Du fühlst dich verantwortlich
Am Tag neun seit den Kita- und Schulschließungen habe ich um 13 Uhr einen Termin für eine Telefonschalte. Vorher will ich meine dreijährige Tochter ins Bett bringen. Ich habe für sie und ihren Bruder Mittagessen gemacht, Fischstäbchen. Es gibt jetzt oft Fischstäbchen. Um eins tobt die Dreijährige immer noch im Bett herum. Ich werde unruhig, ich muss mich entscheiden. Chef oder Kind? Ich gehe zu meinem Mann, der im Esszimmer hinter zwei Bildschirmen sitzt. „Kannst du mal bitte“, sage ich, und mein Ton klingt schärfer als beabsichtigt.
Vor der Corona-Krise war unsere Arbeitsverteilung eigentlich klar: Ich arbeite Vollzeit, er arbeitet Teilzeit und holt am Nachmittag die Kinder aus der Kita ab. Den Haushalt teilen wir uns halbe-halbe. Wir sind Exoten, in Deutschland sind weniger als sechs Prozent der Männer in Teilzeit beschäftigt, aber 67 Prozent der Frauen.
Wird Corona zu einer Krise für den Feminismus, wie die britische Autorin Helen Lewis in der Zeitschrift The Atlantic schreibt?
Im Rückblick haben sich Krisenzeiten immer auch auf das Geschlechterverhältnis ausgewirkt. Nach dem Ersten Weltkrieg bekamen die Frauen endlich das Wahlrecht, für das sie so lange gekämpft hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Ostdeutschland Frauen in die Betriebe geholt. Nach 1989 wurden zunächst einmal viele Frauen arbeitslos; zwischen 1990 und 1994 schrumpfte die Geburtenrate um die Hälfte.
Wird nach der Corona-Krise die Zahl der Geburten ansteigen, weil alle zu Hause sind? Ich vermute mal: höchstens bei Paaren, die noch keine Kinder haben.
Das Wissenschaftszentrum Berlin hat eine Online-Befragung dazu gestartet, wie sich durch Corona der Familienalltag und das Geschlechterverhältnis verändern. Ein Anruf bei der Soziologin Mareike Bünning, die die Idee zur Umfrage hatte. „Mich interessiert, wie sich die Krise sozial auswirkt“, sagt sie. Wer den Fragebogen anklickt, wird zum Beispiel gefragt, ob der Arbeitgeber das Arbeiten im Homeoffice unterstützt oder wie sich Paare vor und während der Krise die Kinderbetreuung aufteilen. Mehr als zehntausend Menschen haben den Fragebogen geöffnet, drei Viertel davon haben ihn auch vollständig beantwortet.
Eigentlich wollten Mareike Bünning und ihr Team mit der Auswertung schon weiter sein. Weil die meisten Forscherinnen aber mit kleinen Kindern zu Hause sind, geht es etwas langsamer voran. Außerdem träfen jeden Tag neue Antworten ein, sagt die Soziologin.
Doch was ist ihr Eindruck? Wie wirkt sich die Krise auf Beziehungen aus und auf die Gleichberechtigung? Mareike Bünning holt aus und wird grundsätzlich: „Wenn es um Vereinbarkeit geht, dann passen Frauen ihre Arbeitsbedingungen stärker an die Lebensumstände der Kinder an als Männer, das wissen wir aus früheren Studien. Es ist wahrscheinlich, dass es wieder in eine traditionellere Rollenverteilung kippt.“
Das Auftauchen des Coronavirus hat auch unsere scheinbar so gleichberechtigte Beziehung auf den Kopf gestellt. Unser Konstrukt beruhte darauf, dass wir die Kinderbetreuung zumindest für Stunden an andere delegieren. Das funktioniert nur nicht mehr. Und so sind wir in alte Verhaltensmuster geschlittert. Mein Mann konzentriert sich auf die Arbeit und kann das Chaos um ihn herum vergessen. Ich fühle mich für alles
verantwortlich, Essen einkaufen, Essen kochen, Kinder organisieren und beschäftigen. Ich bin gereizt. Mich nerven die Bastelanleitungen, die überall kursieren. Mich nerven die Bilder von idyllischen Familienausflügen an Wochentagen.
Mein Problem ist nicht, wie ich die Kinder beschäftigen soll. Mein Problem ist, wie man Kinderbetreuung, Haushalt und Erwerbsarbeit in den eigenen vier Wänden verbindet, ohne durchzudrehen. „Seit das Coronavirus draußen sein Unwesen treibt, bin ich hier drinnen Arbeitnehmerin, Mutter, Lehrerin, Erzieherin, Anti-Langeweile-Clown und Kantinen-Chefin. Für die meisten Jobs bin ich weder geeignet noch qualifiziert“, schreibt die Bloggerin Marlene Ottendörfer.
Gleichzeitig aber kommen mir meine Beschwerden kleingeistig und egoistisch vor, wenn ich sehe, wie viel andere Frauen gerade schuften und aushalten müssen. Frauen, die keinen Partner haben, den sie um Hilfe bitten können. Frauen, die Zwölf-Stunden-Schichten schieben.
Schon nach wenigen Tagen hat der Berliner Senat die Regeln für die Notbetreuung von Kindern lockern müssen. Hieß es am Anfang, beide Elternteile müssten in einem systemrelevanten Beruf tätig sein, hieß es bald, auch ein Elternteil genüge. Weil man gemerkt hat, dass sonst die Frauen in den Krankenhäusern, Pflegediensten und Supermärkten wegbleiben. Das Kalkül, dass die nicht in systemrelevanten Jobs arbeitenden Väter die Kinderbetreuung übernehmen, ist wohl nur in Einzelfällen aufgegangen.
Es gibt noch keine Studien darüber, wie sich die Corona-Krise auf das Geschlechterverhältnis auswirkt. Dazu ist es noch zu früh. In dem Artikel in The Atlantic werden Untersuchungen zitiert, die nach früheren Epidemien wie Ebola, Zika und Sars durchgeführt worden sind. Demnach erlitten Frauen mittelfristig stärkere finanzielle Einbußen als Männer.
Die amerikanische Wirtschaftsprofessorin Emily Foster, Autorin mehrerer datenbasierter Bücher zu Schwangerschaft und Erziehung, sagt, es gebe noch keine Daten zur aktuellen Krise. Sie habe allerdings an ihrer Universität beobachtet, schreibt sie in einer E-Mail, dass ihre männlichen Kollegen sehr produktiv seien, Papiere veröffentlichten, während die weiblichen Mitarbeiter damit kämpften, wie sie Kinderbetreuung und Forschung unter einen Hut bekommen sollen.
Am Ende der zweiten Woche seit der Kita-Schließung habe ich ein längeres Gespräch mit meinem Mann. Ich sage, dass es nicht so weitergehe. Er sagt: „Warum fühlst du dich für alles verantwortlich?“ Wir reden über unsere Arbeitsverteilung und machen einen Plan. Wir bestimmen Zuständigkeiten für jeden Tag: Wer macht Frühstück? Wer kauft ein? Wer geht mit den Kindern raus? Das ist unromantisch, aber es funktioniert.
Mareike Bünning sagt, in den Familien, in denen die Frauen in systemrelevanten Berufen arbeiten, könnte etwas in Bewegung kommen. „Wir sehen in der Krise, wie wichtig viele klassische Frauenberufe sind. Ich hoffe, dass sie eine Aufwertung erfahren“, sagt Bünning.
Seit der Schließung der Kita sind dreieinhalb Wochen vergangen, draußen vor dem Fenster werden die Birken grün. In unserem Esszimmer stehen fünf Bildschirme, alle voll in Benutzung. Nach dem Mittagsschlaf steht meine Tochter weinend neben mir, ich soll mit ihr runtergehen in den Garten. Ich schaue auf die Uhr, 14 Uhr, da geht die Zeitungsproduktion langsam los. Wie erkläre ich das der Dreijährigen? Ich muss noch arbeiten, sage ich. „Du nicht arbeiten, du mir vorlesen“, sagt sie. Mein Mann trägt sie weg, sie weint bitterlich, sie schreit: „Mama, Mama.“ Ihre Stimme bohrt sich in mein Herz. Die Zerrissenheit, die man sonst schon als berufstätige Mutter spürt, ist noch größer geworden. Habe ich abends die Kinder ins Bett gebracht, schauen mich die Bildschirme anklagend an.
Kathrin Mahler-Walther, ist Geschäftsführerin der EAF Berlin, einer Organisation, die Politik und Wirtschaft zu Chancengleichheit und Vielfalt berät. Die EAF hat mehrere Studien gemacht, die belegen, dass das Homeoffice Frauen und Männern hilft, Karriere und Familie zu verbinden, weil es mehr Flexibilität erlaubt. Die gegenwärtige Situation überfordere allerdings viele Mütter und Väter, weil sie den Spagat zwischen Familienarbeit und Berufstätigkeit in den eigenen Wänden bewältigen müssen. Viele seien durch die Corona-Krise ins Homeoffice-Arbeiten reingerutscht, ohne damit Erfahrung zu haben und ohne dass es betriebliche Vereinbarungen dazu gebe. „Viele Vorgesetzte wollen jeden Schritt kontrollieren. Das ist kontraproduktiv.“
Am Ende der vierten Woche sitzen wir mittags am Küchentisch, mein Mann steckt in einer Schalte. Es gibt Tütensuppe, die habe ich seit meiner Studienzeit nicht mehr gemacht. Die Kinder löffeln begeistert. „Ich vermisse die Kita“, sage ich. „Vermisst ihr die Kita?“ – „Nein“, sagt meine Tochter. „Nein“, sagt mein Sohn. „Ich vermisse nur Oma und Opa und meine Cousins.“
SABINE RENNEFANZ
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