Bettina Flitner: Väter & Töchter
Da steht ein seltsames Wesen in unserem Flur. Es ist groß, ja riesig. Große Füße, kräftige Beine, riesige Hände. Es trägt einen langen, dunklen Mantel, bis zum Hals zugeknöpft. Aus dem hochgeschlagenen Mantelkragen schaut ein blonder Kinderkopf heraus. Das ist mein Kopf.
Ich bin fünf Jahre alt und sitze auf den Schultern meines Vaters. Er ist vollständig unter dem Mantel verborgen und von mir ist nur der Kopf zu sehen. Wir betrachten uns im Flurspiegel und lachen über das Wesen mit dem großen Körper und dem kleinen Kopf. Ein Wesen, das aus Vater und Tochter zusammengesetzt ist. Ich schaue von oben an meinem langen Körper hinunter. So groß war ich noch nie. So stark war ich noch nie. Aber ich kann keinen der Körperteile bewegen, das kann nur mein Vater. Er blinzelt durch die geschlossene Knopfleiste. Dann hebt er seine rechte Hand und kratzt sich an meinem Kopf.
Väter wissen alles und sie wollen, dass die Töchter es auch wissen
Ich bin der Ast, der aus dem Stamm wächst. Der Apfel, der nicht weit fällt. Der Spross des Stammbaumes. Ich sitze auf den Schultern meines Vaters und zusammen bilden wir ein neues Geschöpf. Eines, das größer ist als wir beide. Es sieht ein bisschen aus wie Bibo, der gelbe Vogel aus der Sesamstraße. Und es bewegt sich ähnlich ungelenk wie er. Mein Kopf schaukelt über dem langen Mantel meines Vaters hin und her. Es ist schön hier oben, ich kann weit blicken. Hinter dem Horizont geht es weiter. Aber ich weiß, dass ich eines Tages da runter muss. Denn meinen eigenen Weg gehen kann ich nur auf meinen eigenen Füßen. Und meinen Kopf, ja, den nehme ich mit.
Väter und Töchter, das kann eine ganz besondere Beziehung sein. Väter können ermutigen, anspornen, fordern. Sie können Türen öffnen, zur Welt, zum Universum. Und wenn man beim Hinaustreten über die Türschwelle stolpert und sich das Knie aufschlägt, dann kleben Väter ein Pflaster drauf und weiter geht’s. Väter wissen alles und sie wollen, dass die Töchter es auch wissen.
Väter bauen die Märklin Eisenbahn auf, aber verkabeln falsch, sodass die Schienen unter Strom geraten. Väter lehnen sich in Neapel weit, sehr weit aus dem Hotelfenster und werfen kleine Steinchen in die Luft, um die heranjagenden Fledermäuse und das Echolot zu erklären. Väter machen lehrreiche Experimente. Sie haben eine Stoppuhr in der einen Hand und ein Gewicht in der anderen und wollen messen, wie lange das Gewicht braucht, um fünf Stockwerke in die Tiefe zu fallen. Dann zählen sie bis drei und lassen die Stoppuhr fallen. Väter steuern den Schlitten immer haarscharf am Abgrund vorbei und finden, dass das Überschlagen eine effektive Bremsmethode ist.
Sie sind beste Freunde, Vertraute, Komplizen. Fast immer waren sie es von Anfang an
Die 18 Vater-Tochter-Paare in diesem Buch sind alle ganz unterschiedlich. Vater und Tochter wohnen an einem Ort oder weit auseinander. Sie leben beide in Bonn oder im Berner Oberland; oder die Tochter lebt in Paris und der Vater in Hamburg; sie leben beide in Gelsenkirchen oder im Chiemgau; oder der Vater lebt an der Bergstraße und die Tochter in Bremen. Sie arbeiten miteinander oder haben ganz unterschiedliche Berufe. Sie sind Schornsteinfeger und Schornsteinfegerin, Polizist und Jurastudentin, Astronaut und angehende Astronautin; sie sind Fernmeldetechniker und Schmiedin, Architekt und Lehrerin, Fliesenleger und Menschenrechtsaktivistin, Lackierermeister und Rennfahrerin, Älpler und Älplerin. Manchmal folgt die Tochter den Spuren des Vaters, manchmal erweitert sie das Terrain. Manchmal macht sie das, was der Vater gerne gemacht hätte, und manchmal sogar das Gegenteil. Diese Töchter sind zwischen 18 und 68, diese Väter zwischen 49 und 93 Jahre alt.
Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie eine besondere Beziehung zueinander haben. Sie sind beste Freunde, Vertraute, Komplizen. Fast immer waren sie es von Anfang an. Manche von ihnen sind durch schwere Zeiten gegangen und dadurch noch enger zusammengewachsen. Die Tochter hat sich als Mädchen am Vater orientiert, doch heute steht sie ihm als eigenständige, unabhängige Frau gegenüber.
"Dass ist nichts für ein Mädchen!" - darüber können sie nur lachen
Allen Vätern in diesem Buch ist gemeinsam, dass sie ihren Töchtern Stärke und Freiheit gegeben haben, das Rüstzeug für ein selbstbestimmtes Leben. Allen Töchtern ist gemeinsam, dass sie stark und selbstbewusst sind und über den Satz »Das ist nichts für ein Mädchen« schallend lachen. Sie trauen sich alles zu. Einfach alles.
Manchmal musste sich die Tochter freischaufeln, von Vaters Schultern steigen, ihren eigenen Kopf durchsetzen. Möglich gemacht hat dies das frühe Krafttraining, das die Tochter so unerschrocken in den Ring steigen ließ. Und das ihr geholfen hat, später so selbstverständlich ihren Platz in der Welt einzunehmen.
Die Mütter wissen, was diese Schubkraft für die Töchter bedeutet
Und was ist mit den Müttern? Bei manchen der Vater-Tochter-Paare in diesem Buch ist die Mutter nicht mehr da (so wie auch bei mir). Bei anderen haben fast alle Mütter das Band zwischen Vater und Tochter bewusst gestärkt. Sie wissen, was diese Schubkraft für die Tochter bedeutet. Sie unterstützen den Vater in seinem Da-Sein für die Tochter. Die besondere Vater-Tochter-Bindung wäre ohne eine gelassene und starke Mutter nicht möglich.
Jede einzelne Geschichte in diesem Buch ist anders. Und dennoch gibt es ein Muster, das sich durchzieht: Keinem der Väter wäre es jemals eingefallen zu denken, dass Jungen und Mädchen nicht das Gleiche können. Klar, das ist das ABC, die Grundvoraussetzung. Eine wichtige Zutat scheint Vertrauen zu sein. Vertrauen, das der Vater, die Eltern ihren Kindern schenken. "Die kann alles" war der Satz, der in den Gesprächen mit Vätern und Töchtern am häufigsten fiel.
Und dieses Vertrauen schafft etwas, das der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar auf den Punkt bringt. Ich sitze mit ihm und seinen drei Töchtern Nanda, Nora und Selina im heimischen Garten in Hennef. Die Töchter sind aus Berlin, München und London für unser Treffen angereist. Eine Maschinenbauerin, eine Informatikerin und eine Neurowissenschaftlerin. Alle drei strahlende junge Frauen, die dabei sind, die Welt für sich zu erobern. „Angstfreiheit“, sagt Ranga Yogeshwar, „das ist für mich das Wichtigste. Wenn es eine Botschaft gibt, dann die: Hab keine Angst. Geh deinen eigenen Weg.“
Mein Vater ist heute 92 Jahre alt. Neulich war ich mit ihm essen. Wir saßen in einem Restaurant mit weißen Tischdecken und schwerem Tafelsilber. Mein Vater holte Streichhölzer aus der Tasche und schob sie unter die Decke, unter die Weingläser, die Teller, das Besteck. Der sorgsam gedeckte Tisch sah plötzlich verwirrend aus, wie nach einem leichten Erdbeben, alles stand leicht schief. "Herr Ober", rief er den heraneilenden Kellner, "was ist denn mit Ihrem Tisch los? Das sieht ja unmöglich aus." Mein Vater fährt immer noch Schlittschuh durch die Küche, nur ein kleines bisschen langsamer als früher. Ihm ist dieses Buch gewidmet.
Bettina Flitner
Der Text ist das gekürzte Vorwort aus dem Foto/Text-Buch von Bettina Flitner: Väter & Töchter. Geschichten einer besonderen Beziehung (Elisabeth Sandmann Verlag)