Was wollen die Ukrainer?

Foto: Bettina Flitner
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Ich bin Antje Vollmer dankbar, dass sie darauf hingewiesen hat, welche Schande es ist, dass kein Regierungsmitglied und kein aktueller oder früherer Bundespräsident es für nötig befunden hat, an der Beerdigung von Michail Gorbatschow teilzunehmen (Antje Vollmer: "Vermächtnis einer Pazifistin").

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Am 24. Februar habe ich zufällig auf dem Sender WELT einen Teil der Gesprächsrunde mit Sarah Wagenknecht, Anton Hofreiter, dem früheren Botschafter Melnyk sowie einem mir namentlich unbekannten Gesprächsleiter und einem weiteren Teilnehmer gesehen. Die beiden Letzteren unterbrachen Sahra Wagenknecht ständig, so dass am Ende niemand zu verstehen war.

Bei mir entstand der Eindruck, dass das Anliegen der beiden Männer war, händeringend nach Rechtsradikalen zu suchen, die sie in Verbindung mit Wagenknecht und Schwarzer bringen könnten, um sie dadurch zu diskreditieren.

Dieser Eindruck setzte sich während der Demonstration am Brandenburger Tor fort. Die einen sprachen darüber, wie ein Waffenstillstand zu erreichen wäre, um das Sterben zu beenden und der kommentierende Journalist von Phoenix suchte nach sich versteckenden AfD-Leuten in den Menschenmengen.

170.000 ukranische Soldaten sollen seit Kriegsbeginn in den Westen geflüchtet sein

Worüber ich gerne etwas wissen würde, was aber offenbar unsere vielen investigativen Journalisten nicht interessiert:

Wer sind DIE Ukrainer, die das Land zum Sieg führen sollen und über die deren Präsident uns allabendlich berichtet? DIE Ukrainer hatten 2021 ca. 44 Millionen Einwohner. Ca. fünf Millionen Frauen mit Kindern sind gleich am Anfang des Krieges aus ihrem Land geflüchtet, weil sie nicht sterben wollten. Eine vernünftige Reaktion von etwas mehr als zehn Prozent der Bevölkerung. Diese Zahlen sollen sich nach einem TV-Bericht auf ca. acht Millionen erhöht haben, also fast 20 Prozent der Bevölkerung.

Heute las ich im Internet folgenden Satz mit angefügter Statistik: Schätzungen der Gesamtanzahl der Flüchtlinge aus der Ukraine nach Grenzübertritten in Folge des Krieges von Februar 2022 bis Februar 2023: 18.159.000.

18 Millionen Geflüchtete? Diese Zahl kann ich kaum glauben, Möglicherweise handelt es sich um Flüchtlinge, die zurückkehren und hin und her reisen. Das wären fast 50 Prozent der ukrainischen Bevölkerung, die dazu die Gelegenheit hätte.

Es sollen ebenfalls ca. 170.000 ukrainische Soldaten in den Westen geflüchtet sein, weil sie nicht in einem Krieg über Gebietsansprüche sterben wollen. Ungefähr 60.000 Russen soll die Flucht vor der unmittelbaren Mobilmachung auch gelungen sein.

Sie wollten sich nicht am Krieg gegen ein Brudervolk beteiligen. Außerdem soll es zahlenmäßig ungenau erfasste Russen geben, die auf Seiten der Ukraine kämpfen und umgekehrt, ähnlich viele ukrainische Soldaten, die sich zur Unterstützung der Russen entschieden haben. Der Drang, am Leben zu bleiben, ist insgesamt auch bei den Männern groß. Die auf jeder Seite bis heute je ca. 100.000 gefallene Soldaten sind keine guten Perspektiven für die noch Lebenden.

Was die vor dem Krieg zahlreichen Parteien über den Krieg denken, erfahre ich nirgends

Was die vor dem Krieg zahlreichen ukrainischen Parteien heute denken und umsetzen, erfahre ich nirgends. Ich würde gerne wissen, was die Bevölkerung über eventuelle Gebietsabtretungen denkt, weil es für sie den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten kann. (Im Internet finden sich Darstellungen über Dutzende von Annexionen von verschiedenen Ländern: Annexionen nach dem Niedergang europäischer Kolonialherrschaft, Bildung selbständiger Nationalstaaten). Ich will hier nur einige aus weniger zurückliegenden Jahren nennen, die uns näher sind: Elsass-Lothringen, Karelien, Hawaii).

Mir scheint, dass es viele Ukrainer vorziehen würden, nicht für die Ostgebiete zu sterben. Vor allem, wenn man, selten genug, Aufnahmen realer Soldaten zu sehen bekommt, oft sehr jung. Kindergesichter unter zu großen Helmen. Frieden würde vermutlich bedeuten, dass einige Gebiete, die schon vorher umkämpft und umstritten waren, wegfallen würden. Jetzt sterben für jeden Quadratmeter Menschen.

Als Mutter wäre mir mein Leben und das meines Kindes – einige kurz vor dem Einberufungsalter - näher als ein Gebiet, das ich vermutlich nicht einmal kennen würde. Noch patriarchale Verhältnisse erlauben wenigstens Frauen zu flüchten. Einerseits erfahren wir, dass es einen Konflikt gibt zwischen Großmächten. Über das Verhältnis Russland - USA wird ständig diskutiert.

Als Mutter wäre mir mein Leben und das meines Kindes näher als ein Gebiet

Diese Mütter aber sehen etwas ganz anderes: Sie sehen einen Kampf zwischen mächtigen Führungskräften und uninformierten, in die Armeen gezwungenen und dort sterbenden Bauernjungs. Mit diesen Gesichtern sind die Führer beider Seiten konfrontiert, aber sie tun alles, um sie nicht genau anzusehen. Die Wortwahl: Es sind Verluste.

Städte sind auf Jahrzehnte gründlich zerstört. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie lange so ein Wiederaufbau dauerte. Noch 1965 wuchsen auf noch stehenden Ruinen in der Kantstraße in Berlin Birken.

Ich habe vieles weggelassen. Alles, was zum unerträglichen russischen Angriffskrieg gehört.

Was sind die Alternativen und was gehört erforscht?

Helke Sander

 

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