Vergessen, was Krieg bedeutet?

Friedensaktivist Hans-Peter Waldrich: "Die computergestützten Frühwarnsysteme könnten sich selbstständig machen!" - Foto: Bettina Flitner
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Liebe Freundinnen und Freunde des Friedens!

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Vom Letzten Staatspräsidenten der Sowjetunion, Michael Gorbatschow, gibt es einen wunderbaren Begriff: Das gemeinsame Haus Europa. Das gemeinsame Haus Europa. In dieses Haus ist eingebrochen worden. An den Fronten massakriert sich die ukrainische und die russische Jugend, im Hinterland wird zerstört, getötet und vergewaltigt.

Das muss beendet werden. Jeder Tag, den der Krieg noch länger dauert, produziert weitere Leichenberge.

Aber es gibt ein sehr ernstes Problem: Das Haus, in dem nun die Einbrecher wüten, ist vollgestopft mit Atomwaffen. Vom Keller bis zum Dachgeschoss lagern hoch moderne Hightech-Waffen, die in den Planungen der Militärs in Ost und West eine wichtige Rolle spielen. Die Russen sind stolz auf diese Waffen, in Deutschland werden Nuklearwaffen im Rahmen der so genannten „nuklearen Teilhabe“ gerade modernisiert. Auch von außerhalb Europas zielen Atomsprengköpfe auf unsere Städte, zum Beispiel auch auf Berlin. Das ist eine extrem brenzlige Situation.

Was würden Sie tun, wenn Sie in einem Haus wie Europa, das eher einem Pulverfass gleicht, einem überfallenen Land helfen wollen? Sicher würden Sie vorsichtig sein. Sie würden kein offenes Feuer anzünden und auf einen unkontrollierbaren Schusswechsel verzichten. Sie wollen ja helfen und keine Katastrophe anrichten.

Die Story der atomaren Abschreckung ist ein Ammenmärchen!

Aber wir haben doch die Abschreckung! höre ich es rufen. Wegen der atomaren Abschreckung sind wir doch sicher. Und Putin droht doch nur mit Atomwaffen, um uns zu erpressen. Welcher Angsthase wird denn auf einen solchen Bluff hereinfallen! Wissen Sie was: Die Story von der atomaren Abschreckung ist ein Ammenmärchen! Damit beruhigen sich Leute, die nichts von der Sache verstehen. Zum Beispiel Frau Baerbock oder Herr Pistorius, unser neuer Verteidigungsminister. Kein wirklicher Experte der atomaren Abschreckung hat jemals behauptet, dass Abschreckung sicher und für alle Zeit funktionieren wird. Eher im Gegenteil.

Lassen Sie mich etwas Persönliches sagen. Vor bald vierzig Jahren war ich sehr aktiv in der damaligen Friedensbewegung engagiert. Die weltweite Friedensbewegung war mit die Ursache dafür, dass der Kalte Krieg zu Ende ging. Wir alten Friedensbewegten sind immer noch stolz darauf, dass wir daran mitgearbeitet haben. 1982 demonstrierten 350 000 Menschen in Bonn, im Londoner Hydepark waren es 300 000, in Amsterdam 400 000, in Rom 500 000 und in New York fast eine Million. 1983 gab es eine Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm. Bei Neu-Ulm befand sich ein Atomwaffenstützpunkt. Stellen Sie sich vor: Eine ununterbrochene Kette von Menschen, die sich alle an den Händen fassten über 108 Kilometer. Teilweise stand die Kette zweireihig, so viele Menschen machten mit. Alle wollten nur eines: Die Gefahr der atomaren Bedrohung beseitigen. Endlich Schluss mit einem Leben am Rand des atomaren Todes!

Das war damals. Damals wussten die Menschen noch, wie gefährlich Atombomben sind und dass sie jederzeit losgehen können. Heute wissen sie das nicht mehr. Mir kommen die Politikerinnen und die Politiker wie blinde Traumtänzer vor. Mit verbundenen Augen tanzen sie auf einem Vulkan. Auch die Journalistinnen und Journalisten der großen Medien scheinen keine Ahnung mehr vom Ausmaß der Gefahr zu haben.

PolitikerInnen und Medien haben keine Ahnung mehr von der Gefahr!

Ist das nicht  fahrlässig? Darf man so mit uns Bürgerinnen und Bürgern umspringen? Darf man uns alle in ein Abenteuer der Gewalt verwickeln, das in einer unvorstellbaren Katastrophe enden kann? Wie wahnsinnig muss man eigentlich sein, wenn man Bürgerinnen und Bürger, wenn man Europäerinnen und Europäer und nicht zuletzt die Ukrainer selbst einem tödlichen und unverantwortbaren Risiko aussetzt! 

Es handelt sich ja nicht bloß um das Risiko, dass Russland, wenn die Ukraine tatsächlich vor einem Sieg stehen sollte, fast sicher atomar reagieren wird. Vor Kurzem hat die Gesellschaft für Informatik in einem offenen Brief auf ein ganz anderes Risiko hingewiesen. Sie hat dringend davor gewarnt, die computergestützten Frühwarnsysteme könnten sich selbstständig machen.  Das ist schon mehrfach – fast  –  passiert. Die Frühwarnsysteme sollen vor einem atomaren Überraschungsangriff warnen.  Die Vorwarnzeiten sind unterdessen so kurz, dass sowohl die Rechner wie auch die Menschen überfordert sind. Es geht um Minuten.

Die Gesellschaft für Informatik warnt: Je länger sich der Ukrainekrieg hinzieht, desto leichter kann es zu Irrtümern der Frühwarnsysteme kommen. Das gegenseitige Misstrauen verstärkt die Wahrscheinlichkeit von Fehlinterpretationen. Ein Atomkrieg aus Versehen könnte ausbrechen. Die Informatiker wissen, wovon sie reden. Frau Baerbock weiß es nicht. Sie spielt mit unser aller Leben! Herr Scholz mag es wissen, aber er traut sich nicht, hier Einhalt zu gebieten. Er muss erst Herrn Biden fragen. Ohne die USA läuft für ihn nichts.

Ein Atomkrieg könnte ausbrechen. Frau Baerbock spielt mit unser aller Leben!

Die Gesellschaft für Informatik warnt auch vor weiterer Eskalation, die durch unbegrenzte Waffenlieferungen anheizt wird. Eskalation ist ein Weltkriegs- und Atomkriegsrisiko. Artilleriewaffen, Schützenpanzer, Kampfpanzer –, bald auch Kampfjets, Langstreckenraketen, Kriegsschiffe, U-Boote und so weiter und so weiter. Die Eskalation findet kein Ende.

Das Anheizen des Kriegs ist zugleich ein Austesten, wann die rote Linie überschritten wird und sich der Krieg auf Europa und die Welt ausweitet.  Niemand weiß, wo sich die rote Linie befindet. Die westliche Politik scheint es herausfinden zu wollen. Sie testet aus, was passiert, wenn man die rote Linie übertritt.

Hat sich Frau Baerbock deshalb neulich begeistert die Atombunker angeschaut, die sich unter Helsinki befinden? Wird deshalb bedauert, dass Deutschland nicht ebenso schöne Bunker hat? Auch das zeigt die Verantwortungslosigkeit der Politikerinnen und Politiker. Vielleicht kann man einen Atomkrieg im Bunker überleben. Aber weiterleben, nachdem man aus ihm herausgekrochen ist, das kann man nicht.

Mein Appell an alle politischen Ignoranten und Liebhaber von Atombunkern: Nehmt euch bitte die Zeit und studiert die aktuellen wissenschaftlichen Studien zu den Folgen eines Atomkriegs! Auch so genannte „kleine“ Nuklearkriege werden zu einer Verfinsterung der Atmosphäre führen, die man nuklearen Winter nennt. Wer die Atombunker verlassen hat, findet nichts mehr zu essen. Das Klima ist endgültig kaputt. Ärzte, die helfen könnten, sind auch keine da.

Überlebende der Hiroshima-Katastrophe berichteten, dass die Menschen, während sie starben, nur noch nach Wasser schrien. Aber sie bekamen keines. Herr Scholz, Frau Baerbock: Hätten Sie die Gnade, sich einen solchen Horror einmal vor Augen zu führen?

Es ist ja keine Frage, dass den kriminell überfallenden Urkrainerinnen und Ukrainern geholfen werden muss. Wer würde sich einer Hilfe verweigern, die mehr als notwendig ist? Aber es stellt sich die Frage, was die richtige Hilfe ist und was die falsche. Darüber muss endlich ernsthaft diskutiert werden. 

Wie lange wird diese Gefahrenblindheit noch andauern?

Als Aktivist der alten Friedensbewegung bin ich entsetzt, wie rechthaberisch heute auf jeden eingedroschen wird, der Frieden verlangt und die Eskalation für gefährlich hält. Viele haben den Kopf tief in den Sand gesteckt oder laufen mit Scheuklappen herum. Wie lange wird diese Gefahrenblindheit noch andauern? Wie lange noch werden diejenigen nieder gemacht, die sich dieser Blindheit verweigern?

Ich will abschließen, indem ich eine entscheidende Frage stelle: Wie kann den völkerrechtswidrig überfallenen Ukrainern wirklich geholfen werden? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst einmal wissen, was absolut falsch ist.

  • Falsch ist es auf jeden Fall, den Krieg mit Zielsetzungen fortzusetzen, die unklar, verschwommen oder unrealistisch sind.
  • Falsch ist es unter solchen Voraussetzungen, Öl ins Feuer zu gießen, indem man zu einer mörderischen Eskalation beiträgt.
  • Falsch ist es, das sinnlose Sterben zu verlängern, indem man jede Menge Tötungsgeräte und Mordwerkzeuge liefert.
  • Falsch ist es aber vor allem – und darauf kommt es mir besonders an  –, ein für die Ukrainerinnen und Ukrainer, für die Deutschen und Europäer, ja für die Menschen der ganzen Welt untragbares Risiko zu provozieren. Weltkrieg wäre Völkermord! Atomkrieg wäre Völkermord!

Auf keinen Fall darf die Hilfe, die wir den Ukrainerinnen und Ukrainern anbieten, eine schlimmeres Desaster anrichten, als dasjenige, das sowieso schon da ist. Eine Notoperation darf nicht den Patienten töten oder gar das Operationsteam und die Klinik in die Luft jagen. Wenn so vieles falsch ist, was wäre dann richtig? In einem Munitionslager herum zu schießen, macht keinen Sinn. Also sollte man mit dem Schießen aufhören. Wir brauchen einen Waffenstillstand. Anschließend brauchen wir Friedensverhandlungen.

Warum denn sollte es ganz unmöglich sein, dass eine groß angelegte internationale Friedensinitiative zu einem Erfolg führt? Deutschland und vielleicht Frankreich könnten Präsident Biden bitten, darauf hinzuwirken. Dieser könnte den Generalsekretär der UNO António Guterres mit ins Boot holen. Brasilien würde sich anschließen, Südafrika, vielleicht Indien und vor allem China, das selbst schon eine Initiative angekündigt hat.

Auch wenn niemand prophezeien kann, was bei solchen Verhandlungen herauskommt – besser als ein Weltkrieg oder eine atomare Katastrophe wird das Ergebnis mit Sicherheit sein. Wir brauchen Mut, es mit dem Frieden zu versuchen. Krieg ist etwas für Feiglinge. Für Leute, die nicht die Courage haben, Aufgaben so anzupacken, wie sie realistisch angepackt werden müssen.

Für das Leben!
Für die Schonung dieses Planeten!
Für ein gemeinsames Haus Europa!
Endlich Frieden schaffen!

Ich danke Ihnen.

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