Die Wütenden aus Kanada
Die indigene Bevölkerung steht im Fokus dieser, coronabedingt teilweise virtuell stattfindenden Buchmesse vom 20. bis 24. Oktober. Das hat viele Gründe. Noch in diesem Sommer wurden auf früheren Schulgeländen hunderte anonyme Gräber von indigenen Kindern entdeckt. Die Funde schockierten ganz Kanada und machten international Schlagzeilen.
Jahrzehntelang waren in den staatlichen Schulen mindestens 150.000 indigene Kinder systematisch gefoltert und sexuell missbraucht worden, sowie ihrer Identität, der Sprache und Kultur beraubt.
Die letzten Residential Schools mussten 1996 schließen, doch die Wunden sind noch lange nicht verheilt. Auch weil bisher die meisten der Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Vielleicht ist es sogar eine Chance, dass ausgerechnet jetzt, wo Kanada sich auf der literarischen Weltbühne präsentiert, die Residential Schools Thema sind. Vielleicht finden die Verbrechen nun Eingang in das kollektive Bewusstsein.
Und ebenso das Schicksal der nachfolgenden Generationen, viele ehemalige Internatskinder betäuben ihr Trauma mit Drogen oder Alkohol, und prägen damit bis heute ihre Kinder und Enkel. Die Suchtrate und Selbstmorde sind bei indigenen Jugendlichen besonders hoch.
Über ihr Schicksal berichtet die investigative Journalistin Tanya Talaga in preisgekrönten Bestsellern wie „Seven Fallen Feathers: Racism, Death and Hard Truths in a Northern City“. In ihrem Sachbuch ergründet sie exemplarisch sieben ungeklärte Todesfälle indigener Jugendlicher in Thunder Bay, einer Großstadt in der Provinz Ontario. Talaga war die erste Frau mit indigenen Wurzeln, die beim Toronto Star, der auflagenstärksten Zeitung Kanadas, eine eigene Kolumne bekam. Sie möchte aufklären, vermitteln und ermutigen: „Der kulturelle Genozid wurde immer noch nicht aufgearbeitet, das muss jetzt passieren!“
Die Literatur von Frauen hat die Szene erst richtig großgemacht
Margaret Atwood und Alice Munro die Meisterin der Kurzgeschichte und erste und bislang einzige Literaturnobelpreisträgerin Kanadas – sind fraglos die beiden großen Autorinnen Kanadas, doch nun gehören auch schreibende Frauen wie Talaga zur Avantgarde des Landes.
In den 1960ern und 70ern war die Buchläden-Dichte Kanadas so gering, dass Atwood noch mit Kartons voller Bücher auf Lesungen fuhr, um ihre Leserinnen zu versorgen. Ihre Pionierarbeit hat sich gelohnt. Heute sind sie und ihre Kolleginnen bestens vertreten. Und die Literatur von Frauen hat die literarische Szene des Landes erst richtig großgemacht.
Atwood sagte einmal, dass in ihrer Heimat alle Schriftsteller, egal ob Frauen oder Männer, von den meisten Menschen für seltsam gehalten wurden. Und deshalb in Kanada – anders als in den USA – keine großen Unterschiede in der Wertung der Literaturgeschlechter existierte. Autorinnen sind darum schneller hochgekommen.
Ein Schwerpunkt zur Buchmesse gibt es in der aktuelle September/Oktober-Ausgabe.
Termine und weitere Infos: Kanadierinnen auf der Buchmesse