Alle Männer sollten sich schämen!
Es ist herzerwärmend für mich, die strahlende, ja fast übermütige Gisèle Pelicot zu sehen. Wie stolz sie ist. Sie, eine Frau, die von dem eigenen, einst geliebten Ehemann wohl über hundert Mal vergewaltigt wurde, bewusstlos, und an dutzende Männer „verliehen“, damit auch die sich an der Ahnungslosen vergehen. Das alles zum Vergnügen ihres (Ex)Mannes, der die Taten filmte und sich wieder und wieder vorführte, wenn seine Frau zum Beispiel zu Besuch bei den Enkeln war.
Dominique Pelicot war ein liebenswerter Vater und Großvater und ein beliebter Nachbar. Der 72-Jährige aber war ein Werwolf. Nachts wurde er zum reißenden Vergewaltiger. Er sagt heute: „Es war meine Fantasie, eine unbeugsame Frau zu unterwerfen.“ Bewusst hätte er sie nicht dazu bekommen, die von ihm gewünschten (erniedrigenden) Sexualpraktiken mitzumachen. Das ist der Fortschritt: Der Werwolf musste sein Opfer betäuben, damit er es missbrauchen konnte.
Eine ungeheuerliche, kaum vorstellbare Tat. Aber vielleicht selbst in diesem perversen Ausmaß nicht ganz so ungewöhnlich. So manche Frau fragt sich heute: Und mein Mann …?
Dominique Pelicot war ein liebenswerter Grossvater und ein beliebter Nachbar
Doch das eigentlich noch Ungeheuerlichere sind die etwa 80 Mittäter (von denen 50 gefasst wurden), die Dominique Pelicot in einem Umkreis von nur 20 Kilometern innerhalb von Stunden, ja Minuten auf einer einschlägigen Internet-Plattform akquirieren konnte. Im Angebot eine bewusstlose Frau: Sie können sie ficken, umsonst; genital, anal, oral, ganz nach Belieben.
Die Männer, die sich meldeten und zur Tat schritten, sind zwischen 26 und 74 und kommen aus allen sozialen Schichten. Sie sind Feuerwehrmann oder Journalist, Migrant oder Franzose, vorbestraft oder unbescholten. Kurzum: Sie sind ganz normale Männer, sie sind Jedermann.
Was soll eine Feministin wie ich dazu sagen? Eine Feministin, die – unter der allgemeinen Ignoranz, dem Gelächter oder der Leugnung der männerdominierten Umwelt – seit 50 Jahren das Ausmaß der sexuellen Gewalt benennt: Jedes dritte bis vierte Mädchen ist auch hierzulande Opfer sexuellen Missbrauchs, und jede zweite bis dritte Frau hat Erfahrungen mit sexueller Gewalt. Die sexuelle Gewalt ist kein Ausrutscher und schon gar keine Ausnahme. Die sexuelle Gewalt ist strukturell und epidemisch. Die sexuelle Gewalt ist der dunkle Kern des düsteren Machtverhältnisses zwischen den Geschlechtern. So lange das weder benannt ist noch bekämpft wird, sind Maßnahmen wie Quoten eine Petitesse, ja eine Verschleierung.
Die Bleidecke des Verschweigens und Leugnens sexueller Gewalt ist aufgebrochen
Von der sexuellen Gewalt sind alle Kinder und Frauen mindestens bedroht und viele, sehr viele betroffen. Sie ist der Abgrund zwischen den Geschlechtern. So lange wir den nicht sehen wollen, nicht eingestehen, nicht bekämpfen, solange können wir Frauen es vergessen. Und die Männer ebenso.
Es hat eine Jahrtausende alte Tradition, dass die Opfer dieser Männer, Kinder und Frauen, sich schämen sollen – und das auch tun. In manchen Kulturen ist das bis heute ungebrochen. In unserer Kultur brodelt die Wahrheit dank der Feministinnen seit ein paar Jahrzehnten unter der Bleidecke des Verschweigens und Leugnens.
Jetzt ist diese Decke aufgebrochen. Dank einer ungewöhnlich günstigen Konstellation. 1. Die vom Haupttäter gefilmten Taten liegen als unleugbare Beweise vor. 2. Das Opfer wurde, insbesondere von ihren Kindern und ihrem jungen Anwalt Stéphane Babonneau unterstützt, der sie zugleich ermutigte und beschützte. 3. Das Opfer war ungewöhnlich stark und stolz. Es konnte nicht gebrochen werden. Darum ist das Opfer auch kein Opfer mehr. Gisèle Pelicot ist eine Siegerin. Sie hat ihre Würde zurückerobert, ist zur Ermutigung und zum Vorbild für Millionen Frauen auf der Welt geworden.
In Frankreich wie Deutschland wird nur jeder 100. Vergewaltiger verurteilt
In Frankreich wird ganz wie in Deutschland nur etwa jeder 100. Vergewaltiger am Ende auch verurteilt. Viele Verfahren werden eingestellt oder gar nicht erst eröffnet, und Prozesse werden nur zu oft zu einem Prozess gegen das Opfer. Der Täter schweigt, das Opfer muss sich rechtfertigen. Die Justiz muss reformiert werden, um Opfern sexueller Gewalt überhaupt gerecht werden zu können! Erfahrene Juristen raten darum vergewaltigten Frauen in der Regel heute von einer Anzeige ab. Denn sie würde mit hoher Wahrscheinlichkeit nur ein zweites Mal zum Opfer. Bis heute.
Morgen könnte das anders sein. Nicht zuletzt dank des Prozesses gegen Dominique Pelicot und seine Mittäter. Deren Ankläger und Richter haben bewiesen, was Gisèle Pelicot sich gewünscht hatte: Die Scham hat die Seite gewechselt!
Der nächste Schritt wäre, dass alle Männer nachdenklich werden, ja, sich schämen. Schämen für eine Welt, in der sexuelle Gewalt normal, ja schick ist. Eine Welt, in der Männer Frauen kaufen können. Eine Welt, in der Pornografie und pornografisierte Medien ungebremst die Erotisierung der sexuellen Gewalt betreiben können.
Gisèle Pelicot hat, zusammen mit ihren Anwälten, einen ersten, zu Recht weltweit bewunderten Schritt getan. Einen Schritt in eine Welt, in der Opfer geschützt und geachtet und Täter verurteilt und verachtet werden. Gehen wir also diesen Weg weiter. Wir Frauen und Männer.
ALICE SCHWARZER
Alice Schwarzer über den Fall Pelicot im Interview mit Welt-TV.