Was müssen wir tun!

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Natalie Asten (7) aus Erpfach in Bayern ist tot. Ihr Mörder Armin Schreiner (27) hatte zuvor schon fünf andere Frauen und Mädchen miß­­­handelt und „sexuell belästigt“. Dafür war er 1992 für viereinhalb Jahre ins Ge­fängnis gewandert – 1995 entließ man ihn vorzeitig. Die Richter und der Gutachter des Serientäters gingen von einer „günstigen Sozialprognose“ aus.

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Julie Lejeune (8), Melissa Russo (8), Eefje Lambreks (17) und An Marchal (19) aus Belgien sind tot. Ihr Mörder Marc Dutroux (39), der mit Duldung von Polizei und Justiz einen Kinderporno-Ring betrieb, war zum ersten Mal 1983 als Sexualverbrecher aufgefallen. Mindestens fünf – bewiesene – Vergewaltigungen folgten. 1989 wurde der gefährliche Wiederholungstäter zu 13 Jahren Haft verurteilt – 1992 war er wieder frei.

Stefanie Karl (18) ist tot. Im Januar 1995 wurde ihre Leiche in einem Müllschacht auf dem Gelände des Heizkraftwerks München Nord entdeckt. Ihr Mörder Mario Abend (35) war be­reits 1979 wegen Vergewaltigung und Körperverletzung zu einer mehrjäh­rigen Jugendstrafe verurteilt und vorzeitig aus der Haft entlassen worden. 1989 wurde er erneut wegen einer Ver­­gewaltigung angezeigt. Verfahren ein­gestellt: mangels Tatverdacht. 1991 die zweite Anzeige. Verfahren eingestellt: mangels Tatverdacht. 1994, zwei Wochen vor Stefanies Ermordung, die dritte Anzeige. U-Haft abgelehnt: mangels Fluchtgefahr. Nach dem Mord meldeten sich sieben weitere Frauen, die Mario Abend der Vergewaltigung beschuldigten. Sie hatten ihn nicht angezeigt – aus Angst, man würde ihnen nicht glauben.

Lotta Heitzer (8) aus München ist tot. Im August 1994 wurde sie auf einem Zeltplatz in der Nähe von Bordeaux in Frankreich von einem 35jährigen Deutschen vergewaltigt und ermordet. Wie sich später herausstellte, war Peter Franz bereits 1985 wegen „Totschlags“ an seiner 56-jährigen Nachbarin zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden. Als er „auf Freigang“ eine zweite Frau „an­­fiel“ wurde er für ein weiteres Jahr ins Gefängnis gesteckt. 1991 wurde er entlassen und für drei Jahre einer sogenannten „Füh­rung­s­aufsicht“ unterstellt. Und die bekam nicht mit, daß er 1993 eine 12jährige in Viersen tötete und eine 8jährige in Mönchengladbach vergewaltigte. Diese Taten gestand der Mann erst nach seiner Verhaftung in Frankreich.

Pasquale Brumann (20) ist tot. Ende Oktober 1993 wurde sie auf dem Zolliker­berg bei Zürich von dem Freigänger Erich Hauert (34) ermordet, der auf dem Weg zu seinem Therapeuten war. Im Juni 1985 war Hauert des „wiederholten Mordes, der wie­­derholten und fortgesetzten Notzucht, des wiederholten Raubes, des wieder­holten Diebstahls und weiterer Delikte“ für schuldig befunden und zu einer lebenslangen Haft­strafe verurteilt worden. Doch bereits 1988 – also drei Jahre nach seiner Verurteilung – hielt man ihn für so weit „resozia­lisiert“, daß man ihm Haft­urlaub gewährte.

Diese traurige Auflistung ließe sich unendlich fortsetzen. Vergewaltigungen und Sexualmorde sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten andauernd pas­siert. Aber bis vor kurzem waren sie nur Thema für die Boulevard-Presse und der „seriösen“ Presse allenfalls fünf Zeilen in der Rubrik „Vermischtes“ wert. Auf einmal jedoch stehen sie auf den Titelseiten. Nach Belgien ist nun auch der Fall in Bayern ein Politikum. Und das ist nicht etwa dem Staat zu verdanken, der – ob in Belgien oder Deutschland – die Täterinteressen bislang immer vor den Opferschutz stellte. Es liegt an der Bevölkerung, die sich nun endlich empört – allen voran die Mütter. Jeannette Brumann war es, die im Herbst 93 im Rundfunk und im Fernsehen auftrat, die Öffentlichkeit mobilisierte und die Einsetzung  einer Kommission erstritt, die den Umgang mit Sexualstraftätern in der Schweiz untersuchte. Pasquales Mutter: „Es darf nie wie­der passieren!“ Barbara Heitzer hat in München die Frauenarbeits­kreise „Täterarbeit versus Täterschutz“ und „Merkt euch ihre Namen“ initiiert. Lottas Mutter fordert „die Erfassung und Katalogisierung von Sexualverbrechen“ sowie die „Bekanntgabe von Freilassung und Aufenthaltsort der Täter“, um „po­­tentielle Opfer wenigstens vor schon bekannten Sexualtätern zu schützen“.Gabriele Karl,  deren Tochter die Begegnung mit dem mehrfachen Vergewaltiger Mario Abend nicht überlebte, hat die private Opfer­schutz­initiative „Opfer gegen Gewalt“ gegründet. „Damit die Täterlobby in unserem Land einen Gegenpart bekommt“, sagt Stefanies Mutter: „Wenn Gewalttäter auf Haft­urlaub töten, ist das kein humaner Strafvollzug, sondern ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ Gabriele Karl fordert alle Vergewaltigungs­opfer auf, die Täter anzuzeigen, was zur Zeit nur in zehn Prozent aller Fälle geschieht: „Dann werden sie wenigstens aktenkundig.“

Und die Eltern der kleinen Belgie­rinnen Julie Lejeune und Mélissa Russo ließen – mit Unterstützung einer privaten Opferschutzorganisation – überall im Land überlebensgroße Fotos an die Hauswände kleben, um ihre bereits im Juni 1995 verschwundenen Töchter zu finden. Als schließlich herauskam, daß die beiden Mädchen in einem Kellerloch erbärmlich verhungert waren – nicht zuletzt dank der Komplizität von Justiz und Polizei mit dem Mörder –, schrieben ihre Eltern in einem offenen Brief an den belgischen Staat: „Die Pädophilie hat unsere Töchter getötet. Aber auch die unglaubliche Leichtfertigkeit derjenigen, die unsere Kinder hätten schützen sollen.“

Die Kinder dieser Mütter sind tot, aber sie kämpfen trotzdem: Es sollen nicht noch mehr Kinder sterben! Woher kommt diese Entschlossenheit?

Der 20 Jahre währende Kampf von Fe­ministinnen gegen Sexualgewalt hat sie dazu ermutigt, sich nicht länger stillschweigend zu schämen. Sondern sich lauthals dagegen zu wehren, daß ihre Töchter vergewaltigt und zerstückelt, gefoltert und mißbraucht in Kellerlöchern und in Müllschächten verrotten. Diejenigen unter den Fe­mi­­­nistinnen, die früh die sexuelle Gewalt als Kern des Herrschaftsverhältnisses zwischen den Geschlechtern begriffen und anprangerten, haben von Anfang an darauf aufmerksam gemacht, daß nicht die Opfer schuld sind, sondern die Täter; daß Sexualmörder keine Einzelfälle sind, sondern konsequente Vollstrecker des Männlichkeitswahns; und daß Frauen endlich in die Offensive gehen müssen.

Der Boden für die Empörung, die sich jetzt breit macht, wurde bereitet von der Frauenhaus- und Notrufbewegung, von Gruppen wie „Wildwasser“, „Zartbitter“, „Solwodi“ und „Terre des Femmes“, von feministischen Juristinnen und von Emma – bis vor kurzem unter dem Schweigen oder dem Spott der Männerpresse.

Bereits in der ersten Emma im Februar 1977 prangerte Alice Schwarzer die „Männerjustiz“ an, die die Gewalt gegen Frauen als Kavaliersdelikt abtut. Im Oktoberheft 1977 folgte der Vorabdruck des Buches „Gegen unse­ren Willen“, in dem die amerikanische Feministin Susan Brownmiller mit der Mähr vom schwanzgesteuerten Triebtäter aufräumt: „Bei Vergewaltigung geht es nicht um Lust, sondern um Macht.“ Im April 78 berichtete Emma als erste deutsche Zeitschrift über „eines der größten Tabus und eines der größten Verbrechen der Män­nergesellschaft: Väter, die sich an den ihnen hilflos ausgelieferten Töchtern vergehen!“ Im Sommer 78 startete Emma die erste Sexismus-Klage in der Bundesrepublik – gegen die pornographischen Titelbilder des „stern“: „Wir lassen uns nicht erniedrigen! Frauen kämpfen um ihre Menschenwürde.“ Im April 80 fragte Alice Schwarzer: „Wie frei macht Pädophilie?“ Und im Oktober 87 lancierte Emma die „PorNo“-Kampagne: „Ist Pornographie erotisch? geil? modern? Oder ist Pornographie die Theorie der Vergewaltigung?“ – um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Im März 93, nach der bestialischen Ermordung Angelika Bayers direkt vor der Emma-Haustür, lancierte Emma die Kampagne „Stoppt Frauenhaß!“. Im Herbst 93 setzten wir uns gegen den „Backlash“ zur Wehr und enthüllten die „internationalen Ausmaße der Kinderfreunde-Connection“: „In Thailand zum Beispiel sind schon heute ganze Kinderheime in den Händen von Pädophilen.“ In dem Dossier „Mörder aus Lust“ zweifelte Emma im Spät­herbst 94 die Therapiefähigkeit von sogenannten Wiederholungstätern an und forderte ihre lebenslange Sicherheitsverwahrung.

Der Ruf der Feministinnen verhallte jahrelang scheinbar ungehört. Von den Medien wurden sie verlacht und vorgeführt. „Mißbrauch des Miß­brauchs“ schallte ihnen entgegen. Aber solche Töne sind seltener geworden. In der Presse sind plötzlich Sätze zu lesen, die bislang so ähnlich nur in der dafür gescholtenen Emma standen.

So denkt Ulrich Greiner, Ex-Feuilleton-Chef der „Zeit“ und erbitterter Gegner der PorNO-Kampagne, auf einmal laut darüber nach, ob die „Zugänglichkeit“ von Pornographie nicht doch „mit Hürden versehen“ werden müßte: in einer Welt der „totalen Por­nographierung“, in der „Kindfrauen als Models, Popstars oder Meisterschwimmer in erotisch aufreizender Pose Werbung machen für Kleider, Schokolade, Parfüm“. O-Ton Greiner: „Die Suggestion, die dabei entsteht, lautet, daß alles erlaubt, alles möglich, alles egal, alles verfügbar sei.“ Die FAZ, die bis vor kurzem noch an den „Triebtäter“ glaubte, hat plötzlich begriffen: „Die sexuelle Mißhandlung ist kein reines Sexualdelikt, sondern ein Gewaltdelikt, das aus einem Machtgefälle zwischen Mann und Frau, Erwachsenem und Kind entsteht.“

Und „Bild“ fragt: „Rückfallquoten bis zu 80 Prozent – hilft überhaupt eine Therapie?“ Das Boulevard-Blatt zitiert den psychiatrischen Gutachter Prof. Dr. Wilfried Rasch, der überzeugt ist, daß es bei Sexualstraftaten nicht um Triebe, sondern „um Rache, Macht und Kontrolle“ geht. Sein Fazit: „Das wichtigste Geschlechtsorgan ist das Gehirn.“ (also auch die durch Pornos aufgeheizte Phantasie). Die feministische Saat scheint aufzugehen. Und es sind nicht die Mütter allein, die sich zu wehren beginnen. In Herten gingen Tausende auf die Straße, um gegen den Bau einer foren­sischen Klinik für psychisch kranke Sexualstraftäter mitten in der Stadt zu protestieren. In Waldbröl stellten sich der „Frauenstammtisch“ und die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF) an einem Samstagmorgen Mitte September auf den Markt, um Unterschriften gegen den sexuellen Mißbrauch zu sammeln. Motto: „Belgien ist über­all.“ In wenigen Stunden kamen 400 Unterschriften zusammen.

Und die Journalistin Constanze Elsner startete in Zusammenarbeit mit dem „Weißen Ring“ (WR) Ende September die Aktion „Power Kids“: „Mit mir nicht mehr!“ Constanze Elsner kritisiert in ihrem gerade erschienenen, an Kinder gerichteten Buch „Laßt euch nicht benutzen!“ den Deutschen Kinderschutzbund: „Er tritt auf wie ein Sprachrohr der Pädophilen.“ Auch die Bundesregierung bekommt ihr Fett ab.

Nach Informationen der Journalistin hält sie eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Hannover unter Verschluß, aus der hervorgeht, daß alljährlich 500.000 bis eine Million Kinder unter 14 Jahren sexuell mißbraucht werden, und zwar „mit Körperkontakt“: „Jeder fünfte Täter ist der Vater oder der Stiefvater. Insgesamt sind (mit 95%iger Wahrscheinlichkeit) über zwei Millionen Kinder strafrechtlich eindeutigen Übergriffen ausgesetzt. Die Hälfte dieser Kinder ist bei Beginn des sexuellen Mißbrauchs sechs Jahre oder jünger.“

Ja, die Saat ist aufgegangen. Allerdings ist bisher immer nur von „Kindern“ die Rede. Die Tatsache, daß es sich zu 80 Prozent um Mädchen handelt, wird verschwiegen. Und von den nicht minder geschändeten und ermordeten erwachsenen Frauen redet auch niemand. Wer fragt nach der nicht näher benannten „39 Jahre alten Frau aus Adelsleben“, die am 19. September – als der Medienrummel um die ermordeten „Kinder“ aus Belgien seinen Höhepunkt erreichte – vergewaltigt wurde? Von einem 34jährigen Sexualmörder aus dem niedersächsischen Landeskrankenhaus Moringen, der Freigang hatte, obwohl er nach Angaben der Polizei „als gefährlich und gewalttätig gilt“! Wer fordert staatlich finanzierte Therapien für die rund 11.000 erwachsenen Frauen, die laut Polizeistatistik 1995 vergewaltigt und sexuell ge-nötigt worden sind (nur angezeigte Fälle)? Wer regt sich über die rund 70.000 Frauen auf, die alljährlich von ihren Ehemännern vergewaltigt werden? Wer organisiert Lichterketten für die 1,5 bis 3 Millionen Frauen und Mädchen, die Jahr für Jahr in Deutschland Opfer „häuslicher Gewalt“ werden – wie auch immer die aussieht? Wer weint über die 460 Frauen, die 1993 laut Polizeistatistik den Geschlechterkrieg im „sozialen Nahfeld“ nicht überlebten? Welche Feministin und „Antirassistin“ geht für sie auf die Straße? Endlich ist Sexualgewalt ein Politikum geworden, zumindest wenn es um „Kinder“ geht. Dürfen wir hoffen, daß es keine weiteren 20 Jahre mehr dauert, bis auch die Gewalt gegen Frauen ein Politikum ist? Und vielleicht steht demnächst auch in einer deutschen Stadt ein Mahnmal für die Opfer der Männergewalt – wie im kandadischen Ottawa. Dort wurde es 1992 nach einer Serie von brutalen Frauenmorden errichtet: Eine Frau war am hellichten Tag vor ihrem Reihenhaus von ihrem Ex-Mann erschossen worden; ein 14jähriges Mädchen und ihre Mutter trafen die tödlichen Messerstiche eines früheren Liebhabers in der eigenen Wohnung; auf offener Straße wurde um halb acht in der Früh eine Anwältin von ihrem Ehemann mit einer Armbrust getötet.

Das geschah am 6. Dezember 1992. Seither ist dieser Tag in Kanada der nationale Trauertag für Opfer von Männergewalt: für Kinder und Frauen.
 

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