Was habe ich mit Majdanek zu tun?
Dieser NS-Prozess vor dem Düsseldorfer Landgericht ist der größte - und heimlichste -, der je stattfand in der Bundesrepublik. 250.000 Menschen wurden in dem Lager ermordet; neun der Mitschuldigen sitzen hier vor Gericht, darunter vier Frauen. Später erfahre ich, dass der Mann, der mich angesprochen hatte, der Anwalt der Angeklagten Ryan ist, im KZ "die Stute" genannt, weil sie besonders viel trat und schlug.
Als ich abends nach Köln zurückfuhr, fing ich Streit an in der Redaktion. Ich konnte es nicht ertragen an diesem Tag, dass es Menschen gibt, die nur 40 Kilometer entfernt von diesem Gerichtssaal kaum etwas wussten von dem Prozess, ja, vielleicht auch gar nichts wissen wollten. Menschen, die ihre Alltagsprobleme haben, über Drucktermine reden und das aktuelle Kinoprogramm. Einige Tage später gehörte ich wieder zu ihnen...
Doch vergessen habe ich nicht. Denn: Mit Majdanek habe ich viel zu tun. Sehr viel sogar. Ich habe das Glück, aus einer antifaschistischen Familie zu kommen. Kein großer, kein politischer Widerstand, aber immerhin eine kleine, private Resistenz: Einkaufen in jüdischen Läden auch nach '38, Kriegsgefangene mit durchfüttern, Schwarzsender hören, sich um den Heil-Hitler-Gruß herummauscheln. Mich, das 1942 geborene Kind, zogen sie im vollen Bewußtsein um das Passierte auf. So kam es, dass das erste große Unrecht, das mir schmerzlich bewusst wurde, das gegen die Juden begangene war. Nicht zuletzt die Auschwitz-Fotos nährten in mir einen flammenden Gerechtigkeitssinn.
Als ich mit 21 erstmals außerhalb von Deutschland, in Frankreich, lebte, habe ich mich geschämt für meinen deutschen Kopf. Nein, schuldig fühlte ich mich nicht, aber das Wort von der Kollektivscham leuchtete mir sehr ein. Und je länger ich im Ausland blieb, um so mitverantwortlicher fühlte ich mich für das, was in meiner Heimat geschehen war.
Es war kein Widerspruch, dass ich gleichzeitig und gerade in Frankreich die internationalen Dimensionen und Verflechtungen des Faschismus begriff. Ich sah, dass Antisemitismus keine teutonische Erfindung ist. Ich lernte, dass Hitler ohne die Komplizenschaft des Auslandes nie hätte an die Macht kommen können. Ich begriff, dass genau die Interessengruppen, die das Naziregime an die Macht gebracht hatten als Bollwerk gegen Revolution und Kommunismus, auch heute noch das Zepter in der Hand halten. Und - ich sah auch am französischen Stecken den Dreck, sah die Massaker von Vietnam und Algerien.
Doch die Last der anderen nahm mir nicht meine Bürde. Sicher, die Mehrheit der Deutschen hat tatsächlich nichts gewusst von der Vernichtung. Aber sie hat etwas gewusst von der Verachtung, die diese Vernichtung überhaupt erst möglich machte. Da behandelten Menschen andere Menschen, mit denen sie bis dahin im selben Haus lebten, im selben Betrieb arbeiteten, plötzlich wie Vieh! Gründe und Erklärungen dafür gibt es viele, als Auslöser jedoch genügte eines: Es war erlaubt, ja, wurde gutgeheißen. Die Juden. Die anderen. Die Untermenschen.
Die arische "Elite" durfte sie missachten, anspucken, berauben, quälen, töten. Und sie tat es. Fast alle machten mit. Die Mehrheit passiv (indem sie es geschehen ließ), der Rest aktiv: angefangen beim Verjagen des "dreckigen Juden" vom Sitzplatz in der Straßenbahn bis hin zum Totschlag ganz "nebenbei" und zur "befehlsgemäß durchgeführten" millionenfachen Ermordung. Das alles ist möglich, wenn Menschen sich über Menschen erheben; wenn Ideologie und Macht ihnen die Verfügungsgewalt geben, bis hin zur Entscheidung über Leben und Tod. Das ist der Grundgedanke des Faschismus, lebendig zwischen Herren und Sklaven, Mächtigen und Ohnmächtigen, Männern und Frauen. Wobei wir nicht die Augen davor verschließen dürfen, dass in einem Männerstaat wie dem 3. Reich das Frausein nicht vor dem Schuldigwerden schützte. Die Angeklagten Hermine Ryan ("die Stute") und Hildegard Lächert (die ",blutige Brigyda") sind schmerzliche Beweise.
Es ist unnötig, das Grauen zu vergleichen, denn auch die millionenfache Unterdrückung wird individuell immer wieder einzeln in einem Herzen, einem Körper durchlitten. Dennoch nehmen die NS-Verbrechen in dem dunklen Teil der Menschheitsgeschichte einen besonderen Platz ein. Wir können und dürfen sie nicht behandeln wie normale Verbrechen! Soll eine Hildegard Lächert unbehelligt ihre Meißner Porzellansammlung (für die sie in ihrem Heimatdorf bekannt ist) pflegen können, während eine Rosa Mine in dem Getto des Nichtvergessenkönnens eingesperrt bleibt? Nein. Solange noch Opfer leben, kann es keine Milde für diese Henker geben.
Solange wir denken und fühlen können, müssen wir uns dem Ungeheuerlichen stellen, auf allen Ebenen: moralisch, politisch und juristisch. Die Tatsache, dass diese Prozesse extrem unbefriedigend verlaufen (in 84.403 Fällen ergingen nur 6.432 Urteile, davon nur 500 wegen Mordes oder Beihilfe; die Verurteilungsquote sank in der BRD von 9,9 Prozent in den Jahren zwischen 1945 und 1964 auf 1,5 Prozent in den Jahren zwischen 1965 und 1976) darf kein Argument zu ihrer Einstellung sein, sondern bestenfalls eines zu ihrer Veränderung. In der Bundesrepublik wird heute nicht nur die juristische Aufarbeitung der NS-Zeit verschleppt, bemäntelt und verdrängt, dasselbe geschieht mit der politischen und moralischen Aufarbeitung.
In der sich als liberal verstehenden Zeit stand jüngst neben einem Bericht zur Verjährungsfrage ein sogenanntes Psychogramm des ehemaligen NS-Rüstungsministers Albert Speer, der heute in der elterlichen Villa in Heidelberg lebt. Drei Folgen in Farbe, hochsensibel, mit Familienphotos und einem ganzseitigen Farbporträt Speers, neu aufgenommen von Leni Riefenstahl. Es fehlte auch nicht Speers schamlos wiederholte Behauptung, er habe von allem "nichts gewusst". Schlusssatz der Zeit-Serie: "Es muss Albert Speer jetzt Frieden gewährt werden."
Nur — wessen Frieden? Der Frieden, der da gefordert wird, das wäre ganz sicher ein Friedhofs-Frieden, auf dem die Gerechtigkeit begraben läge.
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