Darmstadt: Nichts dazugelernt?

Das Schlossgrabenfest ist das größte Musikfestival in Hessen. © Alina Drewitz
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Wir schreiben den Tag 153 nach Köln. Eine Stadt, die zur Chiffre geworden ist für ein Phänomen, das es so in Deutschland zuvor noch nicht gegeben hat: taharrush gamea, die organisierte sexuelle Gruppengewalt, die Frauen im arabischen Raum sehr gut kennen. Ihr Ziel: Frauen aus dem öffentlichen Raum vertreiben. PolitikerInnen wie Medien waren sich einig: So etwas darf es nie wieder geben! Selbst Kanzlerin Merkel erklärte in einer für sie ungewöhnlichen Offenheit: „Das sind widerwärtige, kriminelle Taten, die auch ein Staat nicht hinnehmen wird, auch Deutschland nicht hinnehmen wird“.

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In Darmstadt fängt man bei der Sache lieber wieder bei Null an

147 Tage nach Köln, also am Donnerstag den 26. Mai, beginnt in Darmstadt das beliebte Schlossgrabenfest. Das Line-Up kann sich sehen lassen: Namika („Lieblingsmensch“) spielt, die Prinzen („Küssen verboten“) sind auch da und Sängerin Stefanie Heinzmann reist aus der Schweiz an. 20.000 Quadratmeter ist das Gelände groß, über 100 Bands treten auf vier Bühnen auf. Mit rund einer halbe Million BesucherInnen ist das Schlossgrabenfest das größte Musikfestival in Hessen.

Am Samstag suchen drei Frauen gegen Mitternacht in der „Disko-Area“ Schutz bei der Polizei. Sie seien von einer Gruppe Männer bedrängt und begrapscht worden. Drei der Männer konnte die Polizei noch in derselben Nacht festnehmen. Es handelt sich um pakistanische Asylsuchende zwischen 28 und 31 Jahren. Gegen die Männer wird inzwischen wegen sexueller Nötigung und Beleidigung (auf sexueller Basis) ermittelt. Sie wurden wieder freigelassen.

In der Pressemitteilung, die das Polizeipräsidium Südhessen am Montag nach dem Stadtfest veröffentlicht, ziehen die Beamten eine „sehr positive Bilanz“ und blicken auf ein „verregnetes aber friedliches Schlossgrabenfest zurück“. Abgesehen „von den Belästigungen“.

Bis Dienstag melden sich 23 weitere Frauen bei der Polizei. Beziehungsweise: Es meldeten sich Mädchen. Unter den Betroffenen sind so einige erst zwischen 14 und 18 Jahren alt. Auch sie seien von bis zu zehn Männern gleichzeitig auf dem Festivalgelände bedrängt worden, die sie als „Ausländer“ oder als „dunkelhäutig“ beschrieben. 14 Anzeigen liegen bisher vor.„Von einer Vergewaltigung wissen wir bisher nichts“, sagt Polizeisprecher Ferdinand Derigs im Gespräch mit EMMA. „Erst ging das Antanzen voraus und dann sind die Frauen umzingelt und unsittlich berührt worden." Nur ein Portemonnaie wurde gestohlen. Über die eigentliche Motivation der Täter möchte die Polizei nicht spekulieren. Und auch Angaben über die Zahl der Einsatzkräfte vor Ort "gebe es prinzipiell nicht".

Und das zu einem Zeitpunkt, an dem ein Untersuchungsausschuss ermittelt und die deutsche Justiz mit vielen Fragen konfrontiert ist: Hätten die Vorfälle an Silvester in Köln verhindert werden können? Waren nicht genug Polizeibeamte am Kölner Hauptbahnhof? Wird sexuelle Gewalt gegen Frauen nicht ernst genug genommen?

Stellen sich diese Fragen in Darmstadt etwa nicht?

Offenbar nicht. In Darmstadt fängt man lieber bei Null an. Obwohl eine Großveranstaltung mit hunderttausenden BesucherInnen vor der Tür stand, weiß der Pressesprecher der Polizei nicht, ob in dem im voraus erstellten Konzept zur „Gefahrenabwehr“ das Thema sexuelle Gewalt überhaupt ein Thema war. Unwetter, Diebstahl – diese Dinge werden natürlich bedacht. Aber sexuelle Gruppengewalt? Derigs: „Solche Vorfälle gab es ja noch nie - und das Schlossgrabenfest gibt es seit 16 Jahren.“ Einen Vergleich mit Köln will Derigs auch nicht ziehen. „Das kann ich ja höchstens aus der Ferne beurteilen.“

Schließlich hat es das auf dem Schlossgrabenfest
noch nie gegeben

26 Frauen, die sich bei der Polizei gemeldet haben, 14 Anzeigen. Bis Dienstag. Aktuellere Zahlen gibt es zurzeit nicht. Denn nun liegt die Sache bei der Staatsanwaltschaft Darmstadt, und die möchte darüber keine Auskünfte geben. Eine Anfrage von EMMA an den Veranstalter Thiemo Gutfried von „Stage Groove Festival“ blieb bisher unbeantwortet. Auch auf der Webseite der Agentur noch kein Ton zu den Vorfällen auf dem Schlossgrabenfest.

Rasch zu Wort gemeldet hat sich dieses Mal die Polizeigewerkschaft: „Solche Sex-Attacken wie jetzt in Darmstadt werden sich weiter häufen“, sagte Vorsitzender Rainer Wendt im Gespräch mit der Huffington Post. Ähnliche Vorfälle hatte es auch in Berlin, ausgerechnet auf dem Karneval der Kulturen, gegeben. Wendt fordert: Asylbewerber, die wegen sexueller Gewalt verurteilt werden, sollten in „Abschiebehaft genommen werden“, bis das Asylverfahren abgeschlossen ist. 

Auch Bürgermeister Jochen Partsch und Stadträtin Barbara Akdeniz erklärten in einer Stellungnahme: „Gewalt gegen Frauen hat in unserer Stadt keinen Platz. Wir tolerieren keine Form von Gewalt und verurteilen sexuelle Übergriffe ebenso wie häusliche Gewalt. Täter, egal wo sie herkommen, müssen bestraft, Opfer müssen geschützt werden.“ Vielleicht demnächst ein bisschen früher?

EMMA berichtet weiter.

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Alice Schwarzer schreibt

Silvester: die Hintergründe

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Jüngst war ich in Algerien. Um Freunde zu besuchen. Aber auch, um zu erfahren, wie man das Flüchtlingsdrama und die Silvesternacht eigentlich von Algerien aus sieht. Denn die Horrornacht von Köln wird im Ausland bis heute leidenschaftlich diskutiert: als „Kulturschock“, eine Wende, nach der nichts mehr ist wie vorher. Und in der Tat, auch in Algerien sind die Menschen fassungslos, mehr noch: Es ist ihnen peinlich. Sie schämen sich für ihre Landsleute.

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Mounia: "Es ist beeindruckend, wie großzügig Merkel ist - aber ist sie nicht etwas naiv?"

Am Samstagvormittag hatten Kollegen für mich eine Führung in der Kasbah organisiert, der Altstadt von Algier. Die wurde seit dem 16. Jahrhundert von den vor der spanischen Inquisition geflüchteten „Ungläubigen“ und Juden bevölkert. Ihre festungsartigen Häuser, verwinkelten Gassen und Treppen spiegeln die Geschichte des Landes.

Im algerischen Befreiungskampf gegen die französischen Kolonialherren versteckten sich hier in den 1950er Jahren die Resistance-Kämpfer und flüchteten von Dach zu Dach; in den so genannten „Schwarzen Jahren“ in den 1990ern, in denen das von Islamisten angezettelte Massaker 200 000 Menschen das Leben kostete, bildeten Kasbah-Bewohner eine eigene Bürgerwehr und holten nachts die marodierenden und mordenden Fundamentalisten aus den Betten.

An diesem friedlichen Samstagmorgen im April 2016 schien die Sonne, der Himmel über „La Blanche“ war strahlend blau, das Brot duftete, und nur die wenigen Bärtigen, die in langen Fundi-Gewändern durch die Gassen huschten, sahen mich finster an. Alle anderen freuten sich über den Besuch. Denn in das so schöne Algerien mit seinen Traumstränden und dramatischen Landschaften wagen sich heute kaum noch Touristen.

Mounia, meine Führerin, erwartete mich oben auf dem Hügel, neben einem der zerfallenen Paläste mit ihren Harems (in denen die Herrscher sich nicht etwa ein paar Dutzend, sondern jeweils ein paar hundert Frauen hielten). Mounia, arbeitslose Akademikerin, Mitte 40 und Mutter einer inzwischen erwachsenen Tochter, in Hosen, einem leichten Mantel und mit Kopftuch (die Tochter ist unverschleiert), hatte einen sehr selbstbewussten Auftritt. Ihre ersten Worte nach der Begrüßung der Deutschen waren: „Ich bewundere Merkel! Was für eine fantastische Frau! Großartig, wie selbstbewusst sie zwischen den anderen Staatschefs auftritt! Und wie sie angezogen ist! Toll! Was für ein Vorbild für uns Frauen!“

Die Täter der Silvesternacht waren nicht
“die Muslime“ von nebenan.

Ich nahm die Komplimente stellvertretend und dankend entgegen. Und dann ging es los, durch die Gassen und auf die Dächer (auf denen sich früher traditionell das Leben der ans Haus gefesselten Frauen abspielte). Irgendwann kamen wir auf die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin zu sprechen. Da zögerte Mounia leicht, und dann sagte sie: „Ich finde es beeindruckend, wie großzügig sie ist – aber ist sie nicht ein bisschen naiv? All diese Flüchtlinge, das könnt ihr doch gar nicht verkraften. Und wer weiß, wer da alles nach Deutschland kommt.“

Ja, wer weiß. Ein bisschen wissen wir es inzwischen. Es kommen hunderttausende Frauen, Männer und Kinder auf der Flucht vor Krieg und Gewalt. Aber es kommen auch andere. Die zum Beispiel, die sich in der Silvesternacht allein in Köln auf mindestens 627 Frauen gestürzt haben (so viele Anzeigen sind inzwischen eingegangen). Die heute 130 Beschuldigten sind alle Ausländer (plus drei Männer deutscher Nationalität): 42 sind Marokkaner, 39 Algerier und neun Syrer. Und ausnahmslos alle sind entweder Asylsuchende oder Illegale.

Das hat auch mich überrascht und mir keine Ruhe gelassen. Ich habe angefangen zu recherchieren, weit über die Berichterstattung in EMMA hinaus. Ich habe mit Frauen gesprochen, die heute noch unter Schock stehen, wenn sie darüber reden – darunter eine Familienmutter, die mit ihrem 14-jährigen Sohn und ihrer 15-jährigen Tochter fast eine halbe Stunde lang in dem Inferno der Bahnhofshalle steckte. Ich habe die Erkenntnisse von Polizei und Staatsanwaltschaft Schritt für Schritt verfolgt. Und ich habe mich entschlossen, ein Buch über diese Nacht zu machen, über die Hintergründe und die Folgen. „DER SCHOCK“ ist gerade im Druck und wird am 12. Mai erscheinen.

Welche Schlüsse müssen wir daraus für die Zukunft ziehen?

Für dieses Buch habe ich mehrere arabische und türkische KollegInnen um Mitarbeit gebeten, sowie eine Islamwissenschaftlerin, die das doppelzüngige, rückwärts gewandte Agieren des „Zentralrates der Muslime“ analysiert – der ist skandalöserweise bis heute der Hauptgesprächspartner für Medien wie Politik. Und selbstverständlich sind auch zwei Algerier als AutorInnen im SCHOCK vertreten.

Nein, die Täter der Silvesternacht waren nicht „die Araber“ oder “die Muslime“ von nebenan. Es war die Sorte Mann, für die die Scharia über dem Gesetz steht und die Frau unter dem Mann. Und sie hatten sich verabredet. Das sagt inzwischen auch der (neue) Kölner Polizeipräsident. Im SCHOCK geht es um die wahren Gründe, die zu dieser Nacht geführt haben – und um die Schlüsse, die wir daraus für die Zukunft ziehen müssen. Es ist hoffentlich ein Buch geworden, das auch die Billigung von Mounia in Algier finden würde.

Alice Schwarzer

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Alice Schwarzer (Hg).: „DER SCHOCK – die Silvesternacht von Köln“ (KiWi, 7.99 €). Im EMMA-Shop

 

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