Warum Frauen zur Flasche greifen
Der prototypische Alkoholiker? Ein Mann, klar. Einer, der sich schon mittags ein Bier nach dem anderen zischt und den nach seinem Lieblingsgetränk benannten Bauch vor sich herträgt. Er trinkt gern mit seinen Kumpels, die auch ziemlich viel vertragen, und grölt mit ihnen die Kneipe zusammen. Wenn es ganz schlecht läuft, baut er besoffen einen Unfall oder stirbt an Leberzirrhose. Vieles an diesem Klischee stimmt: Männer trinken häufiger und mehr Alkohol als Frauen. Sie trinken am liebsten Bier und sterben drei- bis viermal so häufig an Unfällen oder Krankheiten, die durch zu hohen Alkoholkonsum verursacht sind.
Eins aber stimmt nicht: Beim sogenannten „riskanten Alkoholkonsum“ unterscheiden sich Frauen und Männer so gut wie gar nicht. Jeder sechste Mann und jede siebte Frau trinken in einem Ausmaß, das definitiv gesundheitsschädlich ist.
Der entscheidende Gender Gap: Männer trinken meist laut und öffentlich, Frauen eher leise und zu Hause. Während Er beim „Rauschtrinken“ mit Bier oder Schnaps an der Spitze der Statistik liegt, gönnt Sie sich ein, zwei, drei, vier Gläschen Wein oder Prosecco auf dem Sofa. Oder auch ein, zwei Fläschchen. Und bevor sie einen Weinbauch kriegt, macht sie eine Diät.
Die gute Nachricht: Laut dem aktuellen „Drogen- und Suchtbericht“ der Drogenbeauftragten der Bundesregierung ist der sogenannte „riskante Alkoholkonsum“ bei Männern seit Jahren rückläufig. Die schlechte Nachricht: bei Frauen nicht. Auch die Zahl der alkoholbedingten Todesfälle ist bei Männern in den letzten 20 Jahren „deutlich gesunken“ – bei Frauen nicht. Will heißen: Frauen holen beim Trinken auf.
Das liegt natürlich auch daran, dass die unemanzipierten Zeiten vorbei sind, in denen Alkoholkonsum für Frauen als unschicklich galt. Das gleiche gilt übrigens für das Rauchen: Bis in den 1960er Jahren war es undenkbar, dass Frauen in der Öffentlichkeit zur Zigarette griffen. Dass eine Marlene Dietrich das schon in den 1920er Jahren tat, galt als ähnlicher Skandal wie ihr Auftritt in Hosen. Mit der Frauenbewegung stieg in den 1970er Jahren die Zahl der Raucherinnen von knapp fünf auf knapp acht Millionen, und während die Männer immer weniger rauchten, holten die Frauen fast auf Gleichstand auf. Damit stieg prompt auch die Zahl der weiblichen Herzinfarkte und Schlaganfälle, der Lungenkrebs nahm bei Frauen innerhalb von nur zehn Jahren um 60 Prozent zu.
Studien ergeben beim Rauchen wie beim Trinken: Männer rauchen und trinken vor allem in geselliger Runde und um sich zu belohnen – Frauen allein und zur Stressbewältigung. Sie hat inzwischen oft einen ähnlich hektischen Berufsalltag wie Er – plus Verantwortung für Haushalt und Kinder. Mit Wein kommt frau runter. „Die Angleichung des Alkoholkonsums der Geschlechter spiegelt also zum Teil eine Angleichung von Lebenswelten wider“, erklärt Prof. Jürgen Rehm, einer der führenden deutschen Forscher für Alkoholsucht an der TU Dresden.
Der andere Teil heißt: Gewalt. „Ein häufiges Motiv für Alkoholkonsum bei Frauen ist das Bedürfnis, belastende Lebensereignisse wie körperliche oder sexuelle Gewalt zu vergessen. Alkohol ist bei vielen Frauen das zuerst eingesetzte Suchtmittel, viele haben körperliche Gewalt erfahren und berichten über sexuelle Gewalt in der Kindheit“, erklärt der Fachverband Drogen und Rauschmittel. Alkohol könne „vordergründig helfen, sich nicht an schmerzhafte Folgen und traumatische Ereignisse erinnern zu müssen“.
Eine amerikanische Studie des National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism bestätigt: Jede zweite alkoholabhängige Frauen war in ihrer Kindheit Opfer von sexuellem Missbrauch geworden, jede dritte Opfer allgemeiner körperlicher Gewalt.
Auch Frauen, die nach einer Kindheit mit Schlägen und Missbrauch als Erwachsene wieder in eine Gewaltbeziehung geraten, greifen nicht selten zur Flasche. „Für von Gewalt betroffene Frauen ist Alkohol oftmals eine Strategie, um erlittene Gewalt auszuhalten“, stellt der Fachverband Drogen und Rauschmittel fest. „Alkohol wird von Frauen, die häusliche Gewalt erleben, nicht nur zur Betäubung der Erinnerungen an bereits erlebte Gewalt konsumiert, sondern auch, um die Angst vor erneuter Gewalt zu dämpfen.“ Auch deshalb ist es wichtig, Kinder und Frauen vor Gewalt zu schützen.