Geschichte ihrer Liebe: Vita & Virginia
Mein Kopf ist zu vernebelt um durchzublicken“, schreibt Virginia am 15. Dezember 1922 in ihr Tagebuch. „Dies ist zum Teil auf das Dinner mit der anmutigen begabten aristokratischen Vita Sackville-West gestern Abend bei Clive zurückzuführen.“ Ein Abend mit Folgen. Die beiden Protagonistinnen: Vita und Virginia.
Da ist die vierzigjährige Virginia Woolf, die gerade im Begriff ist, sich in England einen Platz als Schriftstellerin zu erobern. Mit ihrem Mann Leonard zusammen hat sie die Hogarth Press, einen eigenen Verlag gegründet, beide sind sie das Zentrum des intellektuell-elitären Bloomsbury-Zirkel. Woolf steht einerseits mitten im Leben, andererseits wird sie immer wieder von psychischen Zusammenbrüchen heimgesucht, vermutlich Folgen ihres frühen sexuellen Missbrauchs durch ihre Brüder.
Und da ist Vita Sackville-West, zehn Jahre jünger, aus einer aristokratischen Familie. Sie hat zwei Romane veröffentlicht, genießt bereits das Ansehen einer bedeutenden Dichterin und ist Mitglied im PEN-Club. Vita führt mit ihrem Mann Harold eine ungewöhnliche Ehe. Beide erlauben sich stürmische Liebschaften – er mit Männern, sie mit Frauen –, von denen sie sich in aller Ausführlichkeit gegenseitig berichten. Vita ist das Gegenteil von Virginia: krachend vital, leidenschaftlich, sexuell unbekümmert.
Schon wenige Tage nach dem ersten Zusammentreffen lädt Vita Virginia nach Knole ein, der Adelssitz der Sackvilles. 365 Zimmer und 17 Hektar Parkland, Familientradition bis in das 11. Jahrhundert. Virginia ist begeistert. Dieses Haus, diese Geschichte, diese Nachfahrin, lebendig und doch ein sich einfügender Teil einer 800 Jahre alten Familiengeschichte. Vielleicht der erste Funke für Virginia Woolfs Roman „Orlando“, dieser aristokratischen Mann-Frau-Gestalt zwischen den Jahrhunderten, der im Jahr 1928 erscheinen und Vita gewidmet sein wird.
Vita, die gerade noch in ein, zwei andere Liebschaften verstrickt ist, begreift schnell, dass sie dabei ist, sich in rasender Geschwindigkeit in eine neue zu stürzen. Bereits am 10. Januar 1923 schreibt sie an Harold, dass sie Virginia mit „kranker Leidenschaft“ liebe.
Und ja, es wird eine leidenschaftliche Freundschaft und Liebesbeziehung. Vita umwirbt Virginia mit Verehrung und Passion, und Virginia, die mit ihrem Mann eine platonische Beziehung führt, taucht ein in die ihr bisher verschlossene Welt des sexuellen Begehrens. Die beiden arbeiten auch zusammen. Die Hogarth Press veröffentlicht Vitas nächste Bücher, allesamt auch kommerzielle Erfolge.
Zwei Frauen, die auch in der Arbeit nicht unterschiedlicher sein können: Hier die weitaus bedeutendere Schriftstellerin Woolf, die sich die Bücher in einem enormen Kraftakt abverlangt, dort die Schnellschreiberin Sackville-West, die ihre Bücher neben Familie, Garten und Kindern quasi spielerisch erledigt. Die Rollen in dieser Beziehung scheinen relativ früh klar verteilt: Die Eine die Hohe Dame der Literatur, die Andere die sich ihr unterordnende Schülerin. Die mitunter ätzenden Kommentare Woolfs zu Vitas Schreibstil scheint Sackville-West gelassen entgegen zu nehmen.
All dies und noch viele interessante Details mehr kann man dem so lesenswerten Buch von Alexandra Lavizzari entnehmen. Der Autorin gelingt es anhand der Tagebucheintragungen und Briefe, die Beziehung der beiden schlüssig und kenntnisreich zu beschreiben. Man taucht ein in die Entwicklung dieser außergewöhnlichen Beziehung, die Liebesgeschichte und intellektueller Austausch zugleich ist. Und dies wird angenehm frei von Projektionen erzählt, die ja leider oft bei Biografien eine Rolle spielen. Schön zu lesen und dazu ein mit aufschlussreichen Fotos versehenes, schön gestaltetes Buch.
BETTINA FLITNER
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