Warum nicht mal Mut zur Lücke?
"Weiße alte Männer“ sind eigentlich nicht meine Vorbilder. Aber ich gestehe, es gibt da einige, deren Lebenswege für mich in ganz bestimmter Hinsicht aufschlussreich waren. Es waren jene Lehrer, die im Zweiten Weltkrieg Jahre an der Front oder in Gefangenschaft verbrachten, und die ich während meiner Ausbildung als nobelpreisverdächtige Laborleiter und überaus engagierte Klinikchefs erlebte. Manche von ihnen erzählten von ihren Entbehrungen und wie es ihnen trotz der verlorenen Zeit gelungen war, wieder an ihre früheren Tätigkeiten anzuknüpfen.
Diese alten Herren pflanzten mit ihren Geschichten einen Optimismus-Keim in mir: Die nie versiegende Zuversicht, dass es für die Verwirklichung beruflicher Ambitionen nicht zu spät sein muss, wenn man eine Zeitlang ausgebremst war.
Ein solches Zutrauen vermisse ich heutzutage schmerzlich. Man stelle sich vor, eine gut ausgebildete Frau käme auf die Idee, in einem anspruchsvollen Umfeld Karriere machen zu wollen, nachdem sie Jahre zu Hause bei ihren Kindern verbracht hat. Oder ein Vater sagte zu Frau Nahles: „Die Jahre, die Sie mir am Ende der Lebensarbeitszeit als Rente mit 63 schenken wollen, die würde ich gerne jetzt zur Elternzeit dazuschlagen“ – plus bitte ein Sabbatical, das Frau Nahles als Arbeitsministerin auch durchaus unterstützen wollte.
Das klingt ungewohnt. Denn jede Kinderpause, bereits jede Teilzeitphase gilt derzeit als Sargnagel für die Karriere, weil nur ein einziges Modell konsensfähig zu sein scheint: Dranbleiben, Kinder und Familie gleichzeitig stemmen, sich der Rushhour des Lebens stellen. Das ist nur zu verständlich. Denn die Generation, die sich aktuell mit der Doppelbelastung herumschlägt, hat die bittere Lektion der Mütter gelernt: Frauenförderung war damals so rar wie eine Kita. Eine Polin für die demente Mutter konnte man steuerlich absetzen, das Au-pair-Mädchen nicht.
Auch gut ausgebildete Frauen, die heute jenseits der 50 sind, haben seinerzeit noch häufig pausiert, blieben erstmal bei den Kindern – und haben so oft den Anschluss verpasst. Vielen ist dies heute erkennbar peinlich, sie müssen sich mit Ehrenämtern und sozialem Engagement zufriedengeben; sie hübschen in Gesprächen ihre Pöstchen auf, die eigentlich eine Verlegenheitslösung sind und nicht ihren Ansprüchen genügen; sie geben sich vielbeschäftigt, als wären sie Teil der echten Berufswelt. Selbst wenn sie finanziell durch gutverdienende Ehemänner versorgt sind, macht es das nicht besser, nur leichter.
Ein Blick auf die Tätigkeiten, die früher für gut ausgebildete Frauen einen Ausweg bedeuteten, zeigt, dass sie solche bevorzugten, die Flexibilität versprachen. Das belegt zum Beispiel die auffällige Vermehrung der Frauen unter den Freiberuflern, wie das „Institut für Freie Berufe“ nachweisen kann.
Von 1988 bis 2015 erhöhte sich der Prozentsatz der Ärztinnen unter den Niedergelassenen von 21 auf 38 Prozent, Anwältinnen kamen von fünf auf über 14, Notarinnen gelang es, von zunächst ein Prozent fast 20 Prozent der Sitze zu erobern. Selbst die immer schon zahlreich vertretenen Publizistinnen und Künstlerinnen legten nochmal merkbar zu und haben mittlerweile ihre männlichen Kollegen mit Quoten jenseits der 50-Prozent-Marke überflügelt. Neben dem LehrerInnen-Beruf, dem BeamtInnen-Status oder einer sonstigen Tätigkeit mit Wiedereinstiegsoption sind dies die Sparten, die vor allem für AkademikerInnen attraktiv sind. Die vergleichsweise freie Zeiteinteilung, die Chance, das Auftragspensum dem Entwachsen der Kinder anzupassen, das bieten diese Berufe eben eher als andere, noch dazu gepaart mit großer Eigenständigkeit.
Doch nur wenige Frauen schafften es in Führungspositionen, vorzugsweise da, wo keine formale Qualifikation erforderlich ist, etwa in der Politik. Ursula von der Leyen zum Beispiel ist der Quereinstieg in MinisterInnen-Ämter auch ohne die übliche Ochsentour gelungen. Aber sie inszeniert dies dennoch gern als geradlinige Karriere. Aus der vier Jahre langen Kinderpause mit Ehemann im Ausland wird der „Aufenthalt in Stanford“, sie war in Wahrheit lediglich „Gasthörerin“.
Was hat es für Folgen, wenn die einen, die viel erreicht haben, dies als bruchloses Fortkommen in Szene setzen, ohne zuzugeben, dass sie die Kinderpause gewagt und es dennoch geschafft haben? Was bewirken die anderen, die so tun, als wären sie auch nach der Kinderpause dennoch heute glanzvoll und ganztags tätig? Sie ermuntern die Jüngeren jovial, lassen sich von beflissenen Gleichstellungsbeauftragten zu Vorbildern stilisieren und klopfen sich bei Zonta und in anderen Frauenclubs gegenseitig auf die Schulter. Sie legen falsches Zeugnis ab vor ihren aufstrebenden Geschlechtsgenossinnen, die sich zwischen Kindern, Männern und beruflichen Träumen zerreiben, den Blick fest auf die vermeintlichen Allrounderinnen gerichtet.
Dem Diktat der pausenlosen Lebensläufe sehen sich vor allem die Männer nach wie vor noch mehr verpflichtet. Die Sozialministerien der Länder melden es schon als Erfolg, wenn mehr als 40 Prozent der Väter in Elternzeit gehen, bei Licht betrachtet aber meist nur zwei, allenfalls drei Monate. Das reicht für ein paarmal Windeln wechseln, aus dem Gröbsten raus sind Kinder damit natürlich noch lange nicht. Echte Aussetzer haben eine andere Dimension. Auch arbeiten die Männer nur selten in Teilzeit – neun Prozent meldete das statistische Bundesamt 2016. Und wenn, dann übrigens nicht wegen Familie, sondern wegen beruflicher Weiterbildung. Eine Kultur, die es Eltern erlaubte, freimütig der Kinder wegen mal die Arbeit ruhen zu lassen, sieht anders aus.
Gerade die Jüngeren schieben ihren Kinderwunsch immer weiter hinaus, die Angst im Nacken. Sie wagen erst an Nachwuchs zu denken, wenn der Hauptkarrieresprung gemeistert ist. Dieses ständige Aufschieben lässt manche den richtigen Zeitpunkt für Kinder verpassen, wie es Sarah Wagenknecht vor kurzem bewundernswert aufrichtig eingestand.
Der Qualifikationsmarathon dauert in unseren komplexen Arbeitswelten immer länger, und immer öfter verlieren Frauen den Wettlauf mit der Zeit, die Reproduktionsmedizin rettet die Sache meist auch nicht. Mentoring-Angebote, Förderprogramme, Eizell-Konservierung treiben manche Frauen zwar die Rampe hoch, aber auch in den Burnout.
Da sich die ältere Frauengeneration ihrer Kinderpause schämt, fehlt der jüngeren dafür die Rückendeckung. Dabei könnte die Gleichzeitigkeit längst aufgebrochen werden in ein Nacheinander, denn wir haben immer mehr Zeit: Von 1993 bis 2014 ist die Lebenserwartung weltweit um sechs Jahre gestiegen. 2016 lag das durchschnittliche Renteneintrittsalter in Deutschland laut statista.de bei 64 Jahren, ein deutsches Frauenleben währt jedoch im Mittel mit 89 Jahren schon heute ein Vierteljahrhundert länger, bei den Männern ist es nur geringfügig weniger. Das verschafft uns Zeit en masse, um die Lebensarbeitszeit zu splitten.
Dass sich auch von „silver agern“ anspruchsvolle Tätigkeiten bewältigen lassen, ist zur Genüge belegt bis hin zu Extremen: So musste die australische Edith Cowan Universität 2016 die Kündigung eines 102 Jahre alten Biologen zurücknehmen, weil dieser weiterhin (unentgeltlich) dort arbeiten wollte. Und gerade hat sich der 81-jährige Helmut Markwort ein FDP-Landtagsmandat in Bayern geholt. Zurzeit sprießen Stellenofferten für bereits pensionierte Professoren wie Pilze aus dem Boden.
Aber die Berufungsgrenzen anzuheben, damit sich auch jene, die später durchgestartet sind, überhaupt erst einmal auf eine Professur bewerben könnten, daran denkt offenbar niemand. Das Statistische Bundesamt weist aus, dass immer mehr ältere Menschen immer länger arbeiten. Von 2005 bis 2014 hatte sich die Zahl derer, die von 65 bis 69 einer Erwerbstätigkeit nachgingen, verdoppelt. Mithin ließe sich das Arbeitsleben für gut ausgebildete Frauen wie Männer entzerren – was für die reproduktive Phase der Frauen zumindest nicht gilt. Die Eizellreserve ist mit Mitte Dreißig so gut wie aufgebraucht, Gehirnzellen halten hingegen viel länger durch. Dennoch bleibt „Kinder zuerst, Karriere später“ im Moment eine Utopie, weil sich leider niemand die Profilierung von Eltern auf die Fahne schreibt.
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