Warum nicht mal Mut zur Lücke?

"Nest", 1979, Estate Birgit Jürgenssen, Courtesy Galerie Hubert Winter, Vienna, Bildrecht Vienna, 2018
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"Weiße alte Männer“ sind eigentlich nicht meine Vorbilder. Aber ich gestehe, es gibt da einige, deren Lebenswege für mich in ganz bestimmter Hinsicht aufschlussreich waren. Es waren jene Lehrer, die im Zweiten Weltkrieg Jahre an der Front oder in Gefangenschaft verbrachten, und die ich während meiner Ausbildung als nobelpreisverdächtige Laborleiter und überaus engagierte Klinikchefs erlebte. Manche von ihnen erzählten von ihren Entbehrungen und wie es ihnen trotz der verlorenen Zeit gelungen war, wieder an ihre früheren Tätigkeiten anzuknüpfen.

Diese alten Herren pflanzten mit ihren Geschichten einen Optimismus-Keim in mir: Die nie versiegende Zuversicht, dass es für die Verwirklichung beruflicher Ambitionen nicht zu spät sein muss, wenn man eine Zeitlang aus­gebremst war.

Ein solches Zutrauen vermisse ich heutzutage schmerzlich. Man stelle sich vor, eine gut ausgebildete Frau käme auf die Idee, in einem anspruchsvollen Umfeld Karriere machen zu wollen, nachdem sie Jahre zu Hause bei ihren Kindern verbracht hat. Oder ein Vater sagte zu Frau Nahles: „Die Jahre, die Sie mir am Ende der Lebensarbeitszeit als Rente mit 63 schenken wollen, die würde ich gerne jetzt zur Elternzeit dazuschlagen“ – plus bitte ein Sabbatical, das Frau Nahles als Arbeitsministerin auch durchaus unterstützen wollte.

Das klingt ungewohnt. Denn jede Kinderpause, bereits jede Teilzeitphase gilt derzeit als Sarg­nagel für die Karriere, weil nur ein einziges Modell konsensfähig zu sein scheint: Dranbleiben, Kinder und Familie gleichzeitig stemmen, sich der Rushhour des Lebens stellen. Das ist nur zu verständlich. Denn die Generation, die sich aktuell mit der Doppelbelastung herumschlägt, hat die bittere Lektion der Mütter gelernt: Frauenförderung war damals so rar wie eine Kita. Eine Polin für die demente Mutter konnte man steuerlich absetzen, das Au-pair-Mädchen nicht.

Auch gut ausgebildete Frauen, die heute jenseits der 50 sind, haben seinerzeit noch häufig pausiert, blieben erstmal bei den Kindern – und haben so oft den Anschluss verpasst. Vielen ist dies heute erkennbar peinlich, sie müssen sich mit Ehrenämtern und sozialem Engagement zufriedengeben; sie hübschen in Gesprächen ihre Pöstchen auf, die eigentlich eine Verlegenheits­lösung sind und nicht ihren Ansprüchen genügen; sie geben sich vielbeschäftigt, als wären sie Teil der echten Berufswelt. Selbst wenn sie finanziell durch gutverdienende Ehemänner versorgt sind, macht es das nicht besser, nur leichter.

Ein Blick auf die Tätigkeiten, die früher für gut ausgebildete Frauen einen Ausweg bedeuteten, zeigt, dass sie solche bevorzugten, die Flexibilität versprachen. Das belegt zum Beispiel die auf­fällige Vermehrung der Frauen unter den Frei­beruflern, wie das „Institut für Freie Berufe“ nachweisen kann.

Von 1988 bis 2015 erhöhte sich der Prozentsatz der Ärztinnen unter den Niedergelassenen von 21 auf 38 Prozent, Anwältinnen kamen von fünf auf über 14, Notarinnen gelang es, von zunächst ein Prozent fast 20 Prozent der Sitze zu erobern. Selbst die immer schon zahlreich vertretenen Publizistinnen und Künstlerinnen legten nochmal merkbar zu und haben mittlerweile ihre männlichen Kollegen mit Quoten jenseits der 50-Prozent-Marke überflügelt. Neben dem LehrerInnen-Beruf, dem BeamtInnen-Status oder einer sonstigen Tätigkeit mit Wiedereinstiegsoption sind dies die Sparten, die vor allem für AkademikerInnen attraktiv sind. Die vergleichsweise freie Zeiteinteilung, die Chance, das Auftragspensum dem Entwachsen der Kinder anzupassen, das bieten diese Berufe eben eher als andere, noch dazu gepaart mit großer Eigenständigkeit.

Doch nur wenige Frauen schafften es in Führungspositionen, vorzugsweise da, wo keine formale Qualifikation erforderlich ist, etwa in der Politik. Ursula von der Leyen zum Beispiel ist der Quereinstieg in MinisterInnen-Ämter auch ohne die übliche Ochsentour gelungen. Aber sie inszeniert dies dennoch gern als geradlinige Karriere. Aus der vier Jahre langen Kinderpause mit Ehemann im Ausland wird der „Aufenthalt in Stanford“, sie war in Wahrheit lediglich „Gasthörerin“.

Was hat es für Folgen, wenn die einen, die viel erreicht haben, dies als bruchloses Fortkommen in Szene setzen, ohne zuzugeben, dass sie die Kinderpause gewagt und es dennoch geschafft haben? Was bewirken die anderen, die so tun, als wären sie auch nach der Kinderpause dennoch heute glanzvoll und ganztags tätig? Sie ermuntern die Jüngeren jovial, lassen sich von beflissenen Gleichstellungsbeauftragten zu Vorbildern stilisieren und klopfen sich bei Zonta und in anderen Frauenclubs gegenseitig auf die Schulter. Sie legen falsches Zeugnis ab vor ihren aufstrebenden Geschlechts­genossinnen, die sich zwischen Kindern, Männern und beruflichen ­Träumen zerreiben, den Blick fest auf die vermeintlichen Allrounderinnen gerichtet.

Dem Diktat der pausenlosen Lebensläufe sehen sich vor allem die Männer nach wie vor noch mehr verpflichtet. Die Sozialministerien der Länder melden es schon als Erfolg, wenn mehr als 40 Prozent der Väter in Elternzeit gehen, bei Licht betrachtet aber meist nur zwei, allenfalls drei Monate. Das reicht für ein paarmal Windeln wechseln, aus dem Gröbsten raus sind Kinder damit natürlich noch lange nicht. Echte Aussetzer haben eine andere Dimension. Auch arbeiten die Männer nur selten in Teilzeit – neun Prozent meldete das statistische Bundesamt 2016. Und wenn, dann übrigens nicht wegen Familie, sondern wegen beruflicher Weiterbildung. Eine Kultur, die es Eltern erlaubte, freimütig der Kinder wegen mal die Arbeit ruhen zu lassen, sieht anders aus.

Gerade die Jüngeren schieben ihren Kinderwunsch immer weiter hinaus, die Angst im Nacken. Sie wagen erst an Nachwuchs zu denken, wenn der Hauptkarrieresprung gemeistert ist. Dieses ständige Aufschieben lässt manche den richtigen Zeitpunkt für Kinder verpassen, wie es Sarah Wagenknecht vor kurzem bewundernswert aufrichtig eingestand.

Der Qualifikationsmarathon dauert in unseren komplexen Arbeitswelten immer länger, und immer öfter verlieren Frauen den Wettlauf mit der Zeit, die Reproduktionsmedizin rettet die Sache meist auch nicht. Mentoring-Angebote, Förderprogramme, Eizell-Konservierung treiben manche Frauen zwar die Rampe hoch, aber auch in den Burnout.

Da sich die ältere Frauengeneration ihrer Kinderpause schämt, fehlt der jüngeren dafür die Rückendeckung. Dabei könnte die Gleichzeitigkeit längst aufgebrochen werden in ein Nacheinander, denn wir haben immer mehr Zeit: Von 1993 bis 2014 ist die Lebenserwartung weltweit um sechs Jahre gestiegen. 2016 lag das durchschnittliche Renteneintrittsalter in Deutschland laut statista.de bei 64 Jahren, ein deutsches Frauenleben währt jedoch im Mittel mit 89 Jahren schon heute ein Vierteljahrhundert länger, bei den Männern ist es nur geringfügig weniger. Das verschafft uns Zeit en masse, um die Lebensarbeitszeit zu splitten.

Dass sich auch von „silver agern“ anspruchsvolle Tätigkeiten bewältigen lassen, ist zur Genüge belegt bis hin zu Extremen: So musste die australische Edith Cowan Universität 2016 die Kündigung eines 102 Jahre alten Biologen zurücknehmen, weil dieser weiterhin (unentgeltlich) dort arbeiten wollte. Und gerade hat sich der 81-jährige Helmut Markwort ein FDP-Landtagsmandat in Bayern geholt. Zurzeit sprießen Stellenofferten für bereits pensionierte Professoren wie Pilze aus dem Boden.

Aber die Berufungsgrenzen anzuheben, damit sich auch jene, die später durchgestartet sind, überhaupt erst einmal auf eine Professur bewerben könnten, daran denkt offenbar niemand. Das Statistische Bundesamt weist aus, dass immer mehr ältere Menschen immer länger arbeiten. Von 2005 bis 2014 hatte sich die Zahl derer, die von 65 bis 69 einer Erwerbstätigkeit nachgingen, verdoppelt. Mithin ließe sich das Arbeitsleben für gut ausgebildete Frauen wie Männer entzerren – was für die reproduktive Phase der Frauen zumindest nicht gilt. Die Eizellreserve ist mit Mitte Dreißig so gut wie aufgebraucht, Gehirnzellen halten hingegen viel länger durch. Dennoch bleibt ­„Kinder zuerst, Karriere später“ im Moment eine Utopie, weil sich leider niemand die Profilierung von Eltern auf die Fahne schreibt.

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Mein Leben als Trotzdem-Mutter

Mutter Annika mit Ben und Henriette.
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Immer, wenn über Mutterschaft mit ihren Tücken neu verhandelt wird, fehlt vor allem eines: eine Lösung. Die Ausgangsbasis: Die Kleinfamilie wird sich in nächster Zeit genauso wenig auflösen wie das Kita-Platz-Pro­blem. Eier einfrieren lassen erscheint vielen Frauen ebenso absurd wie die Option, mit 60 noch schwanger zu werden.

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Noch immer grätscht ein Kind in den Beruf, und noch immer ist der Großteil aller Väter nur dabei statt mittendrin. Bleibt eigentlich nur ein Fazit: Lasst es lieber! Gibt nur Ärger.

Diese Option aber ist für mich passé, ich habe bereits zwei Kinder. Und ich habe die Entscheidung keine Sekunde bereut.

„Jetzt haltet mal den Rand!“, das möchte ich so manches Mal all denen entgegnen, die meinen, sich mal wieder über Mütter auslassen zu müssen. Hier die versnobten Latte-Macchiato-Mütter, da die verrückten Helikopter-Glucken. Haha.

Dann wären da noch die zutiefst zu bedauernden Alleinerziehenden, die Bugaboo-schiebenden Prenzlauer-Berg-Mamas und die veganen Schnippel-Muttis, die mit Superfoods ihre Familien fit machen. Nicht mehr das Mutterkreuz ist die Krönung der Schöpferinnen, sondern der Windelfrei-Eimer, dessen Nutzung Babys Po vor Chemie und dazu noch unsere Umwelt rettet. Karriere machen darf die Mama zwar immer noch nicht, aber nur zu Hause bleiben ist ja wohl total 50er.

Was bei der Diskussion um Mutterschaft fehlt: Ehrlichkeit!

Wenn Mütter all das ernst nehmen würden, was ihnen da suggeriert wird, dann gäbe es bald keine mehr. Doch die Realität sieht anders aus. Mütter sind immer noch Menschen, und die sind bekanntlich verschieden. Lasst ihnen doch den Kaffee! Vielleicht brauchen sie den nach der durchwachten Nacht. Und nicht jede Mutter helikoptert, nur weil sie mal mit auf dem Spielplatz hockt. Ich mache das manchmal auch. Weil ich zwar meinem Kind, aber nicht allen Mitmenschen vertraue.

Jenseits aller Klischees und Rollenzuschreibung sollte es bei einer ernstzunehmenden Diskussion über Mutterschaft doch wohl vor allem um eines gehen: Ehrlichkeit. Zum Beispiel darüber, was auf Frauen zukommt, wenn sie Mutter werden.

Ja, dein Leben wird sich grundlegend ändern. „Ich hab‘ auch noch ein Leben!“ höre ich oft von Vätern, die glauben, zu kurz zu kommen. Die Wahrheit ist: Nein, hast du nicht. Hat deine Frau ja auch nicht! Zumindest nicht im ersten Baby-Jahr, da müssen Eltern sich zusammenreißen und hintenanstellen. Ihr werdet nicht in Jahreszeiten, sondern in „Phasen“ leben. Phasen, die vorübergehen und die im Nachhinein gar nicht so schlimm waren. Einige werdet ihr sogar genießen.

Jede zweite Ehe wird derzeit in Deutschland geschieden, die meisten, wenn das Kind ein Jahr alt wird. Der am häufigsten genannte Grund ist „mangelndes Verständnis“ der/des anderen. Um sich verstehen zu können, muss man miteinander reden, Pflichten klären, einen verbindlichen Pakt darüber schließen, wie ein Familienleben aussehen soll, mit dem beide zufrieden sein können.

Frauen verhandeln nicht - aus Angst vor Liebesverlust

Aus Angst vor Liebesverlust vergessen Frauen oft, über die Arbeitsteilung zu verhandeln und die Väter in die Pflicht zu nehmen. Und dann haben sie den Salat.

Krankenkassen sollten mal darüber nachdenken, nicht nur Geburtsvorbereitungskurse zu finanzieren, sondern auch in die Nachsorge zu investieren. Dank Hebammennotstand stehen viele frischgebackene Mütter allein auf weiter Flur. Und entgegen der allseitigen Annahme, dass das Wissen über die Baby-Versorgung so etwas wie gottgegeben ist, bräuchten sie viel öfter einen guten Rat, wenn das Baby da ist. Väter müssten ebenfalls besser auf die Zeit mit einem Baby vorbereitet werden, sich Klarheit darüber verschaffen, was sich ändern wird. Und das geht weit über ein mun­teres Sexualleben und ein sauberes Auto hinaus.

Und FrauenärztInnen müssten aufhören, werdende Mütter verrückt zu machen. Wie viele Sorgen in Bezug auf die Gesundheit des werdenden Kindes lösen sich später in Luft auf? Oft würden schon bessere Ultraschallgeräte die ständige ­Orakelei hinfällig machen.

Vor allem: Frauen mit und ohne Kinder sollten sich nicht voneinander abgrenzen, sondern zusammenhalten, schon aus Solidarität zur eigenen Mutter. Und Mütter sollten aufhören, kinderlose Frauen zu bemitleiden.

Auch die Mütter müssen nicht alles mitmachen, nur weil es „alle“ machen. Nicht alle Frauen wollen sich „Hänschen klein“ singend in der Krabbelgruppe über den Boden wälzen. Und wenn doch, dann ist das doch auch okay. Wer sonst ein todernstes Leben hat, der genießt es vielleicht, für ein paar wenige Monate in der wohligen Babyblase zu kullern. Die Zeit vergeht so schnell.

Okay, wenn das Stillen klappt; wenn nicht, geht die Welt auch nicht davon unter. Psychischer Stress der Mutter ist viel blöder für das Kind als Fertig-Milch.

Es muss für beide Eltern normal werden, Elternzeit zu nehmen

Und Alleinerziehende brau­chen keine Beileidsbekundungen, sondern gerechte Steuern und flexible ArbeitgeberInnen. Fehlende Kita-Plätze sind nicht der einzige Grund für den Geburtenrückgang, sondern auch Arbeitszeiten, die Müttern und Vätern weder Sicherheit noch Flexibilität bieten. Es sollte für beide Elternteile normal sein, gleichermaßen Elternzeit zu nehmen. Noch immer wird kein Mann, der drei Kinder hat, gefragt, wie er das denn wohl schaffe.

Grundsätzlich sollte es einfach normaler sein, ein Kind zu bekommen und zu haben, finde ich. Das funktioniert in anderen Ländern ja auch. Mein Leben mit Kindern ist das Beste, was ich mir vorstellen kann. Mein Sohn und meine Tochter bringen mich zwar manchmal an meine Grenzen, nicht aber an den Rand der Verzweiflung. Und ich habe selten so viel gelacht.

Die zwei erleben eine 50/50 geteilte Elternschaft. Was zu machen ist, wird gemacht, von beiden Eltern. Wir wickeln beide, kochen Essen, kaufen ein, putzen das Klo, gehen zur Kinder­ärztin, auf den Spielplatz oder zum Elternabend in den Kindergarten. Aber eines muss ich zugeben: Meine Kinder haben nicht eine Mutter und einen Vater, sondern zwei Mütter. Doch warum sollte nicht einer Frau und einem Mann dasselbe gelingen, was auch zwei Frauen ­schaffen?

Annika Ross

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