Die ganze Welt hat weggesehen
Es war eine Zeit ohne Gesetz und Glauben. Das Land versank in Flammen und im Blut. Die führungslos gewordenen Islamisten waren in den Städten und Bergen verstreut, unkontrollierbare und tödliche Metastasen. Vor unseren Augen verwandelten sie sich unter dem Vorwand des Gottesgehorsams Schritt für Schritt in unvorstellbare Monster. Sie formierten sich zu einer tödlichen Offensive, gaben den Ton an und säten Terror. Der Front Islamique du Salut (FIS) und seine Anhänger, die man um den Wahlsieg gebracht hatte, enthüllten immer mehr ihre wahre Natur (Anm.d.Red.: Die algerische Militärregierung hatte 1993 einen drohenden Wahlsieg der Islamisten verhindert, indem sie deren Partei verbot). Das Land glitt in den Bürgerkrieg.
Unsere Leben glitten in die Barbarei, im Stiefel-Schritt der Allah-ist- Mächtigen
Nachbarn töteten Nachbarn, Brüder ihre Brüder, Schmerz und Entsetzen spiegelten sich in den Blicken der Mütter. Unsere Leben glitten in die Barbarei, im Stiefel-Schritt der Allah-ist-Mächtigen. Dunkle Wolken stiegen gen Horizont und verpesteten die Luft. In diesem Jahr 1994 waren die Mauern der Stadt bedeckt mit den Parolen der GIA, dem bewaffneten Arm des FIS. Er befahl den Mädchen und Frauen unter Androhung der Todesstrafe, sich zu verhüllen: in den Straßen, den Schulen, den Büros und den Krankenhäusern; auf den Feldern, in den Häusern – bis hin vor die Spiegel und in die Betten, wenn sie gekonnt hätten. Sie akzeptierten nur die Frauen, die sich ihren Phantasmen beugten.
1994 erreichte der Horror seinen Höhepunkt. Die Frauen wurden zur Zielscheibe der kollektiven Gewalt, aufgrund der Verletzlichkeit ihrer Körper und des Schreckens in ihren Blicken. Die Trunkenheit der verdrängten Sexualität der Mörder brach sich Bahn. Also begann die lange Liste der unzählbaren Verbrechen, bis hin zum Femizid.
Aufgrund der schlichten Tatsache, Frauen zu sein, lebten wir nun alle in dieser Bedrohung. Bis dahin hatten die Islamisten ihre Opfer aufgrund ihrer Taten gewählt, weil sie: schrieben, dachten, sangen, filmten. Ab 1994 wählten sie uns, weil wir Frauen waren. Die religiösen Fanatiker vergewaltigten uns, versklavten uns, ermordeten uns. Verschleiert oder nicht!
Denn in den Dörfern, wo diese barbarischen Akte serienweise vollzogen wurden – Vergewaltigung, Kidnapping, Folter, Aufschlitzung – waren da die Frauen und Mädchen nicht schon längst verschleiert? Doch die Barbaren hatten im Herzen unserer Religion einen Vorwand gefunden, ihren Frauenhass heilig zu sprechen. Genauer gesagt: den Hass auf das Geschlecht der Frauen, denn jede Art Menschlichkeit sprachen sie uns ab.
Frauen wurden zur Zielscheibe der kollektiven Gewalt
Sie wollten uns ein Stigma aufzwingen, das uns unterschied und zu den Anderen machte: das Kopftuch, das unser Geschlecht in den Augen aller gleichzeitig verhüllt und enthüllt. Eine Methode, Frauen zu reduzieren auf ihren erotischen Körper und so zu entmenschlichen. Entmenschlichung ist der erste Schritt in die Barbarei.
„Jede Frau aber, die betet oder weissagt mit unbedecktem Haupte, entehrt ihr Haupt; denn es ist ein und dasselbe, wie wenn sie geschoren wäre. Denn wenn eine Frau nicht bedeckt ist, so werde ihr auch das Haar abgeschnitten; wenn es aber für eine Frau schändlich ist, dass ihr das Haar abgeschnitten oder sie geschoren werde, so lass sie sich bedecken. Denn der Mann freilich soll nicht das Haupt bedecken, da er Gottes Bild und Herrlichkeit ist; die Frau aber ist des Mannes Herrlichkeit.“ Apostel Paulus in den Korintherbriefen.
Die islamistischen Wortführer waren in den Abgrund der Zeit gefallen. Eher Anhänger des Apostel Paulus als des Propheten Mohammed gaben sie ihrer bestialischen Sexualität freien Lauf. Blida, die Stadt der Rosen, am Anfang des fruchtbaren Tales Mitidjal, wurde zum Zentrum der Barbarei. Die dem Gotteswahn Verfallenen beherrschten die von ihnen „befreite“ Region. Hier liegt Meftah, nur hundert Kilometer von Algier entfernt, eine kleine Stadt ohne Geschichte, bis …
Am 28. Februar 1994 schießt ein sehr junger Islamist, umringt von seinen Kumpeln, auf Katia. Dann flieht er.
Du hattest dich geweigert, dich zu verschleiern. Und du hattest sehr vernehmlich gesagt, warum du dich weigertest. Diese Kreaturen mit dem verwirrten Geist und der barbarischen Seele waren überzeugt von ihrem Recht über dein Leben, Katia, und über das aller in ihrem Umfeld. Sie waren besessen von dieser absoluten „Wahrheit“, die ihre archaischen sexuellen Instinkte edelte, ihr tierisches Begehren legitimierte im Namen eines blutigen und rächenden Gottes. Ein Gott, der die Frauen hasst und von dem sie behaupten, es sei der Gott des Islam.
Entmenschlichung ist der erste Schritt in die Barbarei
Es genügte für sie, dass eine Einzige widerstand, um in einer infernalen Welt zu versinken, die nach Blut und Leichen riecht, jenseits unserer belebten Welt. Sie waren besessen von ihrem Gott in einem Buch, das sie noch nicht einmal verstanden. Sie haben dich ihrer Obsession geopfert.
Bis zu deinem Tod hast du dich gegen das Delirium dieser Kreaturen gewandt. Du kanntest sie, du begegnetest ihnen auf der Straße, am Schulausgang, in den Geschäften, sie verfolgten dich. Seit Tagen strichen sie um dich herum, verstärkten den Druck, drohten. „Kleine Halunken“ wird dein Vater sie nennen. Leider waren sie mehr als das: Monster, programmiert zum Töten.
Monster, die sich Zeit nahmen für ihre Absichten und damit begannen, die Bevölkerung einzuschüchtern. Sie erfanden und diktierten ihre Gesetze im Viertel – und die Bewohner der Stadt sahen weg. Sie dachten, es ginge vorüber und es würde genügen wegzusehen. In allen Vierteln, in allen Städten haben die Bewohner weggesehen. Ein Land der Wegseher. Wir waren Tausende und Abertausende, die weggesehen haben. Also hatten sie schnell raus, wer nicht wegsah. Die Aufrechten, die versuchten, uns ein Stück ihres Mutes und ihrer Hoffnung weiterzugeben, haben sie getötet.
Wo war der Mut geblieben in diesem Land, das sich einst „das Land der freien Menschen“ nannte? Auf deinem kindlichen Gesicht, Katia, in deinen Augen, die der sich seit langem ankündigenden Tragödie geradewegs ins Gesicht gesehen hatten, um sie aufzuhalten.
Meftah, diese unbedeutende Stadt, konfrontiert uns mit deinem Tod am 28. Februar 1994. Ich bin nie nach Meftah gegangen. Ich werde nie hingehen, aus Angst, nichts zu sehen; aus Angst, noch einmal Zeuge zu werden, wie die vergängliche Zeit uns wieder in diese graue und hässliche „Normalität“ zurückfallen lässt. Denn wir müssen die lebendige Erinnerung an die Barbarei im Herzen behalten, um nicht wieder darin zu versinken!
Er hat mit einem Gewehr mit abgesägtem Lauf auf dich geschossen
Dein Mörder hat mit einem Gewehr mit abgesägtem Lauf auf dich geschossen. Ich weiß nicht genau, was das bedeutet, ein abgesägter Gewehrlauf; egal, er hat geschossen und ist geflohen. Dich hat er auf dem Bürgersteig liegen lassen, in einer Lache von Blut. Rot wie das Rot der Nelken in dem Kranz aus Nelken und weißen Margeriten, den vier junge Männer auf dein Grab gelegt haben.
Sie gingen neben deinem Vater in diesem Dokumentarfilm der BBC, der durch die ganze Welt ging. Ich habe diesen Film in einem Flur der UNO gesehen; zusammen mit Diplomaten, die um Worte rangen zur Verurteilung dieses Verbrechens. Sie wanden sich, in Sorge, die Muslime und ihre Repräsentanten zu beleidigen; diese Repräsentanten, die sich hüteten, die Verbrechen im Namen des Islam zu verurteilen. Was für ein Triumph der Barbarei.
Wassyla Tamzali ist Juristin und war lange Jahre Leiterin der Abteilung Frauenrechte der Unesco. Die Tochter eines Algeriers und einer Französin lebt heute zwischen Algerien und Paris.
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