Verfemte Dichterinnen
Sofort nach Kriegsende waren sie da. Jemand wie Susanne Kerckhoff etwa. Eine junge Dichterin, die es verdammt ernst meinte mit Deutschland nach dem Hitler-Desaster. 1918 im Kultur-Berlin der Zwanziger Jahre geboren, glaubte sie sich anfangs hochwillkommen im Aufbau-Programm der Sowjetischen Besatzungszone. Sozialistin, politisch unbelastet, vorbehaltlos fragend und lebensbejahend, ausgestattet mit breitestem Literaturbegriff – die Neue Zeit, das Bessere Deutschland suchten händeringend nach Frauen wie ihr.
Auftritte beim Ersten Deutschen Schriftstellerkongress im Oktober 1947, zahlreiche Veröffentlichungen und politische Funktionen, schließlich die Stelle als Feuilletonchefin der Berliner Zeitung ab Herbst 1948. Konnte mit dem öffentlichen Blitzstart einer Dichterin und Publizistin wie Susanne Kerckhoff dem kaputten Nachkriegs-Berlin, konnte Ostdeutschland etwas Besseres passieren?
1948 erschienen ihre – gerade wieder neu aufgelegten und heftig diskutierten – Berliner Briefe in einem Unruheton, der sie unverwechselbar machte: „In ein bestimmtes Lager gehöre ich – in das Lager derjenigen, die sich noch in keiner Weise beruhigt haben. Über Nationalsozialismus und Krieg, über Sozialismus und Kapitalismus, über Schuld und Sühne, über eigene Schuld und eigene Sühne kann ich mich nicht beruhigen. Auch nicht über unsere eigenen Spiegelbilder und Verzerrungen, nicht über Papierverordnungen, an denen Blut und Hunger haften. Ich weiß kein Heilmittel gegen diese Unruhe, und wüsste ich eines, ich würde es nicht anwenden.“ Als „unheilbar politisiert“, wie sie sich selber nannte, kontrovers und polemisch – mit dieser wenig geschützten Haltung steuerte sie jedoch in den verminten Jahren um die DDRStaatsgründung in einen Konflikt hinein, der für sie bald schon nicht mehr zu steuern war.
Es ging um viel, für Susanne Kerckhoff um alles. Unter Hitler hatte die Berlinerin ein kleines Widerstandsnetz aufgebaut, um ihre jüdischen Freunde zu verstecken. In der Stalin-Zeit dann wurde aus politischen Gründen von ihr verlangt, diese Freunde, viele von ihnen waren ermordet worden, zu vergessen. Die Macht in Ostberlin beanspruchte für ihr historisches Großprojekt einen eigenen Heldenmythos, den des deutschen Kommunisten als alleinigen Sieger über den Nationalsozialismus. Damit das möglich werden konnte, musste der Holocaust im Osten faktisch in den politischen Eisschrank.
Susanne Kerckhoff eröffnete – camoufliert und doch unmissverständlich – eine öffentliche Debatte, sagte Nein zu dieser Geschichtsvolte und erhob Einspruch gegen das, was man später den „BuchenwaldKomplex“ nennen würde – die Legende vom roten Antifaschismus als Staatsdoktrin der DDR. Das war nichts anderes als Löwinnenmut. Im Gründungsmoment des neuen Staats-Ostens kämpfte eine junge Schriftstellerin offensiv an gegen die Lügen, die einsetzenden Mythenbildungen, die Verstellungen, das Polit-Schweigen der sich formierenden zweiten deutschen Diktatur. Ein Kampf, den sie nicht gewinnen konnte. Im März 1950, mit 32 Jahren, war Susanne Kerckhoff tot. Selbstmord durch Gas.
Ein moralischer Mord im Zeitgestrüpp des ostdeutschen Nachkriegs. Eine Überkreuz-Geschichte in einer kreuzgefährlichen Zeit. Nach ihrem Selbstmord wurde Susanne Kerckhoff nicht weggeschoben, nicht vergessen, sie wurde vorsätzlich verleugnet. Es geschah mit ihr das, wogegen sie sich mit aller Verve verwahrt hatte: dass Menschen einfach gelöscht, ihre Geschichten ausradiert werden. Insofern ließe sich die Kerckhoff-Causa auch symbolisch lesen: als eine Geschichte des Verschwindens. Ganz gegen alle Mainstream-Lesart ist sie auch eine Geschichte des frühen Verschwindens engagierter Weiblichkeit im Osten. Es war nur der Anfang.
Zwei Monate nach Kerckhoffs Tod wurde im Mai 1950 eine zwanzigjährige Studentin in Potsdam verhaftet. Ihr Name: Edeltraud Eckert. 1930 in Schlesien geboren, war sie am Ende des Krieges zusammen mit der Familie nach Brandenburg geflohen. Verspätetes Abitur, dann endlich das Studium an der Humboldt-Universität in Ostberlin und ihre Begeisterung: eine neue Idee, ein neuer Staat, endlich auch für die Frauen. Als Edeltraud Eckert und ihre Kommilitonen jedoch von der Existenz der NKWD-Lager hörten, – den nach 1945 vom sowjetischen Geheimdienst in Ostdeutschland eingerichteten Speziallagern – war ihr Schock groß. Das sollte die Realität des sozialistischen Projektes sein, an das sie glaubten? In ihr rebellierte alles, wie es in Susanne Kerckhoff rebelliert hatte.
Zusammen mit drei Freunden gründete sie eine kleine Widerstandsgruppe. Informationen, Codes, Verbindungsaufnahme in den Westen, Flugblattaktionen. Bevor die Gruppe jedoch noch aktiv werden konnte, flog sie auf. Denunziert durch die Nachbarin von Edeltraud Eckert. Im Juli 1950 in Potsdam der Prozess gegen die Vier unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Keine Entlastungszeugen, keine Verteidigung. Entsprechend das Urteil. Edeltraud Eckert wurde zu 25 Jahren Haft und Arbeitslager sowie Beschlagnahmung der gesamten persönlichen Habe zum Zeitpunkt der Verhaftung verurteilt. Zuerst kam sie ins Zuchthaus Bautzen, dann nach Waldheim, schließlich in die Frauenvollzugsanstalt Hoheneck.
Drastische Haftbedingungen, Hunger, die Willkür des Gefängnisalltags, noch immer der Schock der Verhaftung, das außerordentlich hohe, aber für die Zeit übliche Strafmaß, ein abrupt abgewürgtes Leben – Edeltraud Eckert musste sich mit zwanzig Jahren in einer Extremsituation einrichten, in der die Ausnahme die Regel war. Wie das überstehen? „Ich bin so eingesponnen in meine Verse, Melodien und Sätze“, schrieb sie an die Eltern. Noch in Waldheim erhielt sie ein einziges Mal ein kleines Oktavheft und versuchte, mit Wörtern zu widerstehen. Es entstanden 101 Gedichte.
Die Strafanstalt Hoheneck im Erzgebirge. Das größte Frauengefängnis der DDR. Neben der Wache das Schild: „Der Inhalt und die Gestaltung des Vollzugsprozesses wird durch das Humane des sozialistischen Staates bestimmt.“ Die Realität? Schlechteste hygienische Bedingungen, stickige Enge, primitivster Kommandoton, härteste Arbeitsbedingungen. Das wenige Private lag unter den Kopfkissen der Inhaftierten.
Edeltraut Eckert kam in den Ostteil der Gefängnisburg, in einen Gewahrraum mit 120 Frauen und wurde als Mechanikerin in der Schneiderei eingesetzt. Akkord im Dreischichtsystem. Auch am 24. Januar 1955 lief die große Welle im Arbeitssaal auf Hochtouren. In der Spätschicht ging es hektisch zu. Die Mechanikerinnen hatten alle Hände voll zu tun, als ein Spulgehäuse unter die Welle fiel. Um den Stopp der Maschine und damit Arbeitsausfall zu verhindern, griff Edeltraud Eckert nach der Spule. Dabei wurden ihre Haare, die sie ausgerechnet an dem Tag offen trug, von der Getriebewelle erfasst und gerieten in die Routierung. Ihre Kopfhaut riss großflächig ab. Da es in der Nacht keine Wachtmeisterin gab, konnte der Skalp nicht desinfiziert werden. Die Wunde begann zu eitern. Nach mehreren Transplantationen der Kopfhaut im Haftkrankenhaus Leipzig-Meusdorf starb Edeltraud Eckert am 18. April 1955 an Wundstarrkrampf. Zwei Tage später wurde sie eingeäschert und die Urne in einem geheimen Massengrab beigesetzt. Die Eltern erhielten weder Totenschein noch Sterbeurkunde, einzig per Post ein Paket. Darin das Kostüm von Edeltraud Eckert, das sie trug, als sie verhaftet worden war, ein paar Habseligkeiten und das Oktavheft mit ihren Gedichten.
13. August 1961. Mauerbau. Die Spaltung von Berlin, aber auch des Landes bedeutete die endgültige, insbesondere auch geistige Abschnürung des Ostens. Was für die einen zum Signal eines neuen Krieges wurde, war für die anderen der lang erhoffte Auftakt für einen „echten Sozialismus“. In Ost-Berlin wurde das Datum so konkret wie symbolisch als „innere Gründung der DDR“ verstanden und der Ideologie-Kurs dementsprechend ausgehärtet. Wieder Verbote, Zensur, Verhaftungen. Trotzdem formierte sich gegen die Enge des Einschlusses künstlerischer Widerstand. Beispielsweise durch eine Fünfer-Gruppe von Solitären in Ost-Berlin – durch Werner Kilz, Jutta Petzold, Henryk Bereska, Eveline Kuffel, Norbert Randow. Die Fünf atmeten dieselbe Lebensluft, debattierten endlos über die bitteren Zeiten und waren sich einig darüber, dass sie in Verbänden und offiziellen Schriftstellerkreisen nie heimisch werden würden.
Unter dem Pseudonym Ruth Corduan gelang Jutta Petzold, 1933 geboren, in der FDJ-Zeitschrift Junge Kunst 1957 ihre erste Veröffentlichung. Zola war ein fiktives Streitgespräch zweier Literaten über Wahrheit, Schönheit, Stil, Ideale und die Freiheit des Denkens. Für die junge Dichterin, die ausdrücklich auf einen an der literarischen Moderne geformten, aber spätestens seit 1948 verfemten Literaturbegriff zurückgriff, blieb das die einzige Veröffentlichung in der DDR.
Ihr 1962 geplanter Fluchtversuch misslang. Danach arbeitete sie an einer knapp 100-seitigen Prosa, die einen literarischen Suizid beschreibt. Die Verfolgung. Eine Krankengeschichte berichtet vom Tag des Mauerbaus. Eine Frau beobachtet jede Menge Militärautos, hört Stimmen, Kommandos. Plötzlich sieht sie Polizisten die Straße entlangkommen. Sie schwärmen aus, halten Leute an. Die Frau spürt die Nervosität, fängt Blicke auf, versucht zu entkommen, springt in einen Zug: „Irgendwie bemerkte ich, dass alles im Zug gelenkt war. Die Reisenden waren Statisten.“ Kurz darauf verlässt sie den Zug wieder. Doch das Gefühl, beobachtet zu werden, bleibt. Sie wird aufgegriffen und landet in der Psychiatrie.
Der Text, schreibt Jutta Petzold in Die Verfolgung, handelt „von der Macht äußerer Verhältnisse in Gestalt der Mauer“. Noch aus der Psychiatrie heraus versucht sie, ein künstlerisches System gegen die Ohnmacht zu setzen. „Wir müssten eine Komödie aus dem Ganzen machen, so etwas wie Amphitryon. Alle gehen am Ende fröhlich nach Hause, und die Mauer ist weg.“ Die Frau schickt Briefe, Texte, Lieder, ersinnt Codes. Doch die Adressaten vermögen ihre Botschaften nicht mehr zu entschlüsseln. Ihre Isolation wird total, bis ihre Sprache bricht: „Gepelltes Laub Kirchgenick. Solmitur versuchs nur. Glaudiärwoitek Rückfall. Sormatik mesodratik. Muskolosamt verfremdeter Effekt. Stanislaus merowingsting Lapiszula todremtokwi halun. Ich kenne deine stille hoffnungslos verlorene Welt. Hatokdedei marbus o sei. Vilfosugen halb astor sehn Jutta ist schön. Mobile steh warneuch komitee. Kristall man sei. Kolnu okei. Am Tag zu schreiben und nachts zu bleiben. Fapis morun kandis was tun. Verlier den Otto, dein kleines Hotto. Umgib mit Schleiern die Sonderfeiern. Miskorwita o dulada. Sibirskonu falukitu. Misorbetrit o wegzogzit. Vergiss den Wald, dort ist es kalt. Umgib mit Mauern das stetige Trauern. Verlier den Kram, der mit dir kam.“
1968 wurde Jutta Petzold in die Psychiatrie der Berliner Charité eingeliefert und dort medizinisch total fehlversorgt. Ihre Kreativität erlosch. Das umfangreiche Werk – ihre schönen Gedichte, die avancierte Prosa und ihre Stücke – sind noch heute weitgehend unbekannt und nur in Auszügen veröffentlicht.
Nach dem Schock des Prager Frühlings 1968 plante die DDR-Staatssicherheit einen substantiellen Umbau: Keine offene Liquidierung mehr der kritischen Stimmen des Landes, wie bis dahin praktiziert, stattdessen Dauerbeobachtung, verdeckte Methoden, das Infiltrieren subversiver Szenen, um diese unwirksam zu machen. Isolieren und Zersetzen als die beiden Leitbegriffe des Geheimdienstes in dieser Zeit. Bild und Ton wurden leiser, Gewalt und Zugriffe akkurater. Angst, Phantasma, Inszenierung und Suggestion gehörten nun zum Doppelgesicht einer ins dritte Jahrzehnt kommenden DDR.
Ein neuer Status, eine Neuinszenierung, eine pathologische Normalität, in gewissem Sinne auch eine Neuästhetisierung von Macht. Nach außen sah das Ganze womöglich bunter, manche meinten gar kommoder aus. Nach innen lebte sich die Ostgesellschaft in eine Betäubung hinein, in eine Einschlussgesellschaft, deren emotional regime noch heute weitgehend Bestand hat. Zur neuen Strategie gehörte auch, vor allem junge Stimmen zu Zuträgern, Spitzeln, Mitakteuren der Stasi zu machen, um diese eng ans System zu binden.
Zu ihnen gehörte auch Hannelore Becker. 1951 in Leipzig geboren, war sie nicht nur in den Lebensdaten das, was man wohl ein Kind der DDR nennen würde. Die Familie zog Mitte der fünfziger Jahre nach Berlin, die Tochter ging in Friedrichshain zur Schule, wo ihr die Lehrer notorisch Intelligenz und überdurchschnittliche Begabung attestierten. Parallel zum Abitur machte Hannelore Becker eine Lehre als Hochbauzeichnerin und wäre, wenn es denn hätte sein sollen, auch beste Sopranistin oder das Mathe-Ass der Schule geworden. Mühelos bediente sie jedwede Vorgabe, wurde Gruppensekretärin der Klasse und auf jedem Schulappell ausgezeichnet.
Vielleicht langweilte sie sich einfach. In ihrem Abiturzeugnis hieß es: „Jederzeit hilfsbereit und bescheiden, dabei konsequent und beharrlich ihren Standpunkt vertretend, ist sie ein treuer Helfer bei der Erfüllung der Aufgaben unserer sozialistischen Schule.“ Mit 16 Jahren wurde sie in den Kulturbund der DDR aufgenommen, machte ein Volontariat bei der BZ am Abend und studierte ab 1970 Kulturwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität. Ein Jahr später, im März 1971, verpflichtete sie sich unter dem Decknamen „Clementine“ für den Geheimdienst.
Hannelore Becker schaffte an Informationen heran, was das MfS operativ brauchen konnte. Sie berichtete aus der Universität, von Singeklubwerkstätten, aus dem Literaturklub Friedrichshain, vom Poetenseminar Schwerin, über die Weltfestspiele 1973 in Ostberlin. Der Ton ihrer Berichte war klar, pointiert und überzeugte. Ab Herbst 1971 erhielt sie konkrete Aufträge, um sich in oppositionelle Kreise einzuschleusen. Dabei ging es um die Schriftsteller Jürgen Fuchs sowie Franz Fühmann und den Philosophen Wolfgang Heise. Begegnungen, die nicht ohne Folge blieben. Seit Mai 1974 setzten Hannelore Beckers regelmäßige Berichte aus. Den vereinbarten Treffen in der konspirativen Stasi-Wohnung kam sie nicht mehr nach und zog sich zurück.
Nach knapp vier Jahren Zuarbeit für den Geheimdienst bat sie um ihre Entpflichtung. Der Bitte wurde stattgegeben. Dass der Bruch kein äußerlicher war, erzählen ihre Texte. Als müsste etwas erneut gehen lernen, eine neue Sprache lernen. Ihre Gedichte suchen nach Stille, sagen etwas vom Nachdenken über Klang, ermüdete Räume und verformte Zeit. Hannelore Becker hatte Schluss gemacht mit den Voyeur-Nachmittagen, den Verstellungen, den falschen Sätzen, dem vielen Fremden im Eigenen. Doch wohin mit den Stasi-Männern in den lausigen Wohnungen, mit all dem Falschgesagten, Falschgeschriebenen, Falschgefühlten? Und wohin mit dem Bruch, dem Loch, der Leere in sich, dem Selbsthass, dem Ekel vor sich selbst, den Ängsten? Wie zurückfinden, wohin? Mit wem sprechen?
Die Jahre nach dem Bruch wurden Hannelore Beckers intensivste Schreibjahre. Über Puppen, Marionetten, Masken, eine Figur an Fäden. „Ich eine puppe unter mir bohlen hinten bunte / kulissen die seiten gerümpel plüsch vorne / nichts schwarz mein kopf nicht holz die glieder / draht nicht aber an fäden mein wille nicht / seis fremde bewegungen ich seh ins schwarze sieh ...“ Das Ich als Puppe, der Kopf schwarz, der Boden wie eine Bühne, als liefe es durch ein Labyrinth aus Tarnung, Selbsttäuschung, Resignation. Die Dichterin hätte Hilfe bedurft, Freunde, Gespräche, Bestätigung, Relativierung.
Wen sie traf und liebte, war Karl Mickel. Er Dichter, Jahrgang 1935. Sächsische Dichterschule. Von 1959 bis 1963 Arbeit für den Auslandsgeheimdienst. Danach sein Band Vita nova mea / Mein neues Leben. Ab 1970 war er stückführender Dramaturg am Berliner Ensemble, später Dozent und Professor für Verskunst an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Einer, der es mit den Wörtern hypergenau nahm.
In den achtziger Jahren begann er seine zweite Stasi-Karriere und bespitzelte die Dichterszene vom Prenzlauer Berg. Sprach er mit Hannelore Becker über ihre Paniken, über ihre Tablettenabhängigkeit, ihre Wodka-Nächte, ihre Puppen-Texte? Am 13. Februar 1976 stand sie am Fenster in der Wohnung von Karl Mickel. In der Manteltasche ein Abschiedsbrief. In ihm ging es um Liebe, Staat, Verrat. Sie war 25 Jahre alt. Sie sprang. Im späteren Polizeibericht hieß es: „Ohne noch einmal zu Bewusstsein zu kommen, ist die Becker im Krankenhaus verstorben.“ In einer ersten Befragung erklärte Karl Mickel: „Ich habe zwar intime Beziehungen zu der Becker unterhalten, sie aber nie geliebt.“
Gabriele Stötzer wurde 1953 in Emleben, einem Dorf in Thüringen geboren. Als sie 1969 in Erfurt eine Lehre als Medizinisch-Technische Assistentin aufnahm, begegneten ihr auf den mittelalterlichen Straßen der Stadt die ersten Langhaarigen. Bald gehörte sie zur Szene. 1973 begann sie ein Pädagogikstudium für Deutsch und Kunsterziehung und hörte in den Jenaer Literaten-Kreisen von Jürgen Fuchs und Wolf Biermann. Als ein Kommilitone im Juni 1976 exmatrikuliert wurde, setzte Gabriele Stötzer eine Petition dagegen auf, sammelte am Institut 84 Unterschriften und schickte sie nach Berlin, an die Bildungsministerin des Landes Margot Honecker. Deren Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Sie verlangte Konsequenzen, und auch die ließen nicht auf sich warten: „Die Studentin wird entsprechend der Disziplinarordnung mit Wirkung vom 8. 9. 1976 vom Studium an allen Universitäten und Hochschulen ausgeschlossen.“ Das hieß, von den Denkfabriken des Landes entfernt.
Kurz darauf erfolgte im November 1976 die Biermann-Ausbürgerung. Auch hier sammelte Gabriele Stötzer im stillen Erfurt den Protest zusammen. Nach mehreren Kurzverhaftungen und dem Operativen Vorgang Kapitän schlug der Geheimdienst im Januar 1977 zu. Gabriele Stötzer wurde erneut abgeholt und kam in den Stasi-Knast Erfurt in der Andreasstraße 37.
Eine Frau Anfang zwanzig, auf dem Weg in ihre Zelle, entlang an Wachen und Toren. Kurze Zeit später saß sie allein, in einem grauen Trainingsanzug, in Zelle Nummer 5. Fünf Monate U-Haft, dann im Mai 1977 der Prozesstag. Gabriele Stötzer erhielt „wegen der Schwere des Delikts“, also vermeintlicher „Staatsverleumdung“, ein Jahr Gefängnis ohne Bewährung. Die verbleibenden sieben Monate hatte sie im Frauenzuchthaus Hoheneck abzusitzen, wo vor mehr als 25 Jahren schon Edeltraud Eckert inhaftiert gewesen war. Später schrieb Gabri ele Stötzer in ihrem Gefängnis-Roman Die bröckelnde Festung über die Situation in Hoheneck: „rote striche auf der weißen haut / löcher in armen und brüsten / zernarbte bäuche / das schlucken von löffeln / durch die scheibe gehen / die versuche, sich die adern aufzuschneiden, wurden schnippeln genannt.“ Im Januar 1978 wurde Gabriele Stötzer mit 391,71 Mark Arbeitslohn aus dem Zuchthaus entlassen.
Das Universum Hoheneck als Riss, doch die Wunde als Potential, um zu schreiben. Hoheneck hatte die Schriftstellerin Gabriele Stötzer gleichsam aus dem Schmerz gestampft. Die poetische Gangart war entschieden: rigoros, exzessiv, zart, hart, provokant, atemlos. Ein Staccato, das die Sprache abhorcht nach dem, was nicht ausgedacht oder angelesen ist, sondern Leben heißt. „Die Ekstasen, Schönheiten, die Kraft und Leichtigkeit suchen, die nur in Sprache ist.“ Doch der Anfang nach dem Knast hieß auch: keine Arbeit, kein Geld und Verlust der Freunde. 1989 übernahm Gabriele Stötzer die private Kunstgalerie Galerie im Flur, eine besetzte Wohnung am Erfurter Anger. In zwei weiteren besetzten Häusern entstanden Werkstätten für Fotografie, Malerei, Siebdruck, fürs Töpfern und Weben. Ihr Leben lief schnell und sah für den Moment so aus, als hätte es in seinem Aktionismus das Land um sie herum ausgeschaltet.
Aber der Geheimdienst war da und suchte erneut Beweise gegen sie. Mehr als zwanzig Spitzel waren um sie im Dauereinsatz. Gabriele Stötzer dagegen hatte beschlossen, den „Tanz auf des Messers Schneide“ zu tanzen. Das hieß tägliche Bedrohung und Schikane, das hieß die unsichere Existenz als Künstlerin und offiziell nicht zugelassene Autorin zu leben, vor allem aber hieß es, Kunst zu machen als „außerstaatliche Lebensqualität“, wie sie es nannte. Da waren nicht nur ihre sprachexperimentellen Texte, die in illegalen Zeitschriften kursierten, sondern auch die Performances und Objektshows, politischen Manifeste und Pamphlete, ihre schrillen Punkauftritte und Super-8Filme oder die Zeichnungen und Bilder. Es ging um ästhetische Selbstfindung, um Lust und Spiel, um das Aufbrechen von Isolation, um Inszenierungen autonomer Weiblichkeit unter der Diktatur. Das war Kampfansage und Bühne zugleich.
Im Herbst 1989 katapultierte es Gabriele Stötzer von „des Messers Schneide“ ins Epizentrum der Revolution. Als am 4. Dezember 1989 das Erfurter Stasi-Gebäude gestürmt wurde, war sie eine der Frontfrauen. Die Künstlerin stand auf dem Erfurter Domplatz vor 130.000 Jubelnden und sprach. In der Aufbruchseuphorie kaufte sie zusammen mit zwölf weiteren Künstlerinnen ein marodes Altbauhaus im Zentrum von Erfurt. Das Kunsthaus in der Michaelisstraße wurde zum Avantgarde-Treffpunkt und zur Legende. Heute lebt und schreibt Gabriele Stötzer abwechselnd in Holland und Erfurt.
Es gibt etwas Unteilbares an der Erfahrung. Mit ihr geht es um Identität und Leben, ums Beharren, um Sprache und Ideen, es geht um Zerrissenheiten, Angst, Zweifel, Abgründe und Verlorenheiten. Als Susanne Kerckhoff zehn Jahre nach dem Mauerfall im Jahr 1999 wieder veröffentlicht wurde, mussten sich Leben und Werk gegen diverse Vergessensräume behaupten: zum einen gegen den frühen Terror der DDR, dann gegen die inneren Betäubungen des Ostens nach dem Mauerbau, seine Implosionsgeschichte nach 1989 und nicht zuletzt gegen die Ignoranz des bundesdeutschen Feuilletons. Die Qualität der Texte? Die Referenzlinien des Verschwundenen? Man kannte beides nicht, also war es nicht gut. Die verfemte Gegenwelt der Diktatur fand auch aufgrund dieser Abwehr kaum Eingang ins Gesellschaftsgespräch. Das Verschwundene blieb Leerstelle.
Nun, im dreißigsten Jahr der Deutschen Einheit, kamen nach mehr als siebzig Jahren Susanne Kerckhoffs Berliner Briefe aus dem Jahr 1948 wieder auf den Markt. Ein wichtiges Zeitdokument und in jeder Hinsicht ein Kaliber. Hochverdienstvoll, dass der kleine Berliner Verlag Das kulturelle Gedächtnis die Kerckhoff-Briefe endlich aus dem Vergessen geholt hat. Unverständlich, dass dabei die politische Dimension ihres Werks ein weiteres Mal harsch ausgeblendet wurde. Eine verpasste Chance.
Dennoch scheint sich der Blick gen Osten, hin zu seinen kritischen Stimmen langsam zu weiten und mittlerweile mehr möglich als der geschützte DDR-Bestand. Als Helga Schubert, Jahrgang 1940, zur diesjährigen Bachmann-Preisträgerin gekürt wurde, schrieben die Feuilletons von später Würdigung und von Genugtuung. Das ist ohne Frage richtig. Eine Schriftstellerin, die aus politischen Gründen zu Zeiten der ostdeutschen Diktatur nicht am Bachmann-Preis teilnehmen durfte und nun mit einem starken Text an den Start ging, der gehört das Ding nun mal und die Aufmerksamkeit noch dazu.
Dabei erzählt Helga Schubert jetzt, was und wie sie immer erzählt hat. Über das Ostdeutsche, den endlosen Nachkrieg, die Doppeldiktatur, die Traumata, die Mythen, die oft heillose Familienbande, die mitunter eher Drahtseile sind. Nur würde eine wie die Schubert nie solche Wörter benutzen. Sie ist für das Konkrete und eine Meisterin des Faktischen, Präzisen. Eine, die sich über Jahre in die Archive hockt, um dann ein Buch über Verräterinnen im Nationalsozialismus zu schreiben. Eine, die ihren nahesten Freundinnen in den Alltag blickt, um dann zu sagen: „Wo Leben ist, da ist auch Schmerz“. Die Prosa, die in der Folge entstand, konnte sie seit Mitte der 70er Jahre zumeist veröffentlichen, dabei immer in Distanz zu den Verhältnissen.
Als Psychologin hat Helga Schubert über Jahrzehnte gemeinsam mit ihren Patientinnen im Gefühlscontainer des Ostens gehockt, um nach 1989 zu konstatieren: „Die Sache ist vertrackt“. Sie meinte das Komplexe an Ideologie, an Formiertem, an Schmerz und ließ sich Zeit, um ihr Schreibkonzept zu schärfen, das Geschichte und Gefühl konsequent zusammenführen sollte. Eine Art Nachzeit, ein anderes Zeitmaß.
Doch dann ihr Symboltext „Vom Aufstehen“, mit dem sie den Bachmann-Preis holte. Auf den ersten Blick eine Mutter-Tochter-Kiste, auf den zweiten eine Kriegslandschaft, ein Schlachtfeld des Intimen. Hinter jedem Bild eine Detonation und dabei der Versuch der Autorin, das Zersprengte in der Schrift wieder zusammenzufügen. Helga Schubert ist also zurück mit den Rissen, dem Schweigen, den Missverständnissen, den Löchern, mit dem, was so im Tiefen hockt und nicht wegzugehen gedenkt. Wie auch?
Das Schreibkonzept der Schriftstellerin ist eine Art mimetischer Wundheilung oder auch ästhetisches Gefühlsweben. Sorgsam anschauen, Stück für Stück auseinandernehmen, reinigen, aufheben, sortieren, neu zusammensetzen, integrieren, vermitteln, den genauen Punkt treffen. Das muss man draufhaben, sonst war alles umsonst. Es ist zu hoffen, dass sich in Kürze ein Verlag für die Gesamtausgabe des Schubertschen Werks entscheidet, durch den der Ton eines detonierten Jahrhunderts zieht.
Den zweiten Literaturcoup des Jahres landete die 1949 in die DDR übergesiedelte Elke Erb, die für ihr Gesamtwerk den Büchner-Preis erhielt. Auch sie ein Kriegskind, Jahrgang 1938. Auch sie eine, die die hartnäckigen Ideologieangebote der DDR wie fremde Vögel an sich vorüberziehen ließ. „Ich habe den Verhältnissen gekündigt, sie waren falsch“, schrieb sie schon 1965 lapidar.
Und dann? Was kam nach der Kündigung? Sich die richtigen Verhältnisse bauen und in die Dichtung emigrieren? Leichter gesagt, als getan. Im Nachhinein sieht es nach konsequentem Antikosmos aus, den Elke Erb sich Text für Text da gebaut hat. In poetischer Selbstzeit die eigene, unendliche Welt gegen das Maß des Falschen setzen. An der Sprache bosseln, feilen, friemeln, den „Faden der Geduld“ spannen, die Zweifel, die Einsamkeiten aushalten, weiter schreiben, das Land nach innen hin neu vermessen. Letztlich das übliche Poetenprogramm.
Bei Elke Erb aber formt sich diese Arbeit über drei politische Systeme hinweg. Ihre Haltung, die DDR betreffend, blieb unmissverständlich: Mit einem klaren Nein zur Ausbürgerung von Wolf Biermann und ihren Protesten gegen die Ausschlüsse von Jurek Becker oder Erich Loest aus dem DDR-Schriftstellerverband. Der Eifer der Macht, Elke Erb zur persona non grata zu machen, bekam etwas Atemberaubendes. Aber auch ihre Kunst, sich den Zugriffen immer wieder zu entziehen und trotz Attacken im Osten kontinuierlich zu veröffentlichen.
Elke Erb – eine Poesie zwischen Dada und Mayröcker, zwischen Volkslied und obergäriger Sprachblödelei. Es muht, es zwitschert, es fiept. Tonales Ausatmen oder auch ihre Methode, die Jahrhundertblasen platzen lassen. Dann noch eins drauf geben, das Ganze kurzerhand mal an die Luft hängen oder eben nichts mehr tun, je nachdem. Da ist viel Ulk, Ironie, Trotz, Eigensinn, Herausforderung dabei. Bei Elke Erb darf alles gehen, soll alles möglich sein. „Das Gedicht ist, was es tut“, sagt sie. Das muss halt genügen bei einer Elke Erb, die letztlich nur Elke Erb sein kann. Ein „Risiko“, wie sie sich selbst nennt. Es war letztlich keine Überraschung, dass sie in diesem Jahr den wichtigsten Literaturpreis des Landes erhielt. Überraschend, und das immer wieder, ist nur sie und ihre Poesie.
INES GEIPEL