Unwort des Jahres: "Opfer-Abo"
Nein, die Jury hat sich nicht für die „Pleite-Griechen“ entschieden, auch wenn dieser Begriff „ein ganzes Volk diffamiert“. Statt den Begriff (Platz 2) aus der großen weiten Eurokrisen-Welt zum „Unwort des Jahres“ zu wählen, haben sich die fünf Männer und eine Frau nun auf die Seite der Opfer sexueller Gewalt geschlagen. Das „Unwort des Jahres“ stammt von Jörg Kachelmann: „Opfer-Abo“. Frauen hätten ein solches, hatte Kachelmann in einem Interview mit dem Spiegel behauptet und sodann, gemeinsam mit Frau Miriam, zur Generalattacke auf „Falschbeschuldigerinnen“ als „Massenphänomen“ geblasen. Mit einer bemerkenswert engagierten Begründung hat das Gremium diesen Pauschalisierungen nun eine Absage erteilt.
Das Wort „Opfer-Abo“ stelle „Frauen pauschal und in inakzeptabler Weise unter den Verdacht, sexuelle Gewalt zu erfinden und selbst Täterinnen zu sein. Das hält die Jury angesichts des dramatischen Tatbestands, dass nur 5-8 % der von sexueller Gewalt betroffenen Frauen tatsächlich die Polizei einschalten und dass es dabei in nur 3-4 % der Fälle zu einer Anzeige und einem Gerichtsverfahren kommt, für sachlich grob unangemessen.“ Das Wort verstoße damit „nicht zuletzt auch gegen die Menschenwürde der tatsächlichen Opfer.“
Sprache prägt und verändert die Realität. Auch die der Frauen, die eine Vergewaltigung anzeigen. Das machen die vier SprachwissenschaftlerInnen und zwei Journalisten der Jury ebenfalls deutlich. Man wolle „nicht über den Fall Kachelmann urteilen“, heißt es in der Begründung. Aber man kritisiere „einen Wortgebrauch, der gängige Vorurteile in Bezug auf eine Vortäuschung von Vergewaltigungen oder eine Mitschuld der Frauen bestätigt. Ausdrücke dieser Art drohen letztlich den zivilgesellschaftlichen und juristischen Umgang mit sexueller Gewalt in bedenklicher Weise zu beeinflussen.“
Wie immer konnten Bürgerinnen und Bürger Vorschläge für das „Unwort des Jahres“ einreichen. Unter denen, die es taten, war auch die „Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt“, die mit einer Unterschriftenaktion das Wort „Opferindustrie“ (O-Ton Miriam Kachelmann) als „Unwort“-Kandidaten vorgeschlagen hatte. Über 100 UnterzeichnerInnen hatten den Vorschlag unterstützt.
„Jörg und Miriam Kachelmanns Behauptungen und ihre inflationäre Verbreitung sind diskriminierend und gefährlich gegenüber den Betroffenen. Ihnen wird damit gezeigt, dass ihr Leiden gesellschaftlich ohne Belang ist und dementsprechend wenig Aussicht auf gerechte Behandlung hat. Darüber hinaus schaden solche Aussagen den Betroffenen und der Gesellschaft insofern, als dass Vergewaltigungsmythen bekräftigt und perpetuiert werden. In diesem Sinne hoffen wir, dass die Jury mit ihrer Wahl zum ‚Unwort des Jahres’ ein Licht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse wirft, die so viele Betroffene von sexueller Gewalt zum Schweigen bringen und für die Miriam und Jörg Kachelmann nur einen besonders drastischen Ausdruck gefunden haben.“
Das hat die Jury getan. Und so ein bedeutendes Zeichen dafür gesetzt, dass die Verunglimpfung und Einschüchterung der Opfer sexueller Gewalt nicht so einfach durchgeht. EMMA gratuliert zu dieser Entscheidung!
EMMAonline, 15.1.2012
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Die Opferindustrie schlägt zurück (EMMA 1/2013)
Der Fall Kachelmann