Pelicot: Alle Täter verurteilt!
Nach 69 Prozesstagen hat das Gericht in Avignon nun sein Urteil verkündet: Alle Männer, die sich an Gisèle Pelicot vergangen haben, während sie mit schweren Betäubungsmitteln bewusstlos gemacht in ihrem Ehebett lag, sind schuldig. Allen voran ihr Ehemann Dominique, der seine Frau neun Jahre lang betäubt und sie über 70 Männern zum Vergewaltigen zur Verfügung gestellt hatte. Ihn verurteilte das Gericht zu 20 Jahren Haft mit eventueller anschließender Sicherungsverwahrung.
Das war keine große Überraschung, denn Dominique Pelicot hatte seine Taten vollumfänglich zugegeben. Zugeben müssen, denn die Beweislage war erschlagend. Keineswegs sicher war jedoch, ob und wie die RichterInnen die 50 Männer verurteilen würden, die das Angebot des Ehemannes . 32 der 50 Täter hatten allen Ernstes auf Freispruch plädiert. Sie hatten behauptet, sie hätten nicht gewusst, dass ihr bewusstloses Opfer nicht einverstanden gewesen sei. Dem erteilte das Gericht eine schallende Ohrfeige. Es verurteilte alle Männer zu Haftstrafen zwischen drei und 15 Jahren, die meisten wegen schwerer Vergewaltigung. Damit blieb das Gericht zwar unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft, aber allein, dass alle Angeklagten verurteilt wurden, ist ein deutliches und immens wichtiges Signal.
Es war keineswegs sicher, ob und wie die RichterInnen urteilen würden
„Jeder hat in seinem Maß, auf seinem Niveau zu dieser Monstrosität, zu diesem Martyrium dieser Frau beigetragen“, hatte Gisèle Pelicots Anwalt Stéphane Babonneau in seinem Schlussplädoyer gesagt. Und Staatsanwältin Laure Chabaud hatte erklärt: „Im Jahr 2024 kann niemand mehr sagen: ‚Sie hat nichts gesagt, also war sie einverstanden.‘“ Das sah das Gericht genauso. Und leider ist das, auch im Jahr 2024, noch keineswegs selbstverständlich. Auch deshalb wird dieser Prozess in die Geschichte eingehen.
Das erste, was diesen Jahrhundertfall so besonders macht, ist schlicht die Tatsache, dass der – oder in diesem Fall die - Täter verurteilt wurden. Denn 94(!) Prozent aller Verfahren wegen Vergewaltigung werden in Frankreich eingestellt oder gar nicht erst eröffnet. Denn meist steht Aussage gegen Aussage und die (meist bekannten) Täter behaupten, die sexuellen Handlungen seien „einvernehmlich“ gewesen. Dann gilt: Im Zweifel für den Angeklagten – und gegen das Opfer.
Im Fall Pelicot lag die Sache anders. Die Beweislage war eindeutig. Denn Dominique Pelicot hatte von den mindestens 200 Vergewaltigungen seiner betäubten Frau durch 80 Männer rund 20.000 Fotos und Videos gemacht. Es ging also nicht mehr darum, ob die vaginalen, oralen und analen Vergewaltigungen der bewusstlosen Gisèle Pelicot stattgefunden hatten, sondern darum, wie das Gericht die aberwitzigen Ausflüchte der Täter bewerten würde: Sie hätten das Ganze für ein „libertinäres Spiel“ der Eheleute gehalten oder das Einverständnis der Ehefrau vorausgesetzt, da doch der Ehemann dabei gewesen sei. Das alles ließen die RichterInnen nicht gelten.
Die Täter waren ganz normale Männer, aus einem Umkreis von nur 20 Kilometern
Was diesen Fall zweitens so besonders macht, ist die schiere Menge der Täter: 80, von denen die Polizei 50 identifizieren konnte. Und dass diese Täter ganz normale Männer sind. Sie kamen aus einem Umkreis von nur 20 Kilometern rund um Mazan, dem Wohnort der Pelicots, ein romantisches Kleinstädtchen in der Provence. Mitten in dieser Idylle hatten sich Klempner und Krankenpfleger, Journalisten und Feuerwehrmänner auf die Anzeige von Dominique Pelicot gemeldet: Die Vergewaltigungen sollten „à son insu“ stattfinden – ohne ihr Wissen. Sie alle wussten Bescheid.
„Wir müssen uns daran gewöhnen, dass auch der nette Familienvater ein Vergewaltiger sein kann“, hatte Pelicots Anwalt Stéphane Babonneau in seinem Schlussplädoyer erklärt. Und so wurde dieser Prozess, in dem über das „Monster von Avignon“ und den „XXL-Perversen“ Dominique Pelicot verhandelt wurde, ein Prozess über Jedermann, über die „Banalität des Bösen“ oder, wie es die französische Zeitschrift Marianne formulierte: die „Banalität des Männlichen“. Denn dieser Prozess hat gezeigt: Nicht jeder Mann ist ein Täter. Aber jeder Mann könnte ein Täter sein. Theoretisch. Und eben auch real, wenn er die Gelegenheit dazu hat. Viele Frauen werden ihren Lebensgefährten künftig anders ansehen und sich Fragen stellen.
Denn längst geht es nicht mehr nur um die Täter von Mazan. Das Recherche-Netzwerk STRG_F des NDR hat soeben enthüllt, dass sich auf dem Messenger-Dienst Telegram „Dutzende Gruppen mit Hunderten bis teilweise zehntausenden Mitgliedern, darunter auch Deutsche“ darüber austauschen, mit welchen Mitteln man Frauen betäuben und vergewaltigen kann. „Sie stacheln sich gegenseitig dazu auf oder bieten ihre Partnerinnen anderen Nutzern zur Vergewaltigung an.“ Das klingt zum Beispiel so: „Sie ist jetzt sturzbesoffen und auf ein paar Schlafmedis. Ich sollte hoffentlich bald ein bisschen Spaß haben.“ Die meisten betroffenen Frauen, so das Recherche-Netzwerk, „kommen offenbar aus dem direkten Umfeld der Nutzer, die eigene Schwester, Mutter, Freundin oder Ehefrau“. Häufig machten die Täter Fotos oder Videos der Vergewaltigungen und teilten sie auf Telegram.
Gisèle Pelicot ist mit ihrer Stärke und ihrem Stolz zu einer "Nationalheldin" geworden
Was den Fall Pelicot drittens so besonders macht, ist, dass es das Gericht und die ganze Welt mit einem ungewöhnlich starken und stolzen Opfer zu tun hatte. Gisèle Pelicot wollte, dass „die Scham die Seiten wechselt“. Dieser Satz ist inzwischen zum feministischen Slogan geworden, er wurde auf zahllose Mauern gesprüht, genau wie das Gesicht der 72-jährigen Gisèle Pelicot mit der runden Sonnenbrille. Sie ist zu einer „Nationalheldin“ (Welt) geworden und zum Gesicht des Kampfes gegen Sexualgewalt gegen Frauen in aller Welt.
Es war offenbar ihre Stärke, die Dominique Pelicot nicht ausgehalten hat. Dominique Pelicot war beruflich eine verkrachte Existenz. Der gelernte Elektriker versuchte sich als Immobilienmakler, setzte mehrere Versuche in den Sand. Er nahm Schulden auf den Namen seiner Ehefrau auf. Nur Dank des stabilen Einkommens von Gisèle, die sich zur leitenden Angestellten beim Energie-Unternehmen EDF hochgearbeitet hatte, kam die Familie über die Runden. Er habe, so erklärte Dominique Pelicot offen, sich eine „unbeugsame Ehefrau gefügig machen“ zu wollen.
Der Fall Pelicot zeigt wie durch ein Brennglas, was Feministinnen seit Jahrzehnten sagen: Bei der Vergewaltigung geht es nicht um Lust, sondern um Macht. Was kann so erregend daran gewesen sein, eine regungslose, durch die Betäubungsmittel erschlaffte, schnarchende Frau zu penetrieren? Klarer könnte es nicht sein: Hier ging es, wie bei jeder Form der Sexualgewalt, um die Erniedrigung und die Brechung der Frau. Am liebsten der starken Frau.
Es geht wie immer bei Sexualgewalt um Erniedrigung und die Brechung von Frauen
Gisèle Pelicot zu unterwerfen, das gelang ihrem Ehemann nur, indem er sie betäubte. Die wache Gisèle Pelicot hat den unfassbaren Schock, der die Auflösung ihrer gesamten Welt bedeutete, „mit einer unglaublichen Würde“ getragen, beschreibt ihre Tochter Caroline Darian, die ein Buch über das Ungeheuerliche geschrieben hat, das über ihre Familie gekommen ist. Ihre Mutter sei „wie eine mittelalterliche Königin: Kopf gerade, erhobenes Kinn und keine Klage. Die wahre Heldin aufrecht in den Ruinen stehend, das ist sie.“ Tochter Caroline, von der ebenfalls Nacktaufnahmen aufgetaucht sind, hat eine Initiative für die Opfer sexueller Gewalt gegründet, die zuvor betäubt wurden. „M’endors pas“ (Schläfere mich nicht ein). Auch sie ist offenbar eine widerständige Person. Sie und ihre beiden Brüder sind im Prozess NebenklägerInnen.
„Sie ist eine Frau von großer Intelligenz, die sehr viel nachdenkt. Sie denkt nach, sie hört zu, aber sie trifft ihre Entscheidungen ganz allein“, sagt Gisèle Pelicots Anwalt Stéphane Babonneau über seine Mandantin. Sie sei „absolut beeindruckend in ihrer Würde, in ihrem Anstand und in ihrer Resilienz“.
Und das ist der nächste Punkt, der das Verfahren so außergewöhnlich macht. Gisèle Pelicot wurde von zwei Anwälten vertreten, die das Politikum dieses Prozesses von Anfang an begriffen und ihre Mandantin dabei gleichzeitig maximal schützten. Stéphane Babonneau, spezialisiert auf Fälle sexueller Gewalt, und Antoine Camus wollten nicht, dass Gisèle Pelicot die Fotos und Videos ihrer Vergewaltigung erst im Gerichtssaal sieht. Sie schauten sie mit ihr gemeinsam an und als Gisèle Pelicot sich daraufhin entschied, dass „die Menschen das sehen müssen“, kämpften sie mit ihr dafür, dass der gesamte Prozess öffentlich stattfand.
Und schließlich: Die enorme Solidarität, die Gisèle Pelicot in der ganzen Welt erfuhr, ist beispiellos. Über 10.000 Frauen gingen in ganz Frankreich auf die Straße, sie skandierten "Je suis Gisèle" oder „Merci, Gisèle“, wie auch am Morgen der Urteilsverkündung, an dem sich wieder Hunderte Frauen vor dem Gericht versammelt hatten. Und sie schrieben an Mauern: „Une pour toute, toutes pour une“: Eine für alle, alle für eine. Und Gisèle Pelicot wusste genau, dass sie diesen Kampf nicht nur für sich kämpft, sondern für alle Opfer von Sexualgewalt. „Dank euch allen habe ich die Kraft, diese Schlacht bis zum Ende zu kämpfen“, hatte sie erklärt. „Diese Schlacht, die ich allen widme, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind.“ Als sie nach der Urteilsverkündung das Gericht verließ, verlas sie eine kurze Stellungnahme: Sie habe gewollt, dass "die Gesellschaft diese Debatte führt", sagte sie. Es sei schwer für sie gewesen, aber sie habe "keinen Moment bereut, dass dieser Prozess öffentlich geführt wurde".
Gisèle Pelicot hat diese Schlacht, in der sie bis zum Ende kämpfte, für alle Frauen gewonnen
Der Fall Pelicot wird Folgen haben. Nicht nur die Tweets, die Regierungschefs aus aller Welt, darunter auch Bundeskanzler Scholz, über und an Gisèle Pelicot schickten. Sondern auch praktische: Schon jetzt hat die Nationalversammlung darüber debattiert, das Vergewaltigungsgesetz zu ändern. Ausgerechnet Frankreich gehört zu den Ländern, in denen nicht einmal das Prinzip „Nein heißt Nein“ gilt. Ein Opfer muss sich also körperlich gegen den Vergewaltiger wehren, damit die Tat als Vergewaltigung gilt. Es reicht nicht aus, dass es Nein sagt. Eine aktive Zustimmung des Opfer, als „Nur Ja heißt Ja“, ist schon gar nicht erforderlich.
Die französische Staatssekretärin für Gleichstellung, Salima Saa, erklärt zum Fall Pelicot: „Es gibt ein Davor und ein Danach.“ Das scheint zu stimmen. Der französische Justizminister Didier Migaud hat signalisiert, dass er bereit ist, ein „Ja heißt Ja“-Gesetz auf den Weg zu bringen.
Und auch französische Männer beginnen zu verstehen. Über 200 bekannte Franzosen - Regisseure, Sänger, Schriftsteller – haben gerade ein Manifest unterschrieben. „Der Fall Pelicot hat uns gezeigt, dass Männergewalt keine „affaire de monstres“ ist, sondern eine Affäre des „Monsieur-Tout-le monde“, des Monsieur Jedermann, heißt es dort. Und sie geben sich und ihren Geschlechtsgenossen zehn Handlungsanweisungen an die Hand. Zum Beispiel: „Hören wir auf, die Körper von Frauen als etwas zu betrachten, das uns selbstverständlich zur Verfügung steht.“ – „Hören wir auf zu glauben, dass eine ‚männliche Natur‘ existiert, die unser Verhalten rechtfertigt.“ Und: „Lasst uns ernst nehmen, was Feministinnen sagen, und zwar nicht nur, wenn es aus dem Mund eines Mannes kommt. Der wiederholt nur, was Feministinnen seit Jahrhunderten erklären.“
Als Gisèle Pelicot einmal von einer Anwältin gefragt wurde, warum sie den Namen ihres Mannes nicht abgelegt habe, erklärte sie: "Ich will, dass meine Enkelkinder sich nicht für diesen Namen schämen." Und: Man wird sich nach diesem Prozess an den Namen Gisèle Pelicot erinnern und nicht wie sonst an den des Täters."
So ist es. Danke, Gisele!
CHANTAL LOUIS
Chantal Louis im Interview mit dem Deutschlandfunk zum Fall Gisèle Pelicot hier anhören