staatsanwalt Martin Dippold hatte dem 56-jährigen gelernten Metzger vorgeworfen, von den Schwangerschaften seiner Frau gewusst zu haben. Er habe „damit gerechnet, dass seine Frau die lebensfähigen Neugeborenen töten würde und er habe das billigend in Kauf genommen“. Das ist ungewöhnlich. Denn in den meisten Prozessen, die gegen sogenannte „Kindsmörderinnen“ geführt werden, wird die Rolle der Kindsväter nie hinterfragt. In diesem Fall wurde immerhin gefragt - aber die Antworten führten dennoch nicht dazu, dass auch Johann G. seinen Teil der Verantwortung übernehmen muss.

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Acht Neugeborene hat Andrea G., 46 Jahre alt, Hausfrau und fünffache Mutter, nach der Geburt in Handtücher gewickelt und ihre Leichen in einer Abstellkammer der gemeinsamen Wohnung versteckt. „Ich wollte die Kinder bei mir haben“, erklärte sie.

Nach der Rolle der Kindsväter wird im Prozess nicht gefragt

Andrea G. liebte Kinder. Mit 18 hatte sie ihr erstes bekommen, noch in der Beziehung zu ihrem früheren Freund. Dann ein zweites. Als sie sich trennt, ist sie schon von Johann G. schwanger. Sie bekommt Zwillinge, ein Jahr später ist sie wieder schwanger.  

Jetzt drängt Johann G. sie zur Sterilisation, aber Andrea G. will sich nicht sterilisieren lassen. Dennoch fährt ihr Mann sie zu einer Klinik in Erlangen, aber sie verbringt die Nacht in einer Pension. Als er sie am nächsten Tag abholt, sprechen die Eheleute offenbar nicht miteinander. Als Andrea G. bald darauf wieder schwanger ist, freut sie sich, aber ihr Mann sei „wütend geworden“. Was mag es bedeuten, wenn Johann G., der „einen Brustkasten wie ein Preisboxer“ (Süddeutsche) hat und im Gerichtssaal ein schwarzes T-Shirt mit Wolfskopf trägt, wütend wird?     

Andrea G. sei „am Boden zerstört gewesen“, erklärt ihr Anwalt. Sie verdrängt die Schwangerschaft bis zur Geburt. Dann bekommt sie das Kind allein – und wickelt es in das Handtuch, bis es nicht mehr lebt. „Sie sei ‚wie weggetreten‘ gewesen“. Noch siebenmal wiederholt sich das. Acht Schwangerschaften, von denen Ehemann Johann G. nichts mitbekommen haben will? Und auch sonst niemand in dem fränkischen 3000-Seelen-Örtchen?

Sie habe ihrem Mann noch zweimal von ihren Schwangerschaften erzählt, gibt Andrea G. zu Protokoll. Er habe gesagt, er wolle kein Kind mehr, sie müsse „schauen, wie sie damit zurechtkomme“. Als sie ihn bei der letzten Schwangerschaft gefragt habe, was sie tun solle, habe Johann G. „nur hämisch gelächelt“.

Im Gefängnis habe sie "zum ersten Mal so etwas wie Fami-
lie gefunden"

Da nur vier der Neugeborenen nachweislich gelebt haben, wird die Mutter vom Landgericht Coburg wegen vierfachen Totschlags zu 14 Jahren Haft verurteilt. Und der Vater? Wird freigesprochen. Dabei hat sich Johann G. im Prozess zu den Vorwürfen überhaupt nicht geäußert. „Das Problem ist, dass wir insbesondere von der Angeklagten ganz widersprüchliche Angaben haben, wann sie ihrem Ehemann was gesagt hat“, begründete Richter Christoph Gillot den Freispruch.  

Die Rechtsanwältin und Psychologin Annegret Wiese, die sich für ihr Buch „Mütter, die töten“ mit zahlreichen solcher Fälle befasst hat, kritisierte schon vor Jahren in EMMA: „Man fokussiert die Frau als Täterin, die Rolle des Vaters wird gänzlich ausgeblendet. Er erklärt einfach, er habe nichts mitbekommen und wird in Ruhe gelassen.“

Und was ist eigentlich mit der Drohkulisse, die Johann G. offensichtlich aufgebaut hat? Wie groß muss Andrea G.s Angst vor seiner Reaktion auf eine neue Schwangerschaft gewesen sein? Und wie trostlos die Sprachlosigkeit zwischen den Eheleuten. Nach der mehrmonatigen Untersuchungshaft erklärte Andrea G. ihrem Anwalt, sie habe im Gefängnis „zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie eine Familie gefunden“.

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"Ich hatte Angst vor ihm", sagt sie. Und: "Er wollte schon unser erstes Kind nicht." Aber warum hat sie Nein gesagt, als er sie gefragt hat, ob sie etwa schon wieder schwanger sei? "Das war wegen der Drohung. Wegen dem, was er gesagt hat, was sonst mit mir passiert."

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Nadja N. bekommt das Kind nachts um 4.30 Uhr auf der Toilette. Er schläft nebenan auf dem Sofa. "In meinem Kopf habe ich überhaupt nichts mehr mitgekriegt. Der Gedanke war nur: Was machst du jetzt?" Als er sie wenig später fragt, woher das Blut auf der Toilette käme, ­behauptet sie, sie hätte eine Fehlgeburt gehabt. Er befiehlt ihr sauberzumachen – und fährt zur Arbeit.

Sprachlosigkeit. Angst. Verdrängung. Sprachlosigkeit in der Beziehung; Angst vor dem Mann, dem Erzeuger des Kindes; Verdrängung der Schwangerschaft und bevorstehenden Geburt. Fast immer sind es Hausfrauen oder ganz junge Mädchen. Und immer sind sie gnadenlos einsam.

Bis 1998 galt für solche Fälle der 2001 abgeschaffte § 217, nach dem bei unehe­lichen Kindern der so genannte "Kindsmord", also die Tötung direkt nach der Geburt, als "erweiterte Abtreibung" mit "nicht unter drei Jahren" bestraft wurde. Heutzutage wird Kindsmord wie der Mord oder Totschlag eines Erwachsenen bzw. eigenständig lebenden Kindes ­bestraft. Nadja N. hat zehn Jahre Gefängnis bekommen.

Genau wie Sabine S. Auch die 40-jährige Wissenschaftlerin, Ehemann Ingenieur, sitzt im Gefängnis. Sie ist Mutter von drei Kindern und redet eloquent und bewusst. Wie also konnte es zu einem solchen Akt der Hilflosigkeit kommen?

"Mein Mann hat gesagt, wenn ich ihm noch einmal eine Schwangerschaft verheimliche, schmeißt er mich raus!" Sabine S. wird wieder schwanger, von ihrem Mann. Es ist keineswegs ein Geheimnis im Ort, dass sie schwanger ist. Und er? "Es ist unwahrscheinlich, dass man eine Schwangerschaft nicht mitbekommt", sagt sie heute.

Sie bekommt das Kind tagsüber in der Badewanne, wo sie zuvor eine Nagelschere und Desinfektionsmittel bereit gelegt hat, sie ist schließlich Wissenschaftlerin. Danach irrt sie in der Dämmerung mit dem Neugeborenen durch den Ort. Der Arzt? Da ist alles dunkel. Die Kirche? Sabine S. befürchtet, dass das Kind über Nacht stirbt, wenn es nicht gleich entdeckt wird. Sie kehrt nach Hause zurück und setzt sich mit dem eingewickelten Kind aufs Sofa. Sie wartet.

Endlich dreht sich der Schlüssel im Schloss. Der Mann öffnet die Wohnzimmertüre, wirft einen Blick – und schließt die Türe wieder. Sabi­ne S.: "Da hat es bei mir Klick gemacht. Stromausfall." Als sie wieder zu sich kommt, "bin ich mit der Hand am Hals des Kindes".

Sabine S. versteckt die Leiche in der Tiefkühltruhe im Keller. In den Wochen darauf geht sie immer wieder dorthin und steht stundenlang neben dem Gefrierschrank … Ein halbes Jahr später bittet sie ihren Mann, Fischstäbchen aus der Kühltruhe im Keller zu holen. Er geht runter – und sagt wieder nichts. Sieben Wochen später verständigt er die Polizei. Sabine S. bekommt zehn Jahre Gefängnis. Ihr Mann wird noch nicht einmal angeklagt.

Nie haben sie etwas gemerkt, diese Männer. Und fast immer sind die Frauen, die es tun, zwar auffallend eingeschüchtert, aber gleichzeitig "ganz normal". So wie die 44-jährige Hausfrau mit Mann und drei erwachsenen Kindern im sauerländischen Wenden – deren Sohn im Mai 2008, als die Eltern in Urlaub sind, drei Säuglingsleichen in der Tiefkühltruhe entdeckt. Oder die 35-jährige Mutter im sächsischen Erfurt 2007: zwei Babyleichen im Gefrierschrank. Oder Sabine H. 2005 in Brandenburg: neun Babyleichen vergraben in Blumenkübeln auf dem Balkon und auf einem Grundstück der ­Eltern. Die bei Ent­deckung 39-jährige Mutter, die drei Kinder liebevoll großgezogen hat, gesteht, zwischen 1988 und 2004 neun Neugeborene umge­bracht zu haben. Der als brutal bekannte Ehemann, der seine Frau auch schon mal nackt an die Heizung fesselte, wurde lediglich als Zeuge vernommen. Er sagte aus, er habe von allen neun Schwangerschaften nichts mitbekommen, die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Oder sah "keine Veranlassung anzunehmen, dass er lügt".

Doch jetzt endlich war ein Staats­anwalt nicht länger bereit, darüber hinwegzusehen. Ralph Reiter in Landshut, zuständig für den Fall Nadja N., verurteilte auch den Vater: zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis, davon viereinhalb Jahre wegen "Totschlag durch Unterlassung" und ein Jahr wegen "sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung" (Der Mann hatte seine Frau zum Oralverkehr genötigt und, als sie nicht mehr wollte, durch Schläge zum Weitermachen gezwungen).

Oft sei das Problem, so Staatsanwalt Reiter, dass den Vätern nicht bewiesen werden könne, dass das Kind noch hätte ­gerettet werden können. Im Fall Nadja N. jedoch sei der Vater "unmittelbar nach der Geburt anwesend gewesen und habe noch die Geburtsspuren gesehen". Dieses Urteil ist ein Präzedenzfall, der Hoffnung macht. Hoffnung darauf, dass zukünftig auch die Väter zur Verantwortung gezogen werden.

Doch kehren wir zurück zu den Müttern, ihrer Einsamkeit und Angst. Zwei, drei Dutzend Fälle von Kindstötung werden in Deutschland im Jahr bekannt. ExpertInnen schätzen die wahre Anzahl jedoch auf ein paar hundert. Was kann man tun? Würden Babyklappen oder die anonyme Geburt helfen?

Es gibt heute 70 Babyklappen in Deutschland, wo Mütter ihr Neugeborenes heimlich ablegen können. Und auch die anonyme Geburt wird, obwohl das Recht darauf noch nicht verankert ist, in Deutschland ab und an praktiziert. Könnte das also die Tötung ungewollter Neugeborener verhindern?

Die Psychologin Prof. Anke Rohde glaubt nicht daran. Sie hat hundert Fälle von Kindstötungen im Raum Bonn unter­sucht und sagt: "Das Problem ist ja gerade, dass die Frauen keinerlei Art von Hilfs­angeboten annehmen können. Weil sie das Ganze verdrängen." Die Not scheint so groß, dass die Frauen keinen Ausweg sehen.

Die erschütternden Gespräche mit Nadja N. und Sabine S. liefen vor einigen Monaten in der Reportage "Wir sind doch Kinder" auf 3sat in der Sendung "Scobel". Der Journalist Manfred Karremann hat die Frauen im Gefängnis besucht. Und er hat auch mit Ehemännern von Kindsmörderinnen gesprochen. Karremann zu EMMA: "Ich kann mir inzwischen gut vorstellen, wie so etwas passieren kann."

Eines ist klar: Der einzige wirkliche Schutz, den es für ein Neugeborenes gibt, wäre die Akzeptanz durch die Mutter – und ihre Stärke, ein eventuell bedrohtes Kind zu schützen. Darum wäre auch die einzige Lösung dieses traurigen Kapitels das Ende der Abhängigkeit und Angst der Mütter: Mütter, die nicht einsam sind; Mütter, die reden, wenn sie Probleme haben; Mütter, die gehen können, wenn Männer sie erpressen oder bedrohen. Mütter, die es im Konfliktfall auch wagen, ein ungewolltes Kind zur Adoption freizugeben – ohne Angst vor der "Schande". Das ist ein langer Prozess und er heißt: Emanzipation.

Ein kurzer Prozess könnte die Wiedereinführung des § 217 sein, aber diesmal nicht eingeschränkt auf die Tötung "unehelicher", sondern für alle Neugeborenen. Der alte § 217, der im 19. Jahrhundert ins Strafgesetzbuch aufgenommen wurde, ging davon aus, dass nur ledige Mütter Probleme haben. Wie wir sehen, ist das ein Irrtum. Doch die juristische Unterscheidung im alten Recht zwischen "Kindsmord" – also der Tötung eines Neugeborenen, direkt nach der Geburt und noch bevor sein Leben beginnt – und der Tötung eines ­bereits eigenständig ­leben­den Kindes oder Erwachsenen war richtig. Es war falsch, diesen Paragraphen ersatzlos abzuschaffen.

Ein neuer § 217 muss her, der diese einsamen und verzweifelten Mütter nicht auch noch für Jahrzehnte ins Gefängnis schickt. Das nutzt nämlich niemandem. Es schützt nicht zukünftige ungewollte Neugeborene vor einer solchen Tat. Es schafft kein Unrechtsbewusstsein in der Gesellschaft, das existiert schon. Und vor allem: Es öffnet den Täterinnen nicht die Augen für ihre Tat, denn die verdrängen entweder weiter oder sterben vor ­schlechtem Gewissen, so wie Nadja N. und Sabine S.

Übrigens: In den meisten Fällen sind die Frauen, die ein Neugeborenes nicht leben lassen, schon Mütter – und fast immer gute Mütter. Doch in der Regel gehen sie dann ins Gefängnis, und ihre Kinder bleiben bei dem Vater zurück. Bei dem Mann, der wegguckt, schweigt, droht. Und in den meisten Fällen auch schlägt.

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