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Wem gehört die Brust?

Gabrielle d’Estrées und eine ihrer Schwestern. Sie hängen im Louvre.
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Wem gehört die Brust? Gehört sie dem Säugling, dessen Leben von der Muttermilch oder einem geeigneten Ersatz abhängt? Gehört sie dem Mann oder der Frau, der/die sie liebkost? Gehört sie dem Künstler, der die weibliche Figur abbildet, oder dem Modeschöpfer, der, dem launigen Verlangen des Marktes nach Neuheiten folgend, mal kleine, mal große Brüste diktiert? Gehört sie der Miederwarenindustrie, die den „Sport-BH“ für pubertierende Mädchen, den Wonderbra für Frauen, die mehr Dekolleté zeigen wollen, oder den „Stütz-BH“ für ältere Frauen propagiert?

Gehört die Brust religiösen Mahnern und Moralrichtern, die darauf beharren, dass Brüste züchtig bedeckt zu sein haben? Gehört sie dem Gesetz, das die Verhaftung von Frauen anordnen kann, die sich in der Öffentlichkeit barbusig zeigen? Gehört sie dem Arzt, der entscheidet, wie oft Mammographien durchgeführt werden sollten, wann eine Biopsie gemacht oder eine Amputation vorgenommen werden muss? Gehört sie dem plastischen Chirurgen, der sie aus rein kosmetischen Gründen neu formt? Gehört sie dem Pornografen, der sich das Recht kauft, die Brüste von Frauen zur Schau zu stellen? Oder gehört sie der Frau, deren Brüste ein Teil ihres Körpers sind?

Alle diese Fragen werfen ein Licht darauf, wie und auf welchen Ebenen Männer und Institutionen im Lauf der Geschichte immer wieder bestrebt waren, sich die weibliche Brust anzueignen. Als charakteristischer Teil des weiblichen Körpers wurde die Brust seit dem Beginn derüberlieferten Geschichte mit „guten“ und „bösen“ Konnotationen belegt. Eva – so wissen wir aus dem Buch Genesis – war sowohl die hochgeehrte Mutter der Spezies Mensch als auch die archetypische Verführerin. Juden und Christen nehmen zwar gleichermaßen stolz für sich in Anspruch, dass ihre fernsten Ahnen an ihrer Brust genährt wurden, aber sie assoziieren den Apfel des Sündenfalls auch mit Evas apfelgleichen Brüsten – eine Verbindung, die in zahllosen Kunstwerken sichtbar wird.

Die „gute Brust“ spendet dem Säugling Nahrung oder – allegorisch – der gesamten religiösen oder politischen Gemeinschaft. Diese Vorstellung galt vor rund zwanzigtausend Jahren, als in vielen westlichen und nahöstlichen Kulturen weibliche Idole verehrt wurden. Dieselbe Tendenz zeigte sich vor 500 Jahren in den italienischen Gemälden der stillenden Madonna. Vor 200 Jahren waren es die barbusigen allegorischen Frauengestalten, die das Prinzip der Freiheit und Gleichheit und die neue französische Republik verkörperten.

Doch wenn die „böse Brust“ dominiert, ist die Brust ein Instrument der Verführung und sogar der Aggression. Diese Position nahm nicht nur der Autor des Buches Genesis ein, sondern auch der hebräische Prophet Hesekiel, der die biblischen Städte Jerusalem und Samaria als „zügellose Huren“ mit sündigen Brüsten darstellte. Dasselbe galt für Shakespeare, als er die monströse Figur der Lady Macbeth schuf, um nur die denkwürdigste seiner Frauengestalten mit „bösen“ Brüsten zu erwähnen. Die Vision der „bösen“ Brust geht oft aus einer Kombination von Sex und Gewalt hervor, wie sie uns in Film und Fernsehen, in der Werbung und in der Pornografie begegnet – aus männlicher Sichtweise.

Die Reise von den paläolithischen Göttinnen bis zur Frauenbewegung ist lang und voller Überraschungen. Wir begegnen prähistorischen Statuen, deren Brüste mit magischen Kräften ausgestattet waren. Wir treffen auch auf die barbrüstigen Schlangenpriesterinnen des minoischen Kreta und die vielbrüstige Artemis, deren Kultstatuen für die letzte Welle der von weiblichen Mysterien inspirierten prächristlichen Glaubensvorstellungen stehen.

Sowohl in der jüdischen als auch in der christlichen Tradition wurden die weiblichen Brüsteals milchspendende Gefäße verehrt, die dem hebräischen Volk und später den Nachfolgern Jesu das Überleben sicherten. Das Bild des Jesuskindes, das an der Brust seiner Mutter liegt, wurde zur Metapher für alle christlichen Seelen, die mit der Milch des Glaubens genährt werden. Das Bild der stillenden Madonna, im 14. Jahrhundert in Italien aufgekommen, musste schon bald gegen eine neue, vorherrschend sexuelle Vorstellung von der weiblichen Brust antreten. In zahllosen Gemälden und Gedichten, die während des 15., 16. und 17. Jahrhunderts in Italien, Frankreich, England und Nordeuropa entstanden sind, trat das erotische Potential der Brust hervor und stellte ihre mütterlichen und sakralen Bedeutungen allmählich in den Schatten. Der Auftrag zu nähren und der Auftrag, sexuell zu reizen, sind konkurrierende Ansprüche, die das Schicksal von Frauen bis heute prägen.

Seit dem Beginn der judäo-christlichen Ära haben Männer der Kirche und Männer des säkularen Lebens, ganz zu schweigen von den Säuglingen, die weibliche Brust als ihr Eigentum betrachtet, über das sie unabhängig von der Zustimmung der Frauen verfügten.

Ein Jahrhundert später wurde das Stillen der eigenen Kinder zu einer der wesentlichen Forderungen der Französischen Revolution. Rousseau folgend ließen sich viele überzeugen, dass eine umfassende soziale Reform zustande kommen würde, wenn Mütter ihre eigenen Kinder stillten, statt sie, wie es die übliche Praxis war, in die Obhut von Ammen zu geben. Die individuelle Verpflichtung der einzelnen Frau, ihr Kind zu stillen, verschmolz mit der kollektiven Verantwortung der Nation, ihren Bürgern „nährende“ Fürsorge zu bieten; diese Vorstellung findet ihren Ausdruck in den zahlreichen Darstellungen der Republik als Frau, die ihre unbedeckten Brüste darbietet. So wurde die Brust mit dem Übergang vom Absolutismus zur parlamentarischen Regierungsform „demokratisiert“.

Während die Medizin des 20. Jahrhunderts sich zunehmend auf die Bekämpfung von Brustkrebs konzentriert, galt das Interesse der frühen medizinischen Literatur seit der Antike in erster Linie der stillenden Mutter. In zahlreichen, in mehreren Sprachen abgefassten medizinischen Abhandlungen finden sich, insbesondere seit dem achtzehnten Jahrhundert, detaillierte Anweisungen in Bezug auf Veränderungen der Brust während der Schwangerschaft, auf Ernährung und Körperübungen, das richtige Stillen, die Behandlung von Abszessen und das Abstillen. Solche Werke verdeutlichen, dass Frauen überwiegend als Gebärende und Nährende gewürdigt wurden.

Während die Ärzte des 19. Jahrhunderts dem Stillen unter anderem eine moralische Bedeutung beimaßen, hoben die neuen Disziplinen der Psychologie und der Psychoanalyse den entscheidenden Stellenwert der Brust im emotionalen Leben des Kindes hervor. Sigmund Freud führte Beispiele aus der psychoanalytischen Praxis ins Feld, um zu beweisen, dass das Saugen an der Mutterbrust nicht nur die erste Aktivität des Kindes sei, sondern der Beginn des gesamten menschlichen Sexuallebens. Auf der populären Ebene fand die Freud’sche Brust Eingang in Filme, Romane, Karikaturen und Witze; ihr Bild erschien auf T-Shirts und in zahllosen Illustrierten. Alle diese Darstellungen bestätigen die unwiderstehliche Anziehungskraft der weiblichen Brust auf den erwachsenen Mann.

Seit dem 19. Jahrhundert vervielfachten sich die Ansprüche an die Brust in dem gleichen rasenden Tempo, das für viele andere Prozesse in industriellen und post-industriellen Gesellschaften charakteristisch ist. Profitinteressen übernahmen die Führung; ein Reklame-Bombardement ging auf die Frauen nieder, das bruststützende, -formende und -vergrößernde Mittel und Methoden aller Art propagierte: Korsetts, Büstenhalter, Cremes, Lotionen, Silikon-Implantate, Schlankheitskuren und Bodybuilding-Geräte. Zwar wurden Brüste auch in der Vergangenheit stets in irgendeiner Weise kommerzialisiert, aber erst in den letzten hundert Jahren hat die volle Kraft des Kapitalismus von der Brust als Profitobjekt Besitz ergriffen.

Unterkleidung, die die Brüste besser zur Geltung brachte, wurde bereits von den Griechinnen und Römerinnen in der Antike getragen, und das Korsett war tatsächlich seit dem späten Mittelalter verbreitet, zumindest unter den Begüterten; aber erst das maschinell hergestellte Korsett, dasum die Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, und der zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfundene Büstenhalter machten Frauen aller Gesellschaftsschichten busenstützende und -formende Dessous zugänglich. Mit dem Aufkommen der Massenproduktion wurde die „Busenkontrolle“ obligatorisch. Die historischen Frauenrechtlerinnen reagierten auf das Korsett mit flachbusigen „Reformkleidern“.

Da Dessous immer dem herrschenden Körperideal entsprechend gestaltet werden, zeigen sie, zu welchen Zeiten Brüste heruntergespielt, beziehungsweise stark betont wurden. Vergleichen wir nur den flachbrüstigen „Garçonne“-Look der Zwanziger Jahre mit den enormen, projektilartigen Brüsten der Fünfziger Jahre! Korsetts und Büstenhalter wurden abwechselnd so gestaltet, dass sie den Busen flach drückten und verbargen oder ihn hochpressten und hervorhoben wie Äpfel oder Torpedos.

Es ist bezeichnend, dass die Frauenbewegung der späten Sechziger Jahre in Amerika mit dem demonstrativen Akt des Verbrennens von Büstenhaltern begann, was in der Presse für erheblichen Wirbel sorgte. Frauen begannen, selbst zu entscheiden, ob sie BHs tragen oder „oben ohne“ gehen wollten, ob sie stillen wollten, und sogar, ob sie sich entschlossen, sich einer Brustamputation zu unterziehen.

In zahlreichen Studien ist dokumentiert, bis zu welchem Ausmaß sich Frauen von willkürlichen Schönheitsvorstellungen, die jetzt die Form superschlanker Körper mit prallen, auffälligen Brüsten angenommen haben, tyrannisieren lassen. Frauen geben Millionen für Produkte und Dienstleistungen aus, die dazu bestimmt sind, die untere Hälfte ihres Körpers im Umfang zu reduzieren und die obere Hälfte zu vergrößern. Die häufigsten kosmetischen Operationen, die heute durchgeführt werden, sind die Liposuktion (das Fettabsaugen an Schenkeln und Po) und die Brustvergrößerung. Gleichzeitig hängen Frauen aller Altersstufen mit geradezu religiösem Eifer Schlankheitversprechenden Ernährungsprogrammen an, und unter den jüngeren Frauen haben Essstörungen wie Anorexie und Bulimie nahezu epidemische Ausmaße erreicht.

Feministinnen haben versucht, die Befreiung der Frauen von den willkürlichen Schönheitsidealen, die von den Medien propagiert werden, voranzutreiben. Aber auch sie haben ihre eigenen Vorstellungen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt galt es als „politisch korrekt“, keinen BH zu tragen und die Körperkonturen eher zu überspielen, als zu betonen. Nach einer Generation von Müttern, die ihre Babys mit der Flasche fütterten, ist das Stillen wieder in Mode gekommen. Heute kämpfen viele Frauen aktiv um stärkeren Einfluss auf medizinische Entscheidungen, bei denen es um ihr Leben geht, insbesondere im Zusammenhang mit Brustkrebserkrankungen. Einerseits bringt man die Brüste mit dem Übergang vom Mädchen zur Frau in Verbindung, mit sexuellem Vergnügen und mit dem Stillen und Nähren. Andererseits werden sie zunehmend mit Krebs und Tod assoziiert.

Für Frauen bedeutet die Opposition zwischen der „guten“ und der „bösen“ Brust nicht den Gegensatz zwischen der Mutter oder Heiligen auf der einen und dem Flittchen oder der „Hure“ auf der anderen Seite, wie Männer es oft sehen. Für Frauen verkörpern die Brüste in unmittelbarem Sinn die existentielle Spannung zwischen Eros und Thanatos – Leben und Tod – in sichtbarer und fühlbarer Weise.

MARILYN YALOM

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