Orlando: Queer-Community sieht weg
Seit dem Massaker von Orlando am 12. Juni 2016 ist ein Jahr vergangen, die Erinnerung an den Mord an 49 Menschen, die in einer Gay-Bar feierten, verblasst. Der Attentäter von Orlando hatte sich auf die Scharia berufen und – weil es in den USA schwierig ist, Schwule von Hochhäusern zu stürzen (wie in islamischen Ländern üblich) – dazu berechtigt geglaubt, ein Massaker anzurichten.
Das Verblassen der Erinnerung an die Opfer im Club Pulse, die in einer langen Reihe von Opfern von Homohass und Homophobie stehen, hat auch psychologische Gründe – wer möchte sich schon derart bedroht fühlen? Was aber eine verständliche und notwendige Abwehrreaktion ist, wird in der Queer-Community zum fehlenden Protest gegen die Zumutung islamistischer Todesdrohung. Stattdessen wird diese Abwehrreaktion zur Verleugnung radikalisiert: Das hat nichts mit dem Islam zu tun, der Täter ist ein Einzeltäter, der eigentliche Feind steht rechts und so weiter.
Ganz in diesem Sinn postete auf Facebook jemand zu meiner Veranstaltungsankündigung „Nach Orlando: Die queer community übt die Unterwerfung“: „Was ist das für 1 shice? Sorry. Aber die Opfer sind tot. Der Täter ist tot. Wem nützt dieses islambashing da noch? Ist das eine von der AfD gesponserte Veranstaltung? Hört sich alles sehr krude und dumm an.“
In den direkten Reaktionen auf den Massenmord wurden drei unterschiedliche Interpretationen deutlich: Eine war die der Betroffenen und der BürgerInnen von Orlando, die sehr genau begriffen haben, dass es sich bei diesem Attentat um einen „Angriff auf uns alle“ gehandelt hat. Die zweite sah von den konkreten Opfern ab und vermied es, wie Kanzlerin Merkel beispielsweise, von den Opfern – Schwulen, Lesben und Transsexuellen – zu sprechen. Die dritte Variante betonte, dass es sich nicht nur um „LGBTQ“ gehandelt habe, sondern darüber hinaus um „LatinX“.
Das Pulse wurde von letzteren einerseits als Safe-Space einer Minderheit in der Minderheit dargestellt, in dem Rassismus, Sexismus und Islamophobie keinen Platz gehabt hätten, um dann andererseits zu behaupten, dass gerade queere People of Color im Gedenken an die Opfer ausgegrenzt würden. So klagte zum Beispiel die Missy-Autorin Hengameh Yaghoobifarah im Blog des Magazins: „Es blieb zunächst unsichtbar, dass es sich bei den Betroffenen nicht etwa um schwule, weiße Cis-Männer, sondern fast ausschließlich um Schwarze und latinx Queers und Transpersonen handelt.“
Eine solche Rassifizierung der Opfer ist an sich schon widerlich genug. Auch unter den Opfern des 14. Juli in Nizza waren übrigens sehr viele Muslime, französische Staatsbürger maghrebinischer Herkunft. Sie wurden in den Zeitungen als Individuen gewürdigt, nicht als Angehörige irgendeines Kollektivs. Denn es war ja klar, dass sie zu Tode kamen, weil sie sich am 14. Juli auf dem Boulevard des Anglais aufhielten, um den Jahrestag der französischen Revolution zu feiern. Die meisten der Anwesenden haben das Feuerwerk sehen und mit ihren Familien einen schönen Abend verbringen wollen – und genau diese republikanische Lebensfreude war das Ziel des Attentäters.
Dass am Abend des Attentats von Orlando eine Latin Night stattgefunden hat, also eine Themenparty, dürfte dem Attentäter herzlich egal gewesen sein. Es waren übrigens auch die Mitglieder eines Frauenfußballclubs da. Die Mehrheit der Ermordeten aber waren in der Tat schwule Männer hispanischer Herkunft, über die Hälfte von ihnen stammte aus Puerto Rico.
Doch ist das in Florida, zumal in Orlando, kein Alleinstellungsmerkmal, denn mehr als ein Viertel der Bevölkerung ist hispanischer Herkunft. Es zählt allein das Kriterium der spanischen Sprache und der Herkunft. Eine Form der rassifizierten Identität, wie sie die Afroamerikaner teilweise für sich in Anspruch nehmen und auf die sie nicht selten reduziert werden, existiert dort nicht.
Nach der Tat gab es rasch Spekulationen über Mateens sexuelle Orientierung. Es wurde behauptet, dass er schwule Dating-Apps heruntergeladen hätte; und seine Exfrau sagte, sie habe schon immer geahnt, dass er seine Homosexualität verleugnet habe. Das stellte sich später als Falschmeldung heraus, aber dennoch bleibt das Gerücht. Schwuler Selbsthass würde das Massaker von Orlando zu einer Angelegenheit der Community machen, vielleicht noch einer Gesellschaft, in der nach wie vor Diskriminierung existiert; merkwürdigerweise aber nicht zu einem Problem von Mateens Familie, die sakrosankt zu sein scheint. Warum? Weil es sich um eine muslimische Familie handelt.
Wer ist Omar Mateen? Er wird schon als Kind und Jugendlicher als eine wenig sympathische Persönlichkeit mit ausgeprägten aggressiven und soziopathischen Zügen beschrieben. Er musste mehrmals die Schulen wechseln, geriet immer wieder mit Mitschülern und Lehrern in Konflikt, etwa, als er sich nach dem 11. September 2001 als Neffe Osama bin Ladens ausgab, bzw. als er seine Mitschüler mit der Nachahmung der abstürzenden Flugzeuge provozierte.
Ein ehemaliger Lehrer berichtete, dass alle pädagogischen Bemühungen fehlschlugen, weil Omars Vater Saddique Mateen sich immer hinter seinen Sohn gestellt habe. Der Vater fiel auch durch Gewalt gegen seinen Sohn auf. Saddique Mateen war in den 1980er Jahren aus Afghanistan gekommen und galt damals als „gemäßigter Muslim“, das allerdings zu einer Zeit, als die USA die Taliban noch gegen die Russen unterstützten.
Seinem Sohn Omar ist es offenbar nicht gelungen, sich aus den traditionellen Fesseln der paschtunischen Stammeskultur zu befreien. Omars Versuche, auszugehen und mit Mitstudenten Kontakte zu knüpfen, könnten als zögerliche Schritte verstanden werden, doch auch ein wenig vom amerikanischen Traum abzubekommen. Seine eigene Gewalttätigkeit verhinderte allerdings sogar, dass er als staatlicher Gefängnisaufseher arbeiten konnte.
Zu dieser Gewalttätigkeit gehört bei Omar Mateen wie bei seinem Vater die Folgenlosigkeit der Tat. Während der Vater sich als Patriarch gerierte, dessen Handlungen auf seiner uneingeschränkten innerfamiliären Macht beruhten, gelang es dem Sohn nicht, ein eigenes Leben aufzubauen. Mehrere Versuche, eine Familie zu gründen, schlugen fehl. Seine erste Frau trennte sich von ihm wegen seiner Gewalttätigkeit.
Seit 2007 arbeitete Mateen bei einer Sicherheitsfirma. Das psychologische Gutachten, das ihn für diese Tätigkeit qualifizierte, stammte von einem Freund der Familie. Ein weiteres Gutachten einer Psychologin war schlicht gefälscht. Unter Kollegen war Mateen verhasst, nicht nur, weil er ständig homophobe, rassistische und sexistische Kommentare vom Stapel ließ, sondern auch, weil all dies folgenlos für ihn war. Obwohl es zahlreiche Beschwerden gegeben hat, wurde er nur einmal versetzt. Er redete sich stets damit heraus, selbst gereizt oder diskriminiert worden zu sein, als Muslim.
2013 und 2014 wurde sogar das FBI auf ihn aufmerksam, weil seine Bekenntnisse zu dschihadistischen Gruppen und entsprechende Kontakte in deren Umfeld kaum noch zu übersehen waren. Aber auch hier gelang es Mateen, alles durch eine Umkehrung des Vorwurfs zurückzuweisen – mit der Folge, dass das FBI ihn von der Watchlist nahm, um nicht als „islamophob“ zu gelten.
Mateen ist es mehrmals gelungen, sich vom Täter in ein Opfer zu verwandeln. Er nutzte die herrschende gesellschaftliche Stimmung, für die das Gefühl, beleidigt worden zu sein, schwerer wiegt als der Verdacht, terroristische Aktivitäten zu planen. Diese Taktik hatte er von seinem Vater gelernt. Schon Lehrern und Mitschülern war aufgefallen, dass Vater und Sohn nach eigenen Regeln lebten und amerikanische Umgangsformen für sich nicht gelten ließen. Kritische Bemerkungen, Gespräche oder gar die zeitweise Suspendierung von der Schule änderten daran nichts, sie waren im Gegenteil nur Bestätigungen dafür, dass die muslimische Kultur in Amerika nicht anerkannt wird.
Bei Omar Mateen muss es schon früh einen Moment gegeben haben, an dem er sich mit der islamistischen Gewalt identifizierte. Und je folgenloser die wiederholten öffentlichen Bekenntnisse waren, desto stärker dürfte er sich nicht ernst genommen gefühlt haben.
Dass sich Mateen das Pulse ausgesucht hat, hatte aus meiner Sicht mehr zu tun mit seiner Ablehnung der westlichen Gesellschaft als mit verleugneter Homosexualität. Das Pulse ist für ihn ein Ausdruck der Dekadenz und der Sittenlosigkeit des Westens gewesen, ebenso verführerisch wie bedrohlich.
In geschlechtergetrennten Gesellschaften wie der afghanischen ist der Lebensweg vorgezeichnet. Es ist möglich, als Schwuler zu leben, solange man bereit ist, zu heiraten und Kinder zu zeugen. Entscheidend ist, nicht aufzufallen und die Ehre der Familie zu bewahren. Sollte Mateen sich im Ansatz über sein gleichgeschlechtliches Begehren bewusst gewesen sein, so konnte er es im Rahmen seiner vom Vater übernommenen Tradition nicht als Frage der sexuellen Orientierung betrachten, sondern als Bedrohung für die Familie. Omars Vater antwortete nach dem Attentat auf die Frage, ob er es für möglich halte, dass sein Sohn schwul gewesen sei: „Wenn er schwul war, warum sollte er so etwas tun?“ Dem gegenüber stehen Berichte von Mateens Exfrau, die behauptete, der Vater habe den Sohn als „schwul“ beschimpft.
Bei nicht wenigen islamistischen Massenmördern wird eine schwankende sexuelle Orientierung angenommen. Mohamed Bouhlel, der in Nizza 84 Menschen tötete, soll bisexuell gewesen sein; er soll mit einem wesentlich älteren Mann liiert gewesen sein. Er hatte ebenfalls eine Geschichte der Gewalt hinter sich. Auch Salah Abdeslam, der mutmaßliche Organisator der Anschläge vom November 2015 in Paris, soll sich in Brüssel in Schwulenbars aufgehalten haben. Freunden galt er als Frauenheld, der jede Nacht eine andere hatte; in der Brüsseler Schwulenszene galt er als Stricher. Ebenso wurde Mohammed Atta und einigen seiner Komplizen des 11. September 2001 zumindest latente Homosexualität unterstellt.
Doch was ist damit gemeint? In islamischen Gesellschaften ist nicht das Geschlecht des Objekts das entscheidende Merkmal sexueller Einteilung, sondern die Rolle, die im Akt eingenommen wird: ob man Penetrierender oder Penetrierter ist. Erstere sind Männer, letztere Nichtmänner. „Nichtmänner“ sind, neben Frauen und Mädchen, auch Knaben, Transvestiten, ‚effeminierte‘ Männer und – bedingt – Nichtmuslime.
Omar Mateen, von dem berichtet wird, dass er angeekelt gewesen sei, als er zwei sich küssende Männer sah, hatte offenbar sein Leben lang gegen die drohende gesellschaftliche Kastration gekämpft, die den Afghanen zu einem durchschnittlichen US-Bürger gemacht hätte. Dass er in Wirklichkeit schon längst vom eigenen Vater kastriert worden war – wie viele islamistische Attentäter vor ihm –, konnte und wollte er nicht erkennen.
Das Elend der Kulturen, wie es sich in der Biografie Omar Mateens widerspiegelt, sollte eigentlich Anlass sein zu hinterfragen, wie es möglich ist, dass in Gesellschaften wie der US-amerikanischen oder den europäischen solche Verhältnisse überhaupt existieren können. Und weshalb sie in den Rang kultureller Errungenschaften erhoben und damit jeglicher Kritik enthoben werden. Schließlich sind die homosexuellenfeindliche Propaganda und die Mordtaten im Irak, im Iran und in Syrien hinlänglich bekannt.
Doch erkennt die Queer-Community die ihr drohende Gefahr? Keineswegs. „Heute sind es die Muslime mit ihren Moscheen und morgen sind es Schwule, Lesben, Bi-, Trans- und Intermenschen“, begründete wenige Wochen vor Orlando das Frankfurter CSD-Bündnis die Änderung seines Mottos von „Lieb geil“ zu „Liebe gegen Rechts“. Und der Freiburger CSD lud einige Tage nach Orlando zu einer Mahnwache ein. Man wollte mahnen – aber wovor? „Wir sind, wie viele Menschen rund um die Welt, zutiefst bestürzt und schockiert über diesen Angriff, der sich explizit gegen die LSBTTIQ*-Community gerichtet hat.“, schrieben die Freiburger. „Ein Angriff, der nun von einigen Politiker*innen instrumentalisiert wird, um den Hass gegen alle Muslime* und Musliminnen* zu schüren. Islamistischer Terror darf nicht mit dem Islam gleichgesetzt werden.“
Tatsächlich findet sich in keiner mir bekannten Stellungnahme im Zusammenhang mit Orlando ein Bezug auf die Attentate in Paris oder Brüssel bzw. auch ein Hinweis auf die tödliche Verfolgung von Schwulen in den islamischen Staaten.
Einerseits versuchen VertreterInnen muslimischer Organisationen, das Attentat zu einem Angriff nicht auf einen kommerziellen Gayclub, sondern zu einem Massaker an so genannten „LatinX“ umzudeuten. Andererseits versuchen dieselben Kräfte, die Queer-Community zu einem Bündnis gegen Rechts zu funktionalisieren, indem sie auf eine Gemeinsamkeit von „Islamophobie und Homophobie“ verweisen.
So auch die New Yorker Gewerkschafterin und Trotzkistin Eman Abdelhadi, die an der New York University über Gender im amerikanischen Islam ihre Doktorarbeit schreibt. Wenige Tage nach den Toten in Orlando ging Abdelhadi zur Mahnwache vor dem Stonewall Inn am 14. Juni, jenem Ort, an dem die neuere Emanzipationsbewegung der Homo- und Transsexuellen ihren Ausgang nahm. „Als ich ankam, fand ich mich einem Meer von gutgekleideten Homos der oberen Mittelklasse wieder – zumeist Cis-Männer, die Sorte, die Werbung der Human Rights Campaign in den Müll wirft und ‚love wins‘ proklamiert“, schreibt sie. „Ich fühlte mich plötzlich so sichtbar in meiner muslimness, so nackt in meiner identifizierbaren arabness. Ich war mir meines großen arabischen Tattoos bewusst, meiner Augen, meiner Haut, meines Haars.“
Aber die Araberin traf auch auf Freunde: „Ein Grüppchen von vier Leuten trug ein Plakat, auf dem stand: ‚Nein zu Homophobie, Nein zu Islamophobie‘. Ich war erleichtert, sie zu sehen. Abgesehen davon aber war es eine deutlich weißere, wohlhabendere Menge als auf den Demos, in denen Leute wie ich ihre Erfahrungen gesammelt haben – von Antikriegsdemos zu ‚Free Palestine‘ zu ‚Occupy‘ zu ‚BlackLivesMatter‘.“
Abdelhadi berichtete weiter, dass „die weißen Mittelklasse-Homos“ nicht auf Rassismus und soziale Ungerechtigkeit hingewiesen hätten, sondern nur den führenden Politikern New Yorks und der New Yorker Polizei zujubeln wollten, die ihnen versprachen, dass nicht weggeschaut würde, wenn Homo- und Transsexuelle angegriffen würden, und sie auf den Schutz des Staates vertrauen könnten.
Den Attentäter Mateen bezeichnet Abdelhadi als einen „durchgeknallten, waffenbesessenen Homophoben“. Die Autorin, die ansonsten sehr genau weiß, wer in welche Schublade gehört, verschwieg Mateens Identität als Muslim und machte ihn zum Einzeltäter.
In den Tagen nach Orlando wurden diverse ideologische Abwehrmechanismen deutlich, mit denen das Offensichtliche geleugnet werden sollte: Dass es sich nämlich um ein Verbrechen aus Hass auf eine Gesellschaft handelt, die es ihren Bürgerinnen und Bürgern erlaubt, ein eigenes Leben zu führen. Diese Abwehrmechanismen heißen: Leugnung der ideologischen Motivation; Bagatellisierung der Differenz zwischen einer religiösen oder ideologischen Überzeugung; sowie Glorifizierung von Identität als unveräußerlichem individuellem Anspruch auf ein Zwangskollektiv, sei es nun muslimisch oder gay.
Als nach den Morden von Orlando die New York Times Artikel veröffentlichte, in denen es um vieles ging, nur nicht um die islamistische Ideologie des Attentäters, konstatierte der konservative schwule Publizist James Kirchick wütend: „Die Verwechslung der Prioritäten ist atemberaubend. Wenn nur die LGBT-Leute so viel Bissigkeit für al-Baghdadi aufbringen könnten, wie sie es für Kim Davis getan haben, jene Standesbeamtin in Kentucky, die sich weigerte, Heiratsurkunden für gleichgeschlechtliche Paare auszustellen.“
Die Glorifizierung von Identitäten ist ein weiterer ideologischer Abwehrmechanismus der Queer-Community. Problematisch ist am Begriff der Identität ja schon, dass immer etwas identisch sein muss; in diesem Fall das Individuum mit den Erwartungen, die an es qua Herkunft oder sexueller Orientierung gestellt werden.
Die Unterwerfung, die ich meine, geht im Sinne von Michel Houellebecq still vonstatten, sie braucht keine aufgeregten Bekenntnisse, keine vordergründige Identifikation mit dem Angreifer. Es sind die „Warnungen vor dem Rechtspopulismus“, die kein Wort über Todesstrafen, über Ehrenmorde und über Verfolgungen verlieren dürfen, um nur nicht in den Geruch des „Rassismus“ zu kommen. Sicher, es gibt einen Rassismus gegen Muslime, der diese schlicht als minderwertig erachtet, aber ist der tatsächlich hegemonial, wie man auf Neudeutsch sagt? Ist nicht vielmehr die Anpassung an den Diskurs bestimmend, in dem das Individuum aus seiner Gemeinschaft nicht austreten kann und darf – und ist nicht gerade das kultursensible Umgehen mit muslimischen Ehrenmördern das Symptom unserer Zeit?
Nur wenige Wochen nach Orlando wurde Carolin Emcke, einer offen lesbischen Journalistin, der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Am 17. Juni veröffentlichte Emcke in der Süddeutschen Zeitung eine Kolumne, die die Gefühlslage vieler auf den Punkt brachte. Sie schrieb: „Es fühlt sich an, als wäre einem die Haut vom Leib gezogen worden. Mit einem einzigen Riss. Von den Fußsohlen bis zum Schädel. So als gäbe es keine Schutzschicht mehr. Als läge alles bloß und wund. Ausgeliefert dem, was da noch kommen möge. Dieser Schmerz über die eigene Schutzlosigkeit ist vielleicht das Bitterste neben der Trauer, die seit dem Massaker von Orlando eingezogen ist und die nicht mehr verschwinden will. Wenn es etwas gibt, das Menschen, die anders aussehen, anders lieben oder anders begehren als die normgebende Mehrheit, wenn Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Intersexuelle oder queere Menschen etwas miteinander gemein haben, dann die Erfahrung der Verwundbarkeit.“
Diese treffende Beschreibung der negativen Gemeinsamkeit hätte genügt. Aber Emcke konnte sich dem Zwang der demonstrativen „Anti-Islamophobie“ nicht entziehen: „Das Motiv des Massenmörders ist eindeutig: Hass auf Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Intersexuelle – und alles, was als anderes markiert wird. Ob sich dieser Hass noch in der dschihadistischen Ideologie des IS seine Legitimation zur Gewalt suchte oder ob der Hass sich selbst genug war – das spielt primär für diejenigen eine Rolle, die dieses Verbrechen instrumentalisieren wollen für ihre politischen Ziele. Es ist ein so vertrautes wie geschmackloses Spektakel, wie Homosexuelle vor allem dann wahrgenommen und als Menschen mit Rechten verteidigt werden, wenn sie sich als Spielfiguren in der feindseligen Kampagne gegen Muslime einsetzen lassen.“
Letzteres ist schlicht eine Lüge. Vor allem aber ist es ein Tort gegen alle, die sich für LGBT-Flüchtlinge aus islamischen Staaten einsetzen. In Emckes Friedenspreis-Rede folgt dann konsequenterweise die Gleichsetzung von Queeren und Muslimen unter dem Regenbogen der Kulturen. Als hätte sie die Opfer von Orlando, die hingerichteten Schwulen im Iran und im Herrschaftsgebiet des Islamischen Staates niemals auch nur wahrgenommen, rekurrierte Emcke in ihrer Rede auf gleichwertige Identitäten und Kulturen: „Manchmal scheint mir das bei der Beschäftigung der Islamfeinde mit dem Kopftuch ganz ähnlich. Als bedeutete ihnen das Kopftuch mehr als denen, die es tatsächlich selbstbestimmt und selbstverständlich tragen. So wird ein Kreis geformt, in den werden wir eingeschlossen, wir, die wir etwas anders lieben oder etwas anders aussehen, dem gehören wir an, ganz gleich, in oder zwischen welchen Kreisen wir uns sonst bewegen.“
Was Emcke mit den Kreisen beschreiben will, mit den Ein- und Ausschlüssen, das ist die direkte Folge des Denkens in Communitys und Identitäten, die untereinander aushandeln, was richtig und was falsch ist; einen universellen Maßstab dafür gibt es nicht mehr. Nicht der Einzelne soll nach seiner Fasson glücklich werden, sondern jede Community nach ihrer Fasson. Dieses Prinzip, anzuerkennen, dass alles verhandelbar sei, ist schon der erste Schritt zur Unterwerfung.
Wer, wie die frei lebende und liebende Emcke, großzügig das Kopftuch als selbstbestimmt und selbstbewusst gewähren will, impliziert damit, dass die Frauen mit Burka oder Niqab da bleiben sollen, wo sie sind. In Großbritannien und Frankreich funktioniert der Rückzug des Rechtsstaates schon ganz gut, viele islamische Communitys organisieren sich nach eigenen Gesetzen. Da können sich die Mittelklasse-Angehörigen beruhigt zurücklehnen – sie brauchen jene Anderen, die ihnen ihre eigene Normalität vor Augen führen.
Denn wenn diese Anderen als kulturell Andere daherkommen, erübrigt sich ein schlechtes Gewissen. Das Elend der Anderen ist ja Teil ihrer Kultur. Der anderen Kultur.
Tjark Kunstreich war lange in Berlin als Sozialarbeiter tätig und in der Aids-Arbeit engagiert. Er ist heute Psychoanalytiker in Wien.
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Dieser Text ist ein gekürzter Beitrag aus: Beißreflexe - Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten (Querverlag, 16,90€)