EMMA gefällt

Waren Suffragetten ihr Vorbild?

Foto: aal.photo/IMAGO
Artikel teilen

«Völlig bekloppt» heißt auf Englisch «completely idiotic», auf Französisch «totalement idiot», auf Italienisch «tutto insensato», auf Spanisch «completamente locas» und auf Niederländisch «helemaal getikt». Die Bezeichnung von Bundeskanzler Olaf Scholz für die Letzte Generation wurde in den vergangenen Tagen von den großen Zeitungen der Welt in viele Sprachen übersetzt. Dies ging einher mit einer ausführlichen Berichterstattung über die Razzien gegen die deutschen Klimaaktivisten. Man kann ohne weiteres sagen, dass die von der bayerischen Generalstaatsanwaltschaft angeordneten Durchsuchungen die internationale Bekanntheit der Gruppe enorm gesteigert haben.

Anzeige

Kartoffelbrei auf einem Monet-Gemälde, Farbe gegen die SPD-Zentrale und viele festgeklebte Hände auf der Straße - die Letzte Generation irritiert und provoziert seit Monaten. Die Leser der ausländischen Zeitungsberichte wissen jetzt aber auch, dass der Gegenschlag der Justizbehörden mit überraschender Wucht kam: Die Bilder von maskierten Ermittlern, die Wohnungen und Büros stürmten, hätten von einer Reichsbürger- oder Mafia-Razzia stammen können. Ist das der Beginn einer Eskalationsspirale?

Es ist die Strategie der Letzten Generation, rote Linien zu überschreiten, um damit Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dieses Vorgehen hat in der Geschichte des zivilen Ungehorsams eine lange Tradition.

So gingen schon die Suffragetten, die vor gut 100 Jahren für das Wahlrecht für Frauen kämpften, auf Bilder los. Anders als heutige Klimaaktivisten wählten sie dafür aber keineswegs Werke aus, die durch Panzerglas geschützt waren, sondern fügten etwa dem berühmten Gemälde «Venus vor dem Spiegel» von Diego Velazquez in der National Gallery in London tiefe Schnitte mit einem Hackmesser zu.

Die Museumsattacken der Letzten Generation werden unter anderem deshalb kritisiert, weil es dabei keinen inhaltlichen Bezug zum Klimawandel gibt. Den Aktivisten geht es jedoch ebenso wie einst den Suffragetten darum, in spektakulärer Weise gegen Regeln zu verstoßen, um die Dringlichkeit ihres Anliegens herauszustellen. Sie sind überzeugt, dass in 50 Jahren - wenn der Klimawandel seine volle verheerende Wirkung entfaltet - nicht sie als die «Klimaterroristen» dastehen werden, sondern all jene, die nicht gehandelt haben, als dies noch möglich war. Hierher stammt auch der Name, der auf ein Zitat des früheren US-Präsidenten Barack Obama zurückgeht: Es ist die Letzte Generation, die den Klimawandel noch aufhalten kann.

Die Dringlichkeit des Anliegens wird auch dadurch unterstrichen, dass die Beteiligten persönliche Risiken eingehen. So wurde im April eine 24 Jahre alte Aktivistin der Letzten Generation, die sich in der Gemäldegalerie Berlin am Rahmen eines Lucas-Cranach-Bildes festgeklebt hatte, zu vier Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt.

Dass die Letzte Generation bewusst Straftaten begeht, ist ein Fakt. Auch kann man argumentieren, dass sie in gewisser Weise Gewalt ausübt, indem sie Menschen durch ihre Blockaden nötigt und gleichsam in Geiselhaft nimmt: Man denke an Familien, die auf dem Weg in den Urlaub mit schreienden Kindern sechs Stunden auf der Berliner Stadtautobahn festsitzen. Oder an Unternehmer, die durch die immer wieder neuen Blockaden echte Existenznöte ausstehen. Die Bilder von ausrastenden Autofahrern machen deutlich: Für viele mögen die Klimaaktivisten die richtigen Ziele verfolgen - aber mit den völlig falschen Mitteln.

In höchstem Maße strittig ist jedoch die These, dass dies ausreicht, um die Letzte Generation als kriminelle Vereinigung abzustempeln.

Einer der wenigen, für den dies bereits «eindeutig» feststeht, ist CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Er befürchtet sogar, «dass eine Klima-RAF entsteht». Die linksextreme Rote Armee Fraktion (RAF) ermordete von den 70er bis in die 90er Jahre über 30 Menschen.

Für den Rechtswissenschaftler Matthias Jahn gibt es einen Zusammenhang zwischen Dobrindts Wortwahl und den Razzien der vergangenen Woche: «Die Eskalationsspirale dreht sich, dem Wort von der «Klima-RAF» sind Taten gefolgt», sagt der Strafrechtsprofessor und Richter am Oberlandesgericht Frankfurt/Main der Deutschen Presse-Agentur. «Das setzt eine Dynamik im Gang, die Märtyrer zu produzieren droht, weil der Staat mit unverhältnismäßiger Härte reagiert.»

Jahn vermutet auch einen Bezug zum bayerischen Landtagswahlkampf: Zwar gebe es keine Hinweise darauf, dass die Münchner Generalstaatsanwaltschaft einen Anfangsverdacht aus sachwidrigem Gründen bejaht haben könnte. «Aber der faktische Einfluss solcher Ermittlungen auf den heraufziehenden bayerischen Wahlkampf ist kaum zu verkennen.» Den Bürgerinnen und Bürgern solle offenbar das Gefühl vermittelt werde, dass gegen die lästigen Störenfriede etwas getan werde.

Der Extremismusforscher Matthias Quent sieht die Gefahr, dass das harte Vorgehen «Abschreckungseffekte bewirkt, die nach hinten losgehen». Klimaschützer könnten sich vom Staat nicht unterstützt, sondern im Stich gelassen fühlen: «Das kann dazu führen, dass sich Einzelne radikalisieren.»

Die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer erinnert in diesem Zusammenhang an die oft überharte Reaktion der Behörden auf die Protestaktionen der Studentenbewegung. So waren Fritz Teufel und andere Kommune-Mitglieder 1967 wegen eines gescheiterten «Pudding-Attentats» auf US-Vizepräsident Hubert H. Humphrey in Berlin verfolgt worden.

«Genau dieser Teufel wurde zum Beispiel so in die Enge getrieben, dass er letztendlich untertauchte», schreibt die 80 Jahre alte Schwarzer in einem «Emma»-Beitrag. «Was blieb von diesem Protest, war letztendlich die Rote Armee Fraktion (RAF), die selbstgerecht mordete.»

Für eine solche Entwicklung gibt es in der Klimabewegung bisher allerdings keinerlei Anzeichen. «Im Gegenteil: Ich finde es bemerkenswert, wie ruhig die bleiben, auch wenn sie angegriffen werden», unterstreicht Extremismusforscher Quent.

Die eigentliche Radikalisierungsgefahr sehen Wissenschaftler wie der Berliner Sozialphilosoph Robin Celikates ganz woanders: «Auch wenn Protest gegen einzelne Gesetze verstößt und nerven mag: Protest zu kriminalisieren, ist viel bedrohlicher, und daher besteht die größere Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat auch in dieser unverhältnismäßigen Radikalisierung der Reaktionen auf die Letzte Generation.»

Der Jurist Jahn appelliert an beide Seiten - die Klimaaktivisten und die Justizbehörden - den «Weg zurück in die Verhältnismäßigkeit» einzuschlagen. Einen Ansatz zu stärkerem Dialog gibt es bei der Letzten Generation durchaus: So kooperierte die Bewegung jüngst mit mehreren Museen, indem sie dort am Internationalen Museumstag Texte zur Klimakrise vorlas. Aktivistin Irma Trommer erklärte: «Die Hoffnung ist, dass man uns kennenlernt und sieht: Hey, das hat mit Terrorismus nichts zu tun.»

dpa/Christoph Driessen

Artikel teilen
 
Zur Startseite