"Ich passe in keine Schublade"
Frau Ministerin, wie erklären Sie sich die Aggressionen, die Sie auslösen?
Vielleicht passe ich in keine Schublade, so wie ich lebe – und was ich tue. Einerseits erfülle ich mit meinen sieben Kindern das klassische Mutterbild in Deutschland – andererseits habe ich einen qualifizierten Beruf und mache eine politische Karriere. Das eine geht, das andere auch, aber bitte nicht beides gleichzeitig. Eine Mutter von vielen Kindern, die nicht zu Hause bleibt, wird oft noch als eine schlechte Mutter angesehen. Und eine Frau, die viele Kinder hat, kann keine gute Ministerin sein. Das ist leider noch typisch deutsch. An mir entzündet sich also die grundsätzliche Frage: Darf eine Frau mit vielen Kindern gleichzeitig erfolgreich im Beruf sein?
Es wird doch neuerdings überall beteuert, die so genannte Vereinbarkeit von Beruf und Familie sei so wünschenswert für Frauen.
Das ist die Theorie. In der Praxis sieht das anders aus. Unabhängig davon, ob ich mich als Ärztin qualifizieren wollte, ob ich mich um ein Landtagsmandat beworben habe oder als ich Sozialministerin in Niedersachsen wurde, war da immer die bohrende Frage: Geht das denn, Sie haben doch Kinder? Der Widerspruch wurde mir noch klarer, als ich Bundesministerin wurde.
Sie haben eben erwähnt, Sie fänden das sehr deutsch. Sie selber sind ja recht undeutsch aufgewachsen. Sie haben nicht nur mit Mann und Kindern in den 90ern in den USA gelebt, sondern sind in Brüssel geboren und dort auch zur Schule gegangen.
Ja, ich bin 1964 in die Europäische Schule in Brüssel eingeschult worden. Und ich war glücklich in dieser Ganztagsschule! Genau wie meine Geschwister. Erst als ich später in Deutschland selber Kinder hatte, wurde mir klar, wie weit wir in diesem Punkt zurück sind. Hier verlässt sich eine gesamte Gesellschaft auf die Mütter. Was übrigens auch die Bildungschancen für Kinder verringert. Kinder aus bildungsnahen Familien sind in dem System im Vorteil, die anderen fallen hintenüber.
Sie persönlich hatten also einen doppelten Vorteil: die Ganztagsschule und das bildungsnahe Elternhaus.
Meine Mutter war Journalistin beim Bonner Generalanzeiger. Das war für ihre Generation sehr ungewöhnlich. Als die Kinder geboren wurden, hörte sie auf zu arbeiten. Siebzehn Jahre später, mit dem Amt meines Vaters als Ministerpräsident ist sie dann wieder mehr raus gegangen, aktiver geworden. Sie hat Seiten an sich wieder entdeckt, die lange brach gelegen hatten. Das war auch für uns Kinder neu. Rückwirkend wird mir ihre Zerrissenheit und Ambivalenz klar.
Und Sie selber? Hatten Sie Absprachen getroffen mit Ihrem Mann, bevor das erste Kind kam?
Nein, überhaupt nicht. Wir sind da mit großer Leidenschaft und Naivität gleichzeitig rangegangen. Wie das so ist bei einer jungen Liebe. Es begann mit dem inneren Wissen: Wir wünschen uns Kinder! Aber das war auch schon alles. Wir waren gerade mit dem Studium fertig und arbeiteten beide als kleine Assistenzärzte, er in der inneren Medizin und ich in der Gynäkologie und Geburtshilfe.
Hatten Sie denn wenigstens vorher überlegt: Wie mache ich das, wenn ein Kind da ist?
(Lacht) Nein. Das Leben hat uns einiges gelehrt, muss ich sagen. Wir haben beide ganz naiv angefangen. Ein Teil in mir wollte es so machen wie die Eltern, die Mutter – ein anderer Teil in mir wollte gerne Ärztin sein. Ich habe dann Phasen erlebt, gerade mit dem ersten Kind, die ich nie vergessen werde. Ich war plötzlich nicht mehr die vielversprechende junge Ärztin, sondern wissenschaftlich ausrangiert: Na gut, die arbeitet ein paar Jahre auf Station – und dann wird sie sowieso mit den Kindern zu Hause bleiben, sagten meine Kollegen.
Was Sie ja auch getan haben, alles in allem sieben Jahre lang.
Ja, ich habe alles gemacht, was Mütter so machen: ganz zu Hause bleiben, Teilzeit arbeiten, voll im Beruf sein. Aber immer alles mit schlechtem Gewissen. Wo ich auch war, ich hatte das Gefühl, etwas zu versäumen: zu Hause den Beruf – und im Beruf die Kinder. Diesen tiefen Konflikt und vor allem das schlechte Gewissen, das spüre ich bis heute. Ich hatte das Gefühl, in der Medizin eine Enttäuschung zu sein, nachdem man so lange in mich investiert hatte: Was hatten wir noch alles mit Ihnen vor, und jetzt sind Sie schwanger … Ich hatte aber auch das Gefühl, in der Familie zu versagen.
Und Ihr Mann?
Nach dem ersten Kind war ich zehn Monate zu Hause. Und dann ging es so nicht mehr. Die Decke fiel mir auf den Kopf. Wir haben also miteinander beraten. Er hatte zwar von vornherein mitgemacht bei dem Kind, aber unterschwellig war uns beiden klar: Er verfolgt weiter die Vollspurkarriere, also habilitiert sich etc., und ich fahre Schmalspur. Das ging so bis zum dritten Kind. Ich arbeitete inzwischen Halbzeit, teilte mit einer anderen Frau, die auch drei Kinder hatte, den Arbeitsplatz.
Und wie reagierte die Umwelt?
Schwierig. Familie und Freunde erwarteten, dass ich eine Vollzeitmutter bin. Und die Klinik gab mich als Wissenschaftlerin auf. Denn im Ärzteberuf erwartet man ein Engagement rund um die Uhr mit Leib und Seele – das aber ist mit Kindern nicht möglich. Beim dritten Kind hatte ich dann innerlich kapituliert. Ich wäre auf Dauer auf eine Halbtagsstelle in einer Arztpraxis gegangen, wenn …
… wenn Sie nicht nach Amerika gezogen wären.
Genau. Das war meine Rettung! An der Stanford University in Kalifornien, wohin mein Mann gerufen wurde, ringt man um junge kluge Köpfe in der ganzen Welt, auch um weibliche. Zum ersten Mal erlebte ich dort, dass Kinder kein Minus- sondern ein Pluspunkt sein können. Zum ersten Mal schlug mir nicht diese Wie-wollen-Sie-das-denn-schaffen-Grundhaltung entgegen, sondern mein Muttersein wurde positiv gesehen: drei Kinder? Toll! Sie müssen ja vielfältig belastbar und organisationsfähig sein. Zum ersten Mal schlug meine resignierte Wir-schaffen-das-alles-nicht-Haltung positiv um. Das hat uns Mut zu mehr Kindern gemacht.