Wer ist Marine Le Pen?
In den feinen Pariser Salons Hoche in der Nähe des Triumphbogens gab es Standing Ovations von den Fans. Marine Le Pen rief selbstbewusst unter Kronleuchtern dazu auf, „Frankreich wieder in Ordnung zu bringen.“ Mit einem hatte die Chefin des Front National wohl nicht gerechnet: mit einer Störung ihrer Ordnung. Doch plötzlich rannte eine Femen-Aktivistin mit nacktem Oberkörper und der Aufschrift „Marine fiktive Feministin“ durch den Raum. Die in der Tat sehr emanzipiert Auftretende lächelte nur kühl. Die Feme wurde von Ordnungshütern abgeführt.
Von „Kaiserin Merkel“ will sie sich nichts vorschreiben lassen
Die 48-jährige Juristin ist eine moderne, selbstbestimmte Frau, ihre drei Kinder hat sie allein großgezogen und war immer gleichzeitig berufstätig. Doch zu ihrer Parteiideologie passt das Bild einer Frauenrechtlerin nicht, deshalb tauchen Frauenrechte auch nicht im Programm des Front National auf. Stattdessen geht es darum, die Geburtenrate in Frankreich zu erhöhen.
Dennoch bewundern viele Frauen die starke Marine, wie die Franzosen sie nennen. Die Parteichefin konnte den Anteil weiblicher FN-Wähler nach dem Regiment ihres Vaters auf immerhin rund 20 Prozent verdoppeln. Frauenrechte führt Marine gerne im Kampf gegen Islamisten an: „Die Masseneinwanderung wirft die Frauen um Jahrhunderte zurück“, twitterte sie nach den Angriffen in der Silvesternacht 2015 in Köln. Und kürzlich sorgte sie für einen vielbeachteten Eklat bei ihrem Auftritt im Libanon. Die Französin weigerte sich, ein Kopftuch aufzusetzen, um den Großmufti zu besuchen: „Ich werde mich nicht verschleiern!“ Das Treffen mit dem Geistlichen platzte, doch Marine Le Pen hatte ihr Ziel erreicht: Ihre Geste gilt bei vielen als Bekenntnis zur Emanzipation.
Kürzlich traf sie sich mit Mitgliedern ihrer Partei in New York ausgerechnet im Trump Tower zum Kaffee. „Rein privat“ sei der Besuch gewesen, behauptete Le Pen später, doch ihr Ziel hatte sie erreicht: Eine Nähe zum US-Präsidenten zu suggerieren, den sie bewundert. „Donald Trump hält seine Versprechen. Er handelt schnell, stark und im Interesse des Volkes.“
Den Präsidenten Amerikas und die Chefin des Front National verbindet Nationalismus, die Verteufelung der Globalisierung und das Spiel mit Sündenböcken. Le Pen vertrat diese Ansichten schon lange vor Trump und fühlt sich durch dessen Sieg und Großbritanniens Brexit bestätigt. Trump plädiert für America first, Le Pen will Frankreich durch die „Priorité nationale“ wieder stark machen.
„Ich bin die Kandidatin des französischen Volkes“, verkündete sie selbstbewusst. Kein anderer französischer Politiker benutzt so häufig die Worte „Nation“, „Volk“ und „Patrioten“. Die Tochter des Parteigründers befürwortet einen Austritt aus der EU, will ein Referendum zum „Frexit“ und die Rückkehr zur französischen Nationalwährung. „Frankreich zuerst“ bedeutet für sie eine Rückbesinnung auf die Nation und eine Abkehr von der „Euro Diktatur“. Heftig wettert Le Pen, die seit 2004 im EU-Parlament sitzt, gegen den „Brüsseler Imperialismus“.
Marines Anti-Europahaltung ist zunehmend auch mit einer ausgeprägten Deutschlandfeindlichkeit verbunden. Von „Kaiserin Merkel“ will sie sich nicht herumkommandieren lassen und kritisiert sie für ihre Flüchtlingspolitik, sie lege „ganz Europa eine illegale Einwanderung auf, nachdem sie ihm bereits ihre Finanzordnung auferlegt“ habe.
Sie warnt vor einer „Invasion der Barbaren“ und schürt Angst
Die Populistin will die Einwanderung beschränken, warnt vor einer „Invasion der Barbaren“ und setzt damit auf die Angst vieler Franzosen vor muslimischen Zuwanderern. Wie Trump hat sie ihre meisten Anhänger außerhalb der großen Städte, wo die Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg und die Frustration über die Politik besonders groß sind.
Für manche Franzosen ist sie die „Tochter des Teufels“ – für zahlreiche Rechtspopulisten und Rechtsradikale in Frankreich und Europa eine Ikone. Marine Le Pens Aufstieg erfolgte mit Lichtgeschwindigkeit. In nur wenigen Jahren ist sie zur neuen Galionsfigur der Rechten geworden – zur Frontfrau einer Bewegung, die alles, was in Europa an liberaler Rechtsstaatlichkeit und verlässlicher Friedensordnung geschaffen wurde, infrage stellt.
Seit Marine Le Pen am 16. Januar 2011 die Präsidentschaft der Partei von ihrem Vater Jean-Marie Le Pen übernahm, scheint den Front National nichts mehr aufhalten zu können. Die Mitgliederzahl vervierfachte sich auf 84.000 und sogar in der einst linken Elite-Universität Sciences Po gibt es schon einen Fanclub.
Geschafft hat Marine das mit einer kühlen Strategie. Sie hat ihrer Partei einer so genannten „dédiabolisation“ (Entteufelung) unterzogen: Marine ist für das Recht auf Abtreibung, hat nichts gegen die Homo-Ehe, ja sogar einen offen homosexuellen Bürgermeister in ihrer Partei. Vor allem: Sie ist die einzige, die den politisierten Islam bekämpft – dabei unterscheidet sie zwischen Islam und Islamismus. Sie ist keine Antisemitin. Im Gegensatz zu ihrem 88-jährigen Vater, der die Gaskammern noch als „Detail der Geschichte“ bezeichnete. Doch die Kernziele des Front National sind unverändert geblieben, sind geprägt von Nationalismus und Feindbildern, denen sie eine ideale Welt gegenüberstellt.
Bei den Europawahlen 2014 kam es zum Eklat: Jean-Marie Le Pen hatte sich abfällig über den in Algerien geborenen jüdischen Sänger Patrick Bruel geäußert. Der in Frankreich sehr beliebte Künstler engagiert sich gegen Rassismus und hatte, wie andere Künstler auch, erklärt, dass er Frankreich verlassen wolle, wenn der Front National siegte. Jean-Marie Le Pen kommentierte: „Wissen Sie, da machen wir das nächste Mal eine Ofenladung“ – eine unverhohlene Anspielung auf die Vernichtungslager der Nazis. Marine Le Pen distanzierte sich von ihrem Vater, der schimpfte laut über sie: „Ah, sie will die Nabelschnur abschneiden, den Vater töten ...“
Schließlich schloss die Tochter den Vater aus der Partei aus. Ein Großvater ihres Lebensgefährten war übrigens jüdisch.
Um Marine Le Pen zu verstehen, muss man auch ihre Familiengeschichte kennen. Die Geschichte des Aufstiegs des Front National ist auch die Geschichte einer Familie, einer Politdynastie. Und sie ist ebenso die Geschichte eines Familiendramas, unterhaltsamer als jede Seifenoper.
Ihre Familien-
geschichte liefert Stoff für eine Seifenoper
Das erste Trauma ihres Lebens erlebte Marine mit acht Jahren – ein Bombenattentat gegen ihr Elternhaus im bürgerlichen 15. Arrondissement von Paris. Sie beschrieb die nächtliche Explosion in ihrer Autobiografie später als ihren Eintritt in die Politik, die sie „von ihrer gewalttätigsten, grausamsten und brutalsten Seite“ kennengelernt habe. Ein erheblicher Teil des Mietshauses wurde durch die 20-Kilo-Bombe zerstört.
Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt oder getötet. Die Attentäter wurden niemals ermittelt, doch ein Privatdetektiv sagte später, das Attentat sei möglicherweise eine private Rache gewesen, weil Vater Le Pen gerade das 430 Quadratmeter große Anwesen Montretout in Saint-Cloud bei Paris von einem reichen Gönner der Partei geerbt hatte. Dort hielt er danach jahrzehntelang Hof.
Das Bombenattentat war nicht das einzige traumatische Erlebnis für Marine. Als sie am 10. Oktober 1984 aus der Schule kam, sagte ihre vier Jahre ältere Schwester Yann: „Maman ist weg.“ Für Marine ging eine Welt unter. Mutter Pierrette hatte ihren Mann verlassen und war mit einem Journalisten davongelaufen.
Die Eltern lieferten sich drei Jahre lang einen schmutzigen Kampf in der Öffentlichkeit, dabei ließ sich Pierrette sogar einmal nackt und nur mit Schürze bekleidet im Playboy abbilden. „Die nackte Frau Le Pen macht sauber“, stand auf der Titelseite. Vorher hatte Jean-Marie Le Pen erklärt, er gäbe seiner Frau kein Geld, die solle gefälligst arbeiten gehen, „wenn nötig auch als Putzfrau“.
In ihrer Wut und Trauer über die verlorene Mutter wurde der Vater für Marine zu einer Identifikationsfigur. Erst 15 Jahre später versöhnte sich die Familie, und die Mutter zog in ein kleines Haus auf dem Grundstück des Anwesens der Le Pens in Saint-Cloud, wo Marine bis heute lebt.
Alle drei Le-Pen-Töchter waren dem Front National immer eng verbunden und suchten sich ihre Männer in der Partei. Marines Lebensgefährte, der Jurist Louis Aliot, ist der Vize der Partei. Der Front National ist ein „Front familial“, heißt es in Frankreich.
Marine passte perfekt in die Fußstapfen des Vaters. Als Jura-Studentin an der erzkonservativen Pariser Universität Panthéon-Assas, die auch ihr Vater besucht hatte, kamen viele ihrer Freunde, mit denen sie Partys feierte, aus dem rechten Milieu. Als Anwältin war sie für ihre brillanten Plädoyers bekannt. Doch alle Versuche, sich nach dem Examen eine Karriere aufzubauen, schlugen fehl wegen ihres Namens. Schließlich bekniete sie 1998 ihren Vater, eine Rechtsabteilung in der Partei aufzubauen, mit ihr als Chefin.
Damals war Marine gerade mit ihrer ersten Tochter schwanger. Ein Jahr darauf bekam sie Zwillinge, vom Vater der Kinder trennte sie sich schnell.
Der Aufstieg der jüngsten Le-Pen-Tochter begann am 5. Mai 2002, dem zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen, die ihr Vater verlor. Sie musste die Ergebnisse im Fernsehen kommentieren und wirkte selbstsicher, aber nicht aggressiv.
Marine wurde über Nacht zum Star, gilt seither als „telegen“ und „publikumswirksam“. Bei einer TV-Sendung, zu der sie die farbige Moderatorin nach Hause einlud, plauderte sie über ihre Liebe zu Blumen, verriet Kochrezepte und dass sie gern Champagner trinkt. Auf ihrem Blog postet sie Fotos mit Katzen oder von Abendessen mit Freunden.
„Lügenpresse“ - ein bevorzugter Ausdruck von Marine
Lorrain de Saint Affrique, ein Berater ihres Vaters, beschrieb sie so: „Ihre wirkliche Natur ist es, zu befehlen und zu verlangen. Bekommt sie nicht, was sie will, steigert sie sich in zerstörerische Wut.“ Einen Einblick in diese Seite ihres Charakters gab Marine kurz nach Enthüllungen über Offshore-Geschäfte des Front National. Sie bezeichnete diese als „einen Haufen Exkremente“ und beschimpfte die Journalisten.
„Lügenpresse“ ist ein bevorzugter Ausdruck von Marine Le Pen, die Medien sind für sie ebenso wie Frankreichs Politiker „Teil der Elite“ und des „Systems“, gegen das sie protestiert.
Marine beschuldigt die etablierten Parteien, die gesamte französische Elite, mit Schuld am Abstieg ihres Landes zu sein. Den Front National inszeniert sie als eine Partei, mit der sich die Armen und Rechtlosen identifizieren können und tritt damit an die Stelle der einst mächtigen Linken als Fürsprecher des Volkes. Die Krise Europas und eine in den Augen vieler aus den Fugen geratene Welt scheinen ihr recht zu geben.
Heute ist Marine Le Pen weit über ihre Parteigrenzen hinaus durchaus geachtet und beliebt. Auch viele Franzosen wollen es „dem Establishment zeigen“. Es ist also nicht auszuschließen, dass Marine Le Pen am 7. Mai zur Präsidentin Frankreichs gewählt wird. Nur eine Koalition aller Gegner des Front National – die sich allerdings untereinander keineswegs immer einig sind – könnte das noch verhindern.
Tanja Kuchenbecker
Von der Paris-Korrespondentin erschien gerade "Marine Le Pen - Tochter des Teufels" (Herder).