Wenn es um den Kampf gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz geht, blicken wir in unseren Debatten über kurz oder lang fast zwangsläufig über den Atlantik.
Von "amerikanischen Verhältnissen" ist dann die Rede – mal mit bewunderndem, mal mit empörtem Unterton. "Amerikanische Verhältnisse", was bedeutet das? Wenn Manager aus Sorge vor unberechtigten Vorwürfen lieber den Fahrstuhl verlassen, statt allein mit einer Mitarbeiterin in der Kabine zu bleiben; wenn Arbeitern im Rahmen von Benimm-Kursen beigebracht wird, Kolleginnen nicht länger als fünf Sekunden anzuschauen, weil dies sonst als Belästigung mit Blicken gewertet werden könnte – dann ist dies zunächst einmal… überhaupt kein Drama.
Für Frauen gehört es seit jeher zum Alltag, sich vor dem Betreten eines Fahrstuhls zu fragen, was das denn für ein Mann ist, mit dem sie die nächsten Sekunden oder Minuten allein auf engstem Raum verbringen werden. Frauen fragen sich jeden Morgen, welche Signale sie mit ihrer Kleidung in der Firma aussenden – und ob diese missverstanden werden könnten.
In den USA hat sich dieses Bewusstsein unter dem Druck einer Rechtsprechung entwickelt, die den Arbeitgeber in Fällen von "sexual harassment" mit in Haftung nimmt. Nicht nur, dass Belästigern klare Konsequenzen bis hin zur Kündigung drohen. Die Firmen werden von den Gerichten auch zur Verantwortung gezogen, wenn sie das Entstehen eines "hostile environment" nicht unterbinden, also eines Arbeitsklimas, in dem Beschäftigte leichter zu Opfern sexueller Belästigung werden. Da die Beweislast inzwischen bei den Unternehmen liegt und Schadensersatzzahlungen leicht Millionenhöhe erreichen, kann es sich kein amerikanischer Arbeitgeber mehr leisten, das Thema auf die leichte Schulter zu nehmen.
Man mag solche Verhaltensmaßnahmen für verkrampft halten und für übertrieben. Positiv ist dennoch, dass in den Betrieben ein Bewusstsein für das Thema eingefordert wird und dass eindeutige, klare Regeln die Toleranzschwelle gegenüber sexuellen Belästigungen unmissverständlich markieren.
Um diesen Gedanken sollte sich auch die Debatte bei uns drehen. Wie schaffen wir den offenbar dringend notwendigen Bewusstseinswandel, ohne bei den Instrumenten über das Ziel hinauszuschießen?
Selbstverständlich ist nichts verkehrt daran, dort auf Partnersuche zu sein, wo man einen Großteil seiner Zeit verbringt – wenn dies zwei Menschen auf Augenhöhe betrifft. Und es ist meiner Meinung nach auch nichts gegen einen Flirt einzuwenden – solange beide es wollen und die Machtverhältnisse gleich sind. Aber nichts ist mehr in Ordnung, wenn dies einseitig geschieht und insbesondere in einem Abhängigkeitsverhältnis. Die große Mehrheit der Männer sieht das übrigens auch so und hält sich daran.
Wird dieser Common Sense allerdings gebrochen, tut sich eine Grauzone auf. Wir wissen aus Umfragen: Mindestens jede fünfte Frau hat schon einmal sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz erlebt. Jedoch ist die Zahl derjenigen, die sich tatsächlich wehren, notfalls auch vor Gericht, eher gering. Das spricht für eine hohe Dunkelziffer. Dahinter steht häufig Unkenntnis über die eigenen Rechte, nicht selten auch Scham. Dahinter steht aber auch die konkrete Befürchtung, nach einer Beschwerde erst recht berufliche Nachteile zu erleiden.
Die aktuelle Debatte trägt deshalb auch dazu bei, insbesondere den Frauen deutlich zu machen: Du hast jedes Recht, das nicht zuzulassen! Opfern sexueller Belästigung steht nicht nur im Strafrecht (Straftatbestand der sexuellen Nötigung) oder im Zivilrecht (Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts) die Möglichkeit offen, sich gegen ihre Belästiger zu wehren. Mit dem "Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz" von 2006 besteht auch ein arbeitsrechtlicher Anspruch gegenüber dem Arbeitgeber, sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz zu verhindern und deren Verursacher zu sanktionieren – per Abmahnung, Versetzung, notfalls auch Kündigung.
Viele Männer fühlen sich durch die aktuelle Sexismusdebatte unter Generalverdacht gestellt. Das darf nicht sein. Aber viele, zu viele Frauen können eine Situation aus ihrem Arbeitsleben schildern, in der sie – meist in jungen Jahren – tiefe Scham, Ohnmacht und Wut gespürt haben, wenn ein Kollege seine Position ausnutzt und die Grenzen überschreitet.
Über die Grenze sollte aber kein Zweifel bestehen. Hier spielt die Atmosphäre in den Betrieben eine ganz große Rolle. Die Furcht vor Gegenwehr ist dort besonders groß, wo das Klima Raum für Zweideutigkeiten lässt, wo sexuelle Belästigung eben nicht eindeutig geächtet ist. Das Gegenteil sollte bei uns Standard sein. Aber wie kommen wir dahin? Braucht es wirklich erst spektakuläre Prozesse und Schadensersatzzahlungen in Millionenhöhe wie in den USA, bevor sich das Klima wandelt?!
Wenn man berücksichtigt, dass Übergriffe dort besonders häufig vorkommen, wo ein großes Machtgefälle zwischen Tätern und Opfern herrscht, wenn man zudem bedenkt, dass eine Unternehmenskultur stets von der Spitze her geprägt wird, lautet meine Antwort: Wir brauchen Unternehmen, die "divers" sind. Unternehmen, in denen Frauen bis in die Spitze hinein ganz selbstverständlich auf allen Führungsebenen vertreten sind. Nicht, weil Frauen die besseren Menschen sind. Sondern weil Monokulturen in einseitigen Blickweisen verharren – und weil diese von inoffiziellen Netzwerken geprägt sind, in denen bemäntelt wird, was offen angesprochen und unterbunden werden müsste.
Deshalb: Weg mit den Monokulturen in den Chefetagen! Ein Klima, das von Gleichberechtigung und gegenseitigem Respekt geprägt ist, nutzt nicht nur den Frauen im Betrieb, sondern auch all den Männern, die sich selbst Augenhöhe wünschen und die Herrenwitze schon lange nicht mehr witzig finden. Den meisten also.
Ursula von der Leyen
Der Text wurde zuerst veröffentlicht in dem EMMA-Buch bei KiWi: "Es reicht! Gegen Sexismus im Beruf", Hrsg. Alice Schwarzer (8.99 €). Im EMMA-Shop kaufen