Vergewaltigung als Kriegswaffe
Michail Romanow ist ein 32-jähriger Vater, Ehemann und Soldat der russischen Armee. Im Frühjahr 2022 drang er in ein Haus im Kiewer Stadtteil Browary ein, tötete den Besitzer des Hauses und vergewaltigte dann die Frau, die er soeben zur Witwe gemacht hatte. Das Verbrechen zog sich über Stunden. Romanows eigenes Kind ist ebenso alt wie der Sohn der Opfer. Er weinte zum Zeitpunkt der Tat im Zimmer nebenan.
Im Mai 2022 wurde in der Ukraine gegen Romanow in Abwesenheit Anklage wegen Vergewaltigung erhoben. Die Anklage war die erste ihrer Art, und die Aufklärung der russischen Grausamkeiten steht erst am Anfang. Die Truppen, die die Ukraine angriffen, haben sich im Land systematischer sexueller Gewalt gegen Zivilisten aller Altersgruppen schuldig gemacht, unabhängig vom Geschlecht. Außenpolitische Beobachter und Forscherinnen berichten, dass sie Beweise für Taten haben, die in ihrer Grausamkeit mit den Kriegen in Bosnien und Ruanda vergleichbar sind.
Viele Vergewaltigungen fanden öffentlich statt. Die russischen Soldaten begingen ihre Verbrechen auf der Straße oder in Wohnungen. Eltern wurden gezwungen, sich die Vergewaltigung ihrer Kinder, und Kinder, die Vergewaltigung ihrer Eltern anzusehen. Manche Opfer wurden zu Tode vergewaltigt.
Sexuelle Gewalt traumatisiert und zerstört ganze Gemeinschaften
Sexuelle Gewalt traumatisiert und zerstört ganze Gemeinschaften und Familien für Generationen, sie verändert die Bevölkerungsstruktur des Gebiets. Deshalb ist sie ein so beliebtes Mittel der Eroberung, und deshalb setzt Russland diese uralte Waffe immer noch ein.
Im Fall der Ukraine muss man fragen, ob Russland die Vergewaltigung auch als Instrument des Völkermords einsetzt. Der polnisch-jüdische Rechtsanwalt Raphael Lemkin, Absolvent der Universität Lwiw (früher Lemberg), entwickelte eine Theorie des Völkermords, als er in den 1930er Jahren vor den antisemitischen Pogromen flüchten musste. Erstmals verwendete er das Wort Genozid im Jahr 1943. Der Begriff wurde ein wichtiger Teil bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen sowie der von den Vereinten Nationen formulierten Völkermordkonvention, die 1948 in Kraft trat. Nach Lemkin ist der Völkermord keine einzelne Handlung, sondern ein Prozess, der planvoll auf die Vernichtung von Lebensformen und deren Grundlagen abzielt, die für einen bestimmten Teil der Bevölkerung unverzichtbar sind, wobei das letztendliche Ziel die Vernichtung dieser Menschengruppen ist.
Ein Völkermord bedeutet nicht unbedingt, dass getötet wird: Es gibt vielerlei Arten der Vernichtung. Wenn die anderen Maßnahmen zur Vernichtung der Gruppe nicht wirksam sind, „kann man das Maschinengewehr als letztes Mittel einsetzen“. Zuvor bemüht man sich, die Kultur, die Sprache, das Nationalgefühl, die Religion und die Institutionen, die Sicherheit, die Freiheit, das Selbstwertgefühl und die Gesundheit zu zerstören, damit die Zielgruppen „verdorren und absterben wie eine befallene Pflanze“.
Im Falle Russlands ist die Intention des Völkermords schon in den Reden der Staatsführung und durch die Medien deutlich geworden: Die Behauptungen, die Ukraine sei kein Staat und die Ukrainer gebe es gar nicht, werden ständig wiederholt. Auch in den Äußerungen der Soldaten, die sich sexueller Gewalt schuldig gemacht haben, wiederholen sich die rhetorischen Floskeln, die zu den Merkmalen des Völkermords gehören. So haben die Soldaten beispielsweise gesagt, sie würden vergewaltigen, bis das Opfer auch keinen Sex mit einem Ukrainer mehr haben will. Und wenn die Täter ukrainische Kriegsgefangene kastrierten, begründeten sie das damit, dass die Männer nun keine Kinder mehr bekommen könnten. (…)
Meine Großtante blieb ihr Leben lang kinderlos. Auch wenn man das, was sie erlebt hat, heute vielleicht nicht als genozidale Vergewaltigung definieren könnte, so ändert das doch nichts an der Tatsache, dass sie niemals eine Paarbeziehung hatte und nicht heiratete. Ihre Mutter hatte acht Kinder zur Welt gebracht. Der Bruder meiner Großmutter verlor den Verstand, nachdem er gesehen hatte, wie seine Freunde im Sumpf ertranken, als sie vom Nationalen Komitee für Inneres der Sowjetunion, dem NKWD, gehetzt wurden. Er starb bald darauf. Nur einer der Brüder überlebte die Anfangsjahre der sowjetischen Besatzung, und seiner einzigen Tochter gelang es, aus dem Land zu fliehen. Von den acht Geschwistern bekamen nur wenige Nachwuchs. Das hat die Sowjetmacht bewirkt. Die Geburtenrate Sowjet-Estlands war eine der niedrigsten in der Sowjetunion.
Sie vernichten unsere Fähigkeit Kinder zu bekommen, sie vernichten unsere Libido
Viele ukrainische Frauen mussten erleben, dass die von der russischen Armee ausgeübte sexuelle Gewalt einen Einfluss darauf hatte, wie sie ihre Weiblichkeit erlebten, auch diejenigen, die heute außerhalb der Ukraine leben. So hat eine von ihnen mir erzählt: „Alle Berührungen, sogar Umarmungen, sind für mich qualvoll. Mein Sexualleben pausiert. Meine Libido ist verschwunden. Ich habe es ein paarmal versucht, aber das endete nur in Tränen. Ich kann nicht vergessen, dass Sex zu einem Mittel der Gewalt geworden ist. Das ist fürchterlich. (…) In Wirklichkeit ist unser Feind jener elende Kerl, der die allerintimste Sache in unserem Leben vernichten will. Er denkt: Wir können euch nicht besiegen? Dann vernichten wir eure Fähigkeit, Kinder zu bekommen, wir vernichten eure Fähigkeit, euch in einer nächsten Generation fortzusetzen, wir vernichten die Kontinuität eurer Vorfahren.“
Sexuelle Gewalt in Konfliktgebieten ist viel mehr als nur Vergewaltigung. Dazu gehören auch die Androhung sexueller Gewalt, die Misshandlung schwangerer Frauen, der Zwang, sich auszuziehen, das Abschneiden der Haare, die Gewalt gegen die Geschlechtsorgane. All dies betrifft auch Männer. Diese Erfahrungen sexueller Gewalt werden niemals vergessen werden, auch nicht von den Augenzeugen und von jenen, die die Situation aus der Ferne beobachtet haben. Eine über 70-jährige Freundin von mir war ein Kind, als ein russischer Soldat ihre Mutter in ihrer Wohnung im Zimmer nebenan vergewaltigte. Meine Freundin kann noch immer nicht die russische Sprache hören, ohne Angst zu empfinden. Russland hat sexuelle Gewalt zu einer Waffe und zu einem Abschreckungsmittel über Geschlechter und Nationalitäten hinweg gemacht.
Während des Kalten Krieges wurde das „Gleichgewicht des Schreckens“ zu einem bekannten Terminus. Mit sexuellem Schrecken kann man jedoch kein Gleichgewicht erzielen, und deshalb hat Russland daran Gefallen gefunden. Dies ist eine Abschreckung, die der Westen nicht mit gleichem Maß heimzahlen kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir auf das Abschreckungsmittel der sexuellen Gewalt mit Schweigen oder Gleichgültigkeit reagieren dürfen, denn das würde nur den Interessen Russlands dienen – und zugleich den Diktatoren und Kriegsherren anderer Länder, die mit scharfem Blick verfolgen, was für Reaktionen Russlands Agieren hervorruft.
In Shakespeares Schauspiel „Titus Andronicus“, einer seiner ersten Tragödien, wird die Königstochter Lavinia vergewaltigt. Damit Lavinia die Schuldigen nicht verraten kann, schneiden die Vergewaltiger ihr die Zunge ab und brechen ihr zur Sicherheit auch noch die Hände, damit sie damit nicht auf die Vergewaltiger zeigen kann. Ähnlich bemüht sich die Russische Föderation, die Opfer ihres Terrors zum Schweigen zu bringen. Sie setzt viele Mittel ein, so beispielsweise die Beschuldigung der Opfer. Das Mittel ist effektiv, denn es bewirkt die mit der sexuellen Gewalt weltweit einhergehende Stigmatisierung durch Schande und Schuldhaftigkeit.
Manche Leute vermuten, dass das Sprechen über die Vergewaltigungen zu deren Eskalation führen würde, und dass das Verschweigen deshalb die Taten verhindern würde. Meine Großtante hat nicht erzählt, was ihr widerfahren war. Viele schwiegen über die Verbrechen der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Viele schwiegen darüber während der Kriege in Tschetschenien und in Syrien. Viele schwiegen darüber auf der Halbinsel Krim und auf den Gebieten der Marionettenstaaten der Ostukraine, die seit 2014 von Russland beherrscht werden.
Das hat die russische Armee nicht daran gehindert, dieselben Verbrechen wieder zu begehen
Zur Zeit meiner Großtante gab es kein öffentliches Gespräch über sexuelle Gewalt, und das wäre unter der sowjetischen Besatzung auch gar nicht möglich gewesen, ebenso wie es auch jetzt unter der russischen Besatzung in der Ukraine nicht möglich ist. Anderswo wäre es durchaus möglich, und trotzdem ist es im Gespräch über den Krieg und über Russland immer noch marginal, dass die Erfahrungen derjenigen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, in Worte gefasst werden.
Sexuelle Gewalt kann sich lebenslang auf die Gesundheit der Opfer auswirken
Als Beth Rigby von Sky News im November 2022 Olena Selenska interviewte, fragte sie gleich zu Beginn des Gesprächs nach der Anzahl der von der russischen Armee verübten Vergewaltigungen. In Interviews zum Thema sexuelle Gewalt im Krieg ist diese Frage üblich. Die Anzahl der einzelnen Vergewaltigungen sagt jedoch nichts aus über die Verbreitung oder die Auswirkungen des Phänomens. Sie sagt nichts darüber aus, auf wie viele Menschen sich diese Taten mittelbar auswirken. Sie sagt nichts aus darüber, in welchem Ausmaß sie sich auf Lebensentscheidungen oder Arbeitsfähigkeit wie vieler Menschen auswirken. Sie sagt nichts darüber aus, wie groß die Anzahl derjenigen Personen ist, deren gesellschaftliche Teilhabe erschwert ist. Sie sagt nichts aus über die Frauen, die ihre Stimme verlieren wie meine Großtante – oder über diejenigen, die danach ihre Kleidung nach dem Gesichtspunkt aussuchen, in welchem Maße sie den Körper bedeckt. Sie sagt nichts aus über die Ukrainerinnen, die ihre Töchter als Jungen verkleiden. Und sie sagt nichts über die Frau aus, die in ihrer Wohnung Eimer mit Exkrementen bereithält, um damit ihre Töchter und sich selbst zu übergießen, wenn die russischen Soldaten näher rücken.
Die Anzahl sagt nichts aus über die verlorene Generation, über die Kinder, die die zum Opfer von Vergewaltigung gewordenen Frauen niemals bekommen werden. Sie sagt nichts aus über die ukrainischen Frauen, die die Nähe ihrer Männer wegen all dem meiden, was anderen Frauen in der Ukraine passiert ist. Sie sagt nichts aus über die Frauen, die von ihrem Mann verlassen werden, nachdem er von dem Geschehenen erfahren hat.
Die Anzahl sagt nichts aus darüber, wie viele Frauen schuldlos mit HIV infiziert wurden oder bis an ihr Lebensende unter Schilddrüsenproblemen leiden. Und das sind nicht die einzigen physischen Probleme. Sexuelle Gewalt kann sich das ganze Leben lang auf die Gesundheit der Opfer auswirken.
Schwierig ist es darüber hinaus, die Anzahl der Vergewaltigungen festzustellen, weil die Frauen nicht immer in der Lage sind anzugeben, wie oft die Tat an ihnen vollzogen wurde und wie viele Vergewaltiger es waren. Die Anzahl der Vergewaltiger kann so hoch sein, dass die Frauen ihre Fähigkeit zu zählen verlieren. Die Taten können Tage, Wochen, Monate, Jahre dauern. Die Frauen sind während der Taten nicht immer bei Bewusstsein, sie können unter Drogen gesetzt worden oder in einem Keller eingesperrt gewesen sein. Ihr Kopf kann mit einem Sack oder einer Kapuze bedeckt gewesen sein. (…)
Die ersten Urteile wegen Vergewaltigung als Kriegsverbrechen wurden in der Moderne im Jahr 1998 beim Ruanda-Tribunal im Zusammenhang mit der Verhandlung der Massenvernichtung gefällt. Die Prozesse zu den Völkermorden auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens und in Darfur trugen ihrerseits dazu bei, juristische Instrumente zu entwickeln, und sie vermehrten das Wissen über die Folgen sexueller Gewalt. Dennoch wurden unverhältnismäßig wenige Urteile gefällt, wenn man bedenkt, wie häufig dieses Kriegsverbrechen vorkommt und obwohl das Verständnis dafür, wie die Vergewaltigung beim Völkermord eingesetzt wird, zugenommen hat.
Nur ein kleiner Teil der Verbrechen führt zu Anklage
Die geringe Anzahl der Urteile muss man dem Mangel an politischem Willen anlasten. Sexuelle Gewalt wird nicht als ein ebenso schweres Kriegsverbrechen angesehen wie andere Kriegsverbrechen. Immer gibt es ein Verbrechen, dessen Verurteilung sicherer ist.
Nur ein Teil der Verbrechen führt zu einer Anklage. Und der Mangel an politischem Willen führt zu Entscheidungen, bei denen sich diejenigen, die sich sexueller Gewalt schuldig gemacht haben, leichter aus der Schlinge ziehen können. Deshalb ermöglicht die Straflosigkeit für diese Taten auch künftig deren Einsatz als Kriegswaffe.
Der politische Wille wird durch die Einstellungen und Äußerungen von Menschen beeinflusst, deren Ausformung von den Nachrichten beeinflusst wird. Die sexuelle Gewalt war als Thema niemals ebenso wichtig wie die anderen Ereignisse, und in der Kriegsliteratur ist sie ein unterrepräsentiertes Thema. Christina Lamb hat (im Buch der englischen Kriegsreporterin: „Our Bodies, Their Battlefield. What War does to Women“, Anm.d.Red.) berichtet, dass ihre Reportagen über sexuelle Gewalt wegen ihres Inhalts eine Triggerwarnung bekommen oder in den Redaktionen als zu bedrückend für das Publikum kommentiert werden. Aufgabe der Presse ist es jedoch nicht, uns vor störenden Dingen zu schützen, sondern davon zu berichten. Den Blick abzuwenden ist nicht Recht, sondern etwas, was künftige Kriegsverbrechen ermöglicht, denn „der Krieg tötet in den Händen der Gleichgültigen“.
Der politische Wille wird auch davon beeinflusst, als was für eine Art von Verbrechen die Vergewaltigung angesehen wird. Nur allzu oft wird die Sicht noch von den alten Mythen der „Triebe der Männer“ geprägt. Das Buch von Susan Brownmiller „Against Our Will – Men, Women and Rape“ erschien 1975 in den USA und war eines der ersten, in denen Vergewaltigung nicht als Verbrechen aus Leidenschaft, sondern als Kriegstaktik und politisches Problem behandelt wird. Es kommt jedoch immer noch vor, dass es im Kino oder in der Literatur und Kunst als solches dargestellt wird. Die alten Mythen leben fort, weil unsere Kultur von ihnen durchdrungen ist.
Trotz der alten Vorurteile ist die Lage besser als jemals zuvor seit Beginn unserer Zeitrechnung. Die Straftatuntersuchung hat sich entwickelt, und die bei den Kriegsverbrechen verwendeten Dinge sprechen zu den Ermittlern anders als vor Jahrzehnten. In der Ukraine werden die Menschen geschult, und ihnen wird das Wissen vermittelt, welche Art von Material sich als Beweis vor Gericht eignet, und wie das Videomaterial, das als Beweismittel geeignet sein soll, aufzunehmen ist. Die anonyme Lieferung von Material über das Internet ist auch auf dem Gebiet der Russischen Föderation möglich. Die Juristinnenvereinigung JurFem ist mit dem Großangriff Russlands zu einem Unterstützungs- und Beratungszentrum für Menschen geworden, die sexuelle Gewalt und Geschlechterdiskriminierung erfahren haben. Zahlreiche Organisationen von Freiwilligen verteilen kriminaltechnische Reisepackungen an die Bürgerinnen und Bürger.
Opfer müssen sichtbar gemacht werden, für sie gibt es keine Denkmäler
Bei den Sexualverbrechen ist gerade das Fehlen von Beweisen ein wesentliches Hindernis, wenn es gilt, die Täter zur juristischen Verantwortung zu ziehen. Doch in der Ukraine ist die Sicherung von Beweisen und die Berichterstattung über die Verbrechen sofort angelaufen, dank moderner Technologie und Smartphones. Dergleichen ist in der Geschichte der Vergewaltigung im Krieg noch nie dagewesen. Deshalb ist es möglich, die Verbrechen aufzuklären, während die Kämpfe noch im Gang sind. Die Zeit für die Aufklärung der Kriegsverbrechen ist jetzt.
Die Geschichten der Opfer, die an die Öffentlichkeit gelangen, sind nur die Spitze des Eisbergs.
Für eine erfolgreiche Aufklärung und Behandlung von Sexualverbrechen ist es von wesentlicher Bedeutung, dass die Anzahl von Ärztinnen, Psychiaterinnen, Forscherinnen, Journalistinnen und Richterinnen steigt. Frauen können die Anzeichen einer Vergewaltigung besser lesen, den Opfern fällt es leichter, das Erlittene zu erzählen. Frauen nehmen diese Dinge ernster.
Eine Form des Rechts ist es, den Opfern zuzuhören und ihnen Respekt zu erweisen. Dass man sie sichtbar macht, dass man sich ihrer erinnert. Für die Opfer von Sexualverbrechen gibt es keine Denkmäler, keine Briefmarken, nach ihnen werden keine Straßen benannt, und es gibt für sie keinen Gedenktag. Ihnen zu Ehren wird nicht geflaggt. Sie werden nicht in der Weise geehrt, wie man heldenhafte Soldaten ehrt. Doch Ehrung ist Recht.
Die ersten Schlagzeilen über die Kriegsverbrechen Russlands im Frühjahr 2022 schockierten die Welt. Viele fragten, was für Menschen die Russen eigentlich seien. Auf Twitter fragte einer meiner Follower: „Ich verstehe nicht, warum Russland in der Ukraine Entbindungskliniken bombardiert und Zivilisten vergewaltigt. Warum tun sie das? Versteht das jemand?“
Die einfache Antwort auf diese Frage ist, dass Russlands Armee keine ausreichende professionelle Kampffähigkeit besitzt. Unbewegliche Ziele lassen sich leicht treffen, und eine Vergewaltigung fordert von einem Berufssoldaten weder Kampffähigkeit noch Kampfausrüstung. Der sexuellen Gewalt haben die Soldaten sich in den Privatwohnungen der Opfer, auf öffentlichen Plätzen und in Kellern, in illegalen Verhaftungszentren und Filtrationslagern schuldig gemacht. Die Opfer waren sowohl Zivilisten als auch Kriegsgefangene.
Die schwache Kampfkraft der russischen Armee erklärt jedoch nicht, dass ein Soldat solche Verbrechen begeht. Die Hintergrundfaktoren dafür sind erheblich komplizierter. Völkermorde entstehen nicht aus dem Nichts, im Krieg werden Zivilistinnen und Zivilisten nicht aus Versehen systematisch vergewaltigt. Russland hat eine lange, Kriegsverbrechen ermöglichende Geschichte. Das, was aus westlicher Sicht unlogisch, irrational und dumm wirkt, wie etwas, das man weder mit dem Verstand noch mit dem Herzen nachvollziehen kann, ist aus Moskauer Sicht rationales Vorgehen und hat eine Kontinuität in der Art und Weise, wie Russland Herrschaft ausübt.
Sexuelle Gewalt gehört zu den ältesten Waffen der Welt, denn sie ist billig, effizient, in ihrer Wirkung geschlechtsübergreifend, und sie erfordert weder Logistik, noch Technik, noch Modernisierung. Dennoch ist die Kultur der Straflosigkeit nicht Bestandteil einer jeden Armee, obwohl solche Kommentare zu hören waren, nachdem die Kriegsverbrechen, die Russland in der Ukraine begangen hat, allmählich ans Tageslicht kamen. Der Historiker Antony Beevor hat die Vergewaltigungen, die die Rote Armee in Deutschland begangen hat, als die größte Massenvergewaltigung unserer Geschichte bezeichnet. Sofi Oksanen
Der Text ist ein Auszug aus Sofi Oksanen: Putins Krieg gegen die Frauen. Übersetzung: Angela Plöger/Maximilian Murmann. Das Buch ist am 8. Februar 2024 erschienen. - Alle Bücher von Oksanen bei Kiepenheuer & Witsch.