Weniger Lohn, Weniger Rente

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Als Anna Grindel mit 42 Jahren unerwartet schwanger wurde, überkam sie so manche Befürchtung: Wird das Kind gesund? Hält die Beziehung mit dem Vater? Überstehe ich die Nächte? Nur eine Frage stellte sie sich nicht: Rutsche ich geradewegs in die Teilzeitfalle? Sie saß, aufgeregt und reichlich naiv, in der 13. Schwangerschaftswoche im Büro ihres Chefs und besprach ihre Auszeit und die spätere Rückkehr in den Beruf. Nicht zu lange wollte sie wegbleiben, allenfalls sechs Monate, das Kind hat schließlich noch einen Vater. Für die Zeit danach wollte sie ihre Arbeitszeit auf 40 Prozent reduzieren, auf unbestimmte Zeit. Wer weiß schon, was die Zukunft bringt? „Im Nachhinein war das mein größter Fehler“, sagt Anna Grindel, die in Wahrheit anders heißt. „Ich hätte damals schon klar vereinbaren sollen, dass ich später wieder aufstocken möchte – zu einem eindeutig bestimmten Termin.“

Denn pünktlich mit ihrer Schwangerschaft setzte eine Entwicklung ein, die auch viele andere Frauen durchlaufen – und die inzwischen längst als gesamtgesellschaftliches Problem erkannt wird. Zwar hat sich die Erwerbstätigkeit der Frauen in den vergangenen zehn Jahren deutlich erhöht, aber sie arbeiten immer noch seltener als Männer (73 Prozent gegenüber 82 Prozent). Und sie verdienen weniger. Das führt zu einem doppelten Problem: Das geschlechtsspezifische Lohngefälle, das es nicht nur in Deutschland gibt, ist schon schlimm genug. Aber im Laufe der Zeit wächst es sich zu einem geschlechtsspezifischen Rentengefälle aus. Das ist in der Theorie schon hinreichend diskutiert, in der Praxis sorgt es aber immer noch für Elend.

Das war auch bei Anna Grindel nicht anders: Bis zu ihrer Schwangerschaft konnte sie noch mit ihren männlichen Kollegen problemlos mithalten: ein ordentliches Gehalt von mehr als 5.000 Euro brutto im Monat, ein Dienstwagen, eine großzügige Betriebsrente, in nichts stand sie den Männern nach. Dann reduzierte sie auf 40 Prozent. Der Dienstwagen war weg und beim Blick auf den Gehaltszettel wurde ihr schummrig: „Ich habe komplett unterschätzt, wie viel schlechter ich auf einmal dastand.“

Ein verstärktes Unbehagen rief sodann die jährliche Renteninformation hervor: Nie im Leben konnte sie sich vorstellen, sich davon im Alter finanzieren zu können. Ihr Lebenspartner stand zwar zuverlässig an ihrer Seite, aber als Selbstständiger hatte er selbst genügend finanzielle Schwankungen zu verkraften.

Als ihre Tochter drei Jahre alt wurde, entschloss sich Anna Grindel deshalb aufzustocken, auch weil sie ohnehin ständig Überstunden schob. Den Kunden war es schließlich egal, ob sie Teilzeit arbeitete oder nicht. Die wollten nur, dass sie sich um ihre Anliegen kümmert. Nur hatte Anna Grindel dabei die Rechnung ohne ihren Chef gemacht.

Der schaute sie nach ihrer Bitte nur herausfordernd an und fragte, ob sie sich ein mittelständisches Unternehmen eigentlich als Wunschkonzert der Mitarbeiter vorstellte. Die Auftragslage sei alles andere als rosig, gerade sei man froh über jeden, der das Unternehmen verließe. Da könne er einzelne Mitarbeiter nicht auch noch aufstocken.

Das war der Moment, in dem Anna Grindel klar wurde, dass sie dem Willen ihres Chefs total ausliefert war. Es mag zwar einen rechtlichen Anspruch geben, eine Vollzeitstelle zu reduzieren, übrigens nicht nur für die Zeiten der Kindererziehung oder für die Pflege naher Angehöriger. Ist das Unternehmen nur groß genug (mehr als 15 MitarbeiterInnen) kann jede und jeder auf eine Teilzeitstelle pochen. Doch auf den Weg zurück kann man sich nicht verlassen.

Einen rechtlichen Anspruch auf Vollzeit gibt es nicht – und wird es auch auf absehbare Zeit nicht geben. Mit einem entsprechenden Plan ist Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) gerade gescheitert. Monatelang hat sie darum gekämpft und hat sich am Ende doch verspekuliert. Der Gesetzesentwurf scheiterte an dem Widerstand der Arbeitgeber, die das Vorhaben als „zu teuer“ ablehnten.

Das war nicht nur irgendein Baustein auf dem mühseligen Weg, die Erwerbsbiografien von Frauen und Männern langsam einander anzugleichen, es war der wohl wichtigste Abschnitt. Nun wird er vorerst gar nicht gebaut.

Noch immer gibt es viel, das zwischen den Geschlechtern anders läuft: Die Karriere führt nicht annähernd so häufig auf den Chefsessel, die Löhne klaffen auseinander. Dafür gibt es viele unterschiedliche Gründe, schon die Berufswahl ist einer davon. Frauenberufe, besonders in der Pflege, sind traditionell schlechter bezahlt als die Karrierewege, die sich Männer aussuchen. Das mag man schulterzuckend zur Kenntnis nehmen und den Frauen einen anderen Berufsweg anraten. Doch kann das nicht in jedermanns Sinne sein, denn all diese klassischen „Frauenberufe“ müssen ja trotzdem erledigt werden.

Ein bisschen Bewegung in die Lohngleichheit kam mit dem Mindestlohn, eingeführt Anfang 2015. Davon profitieren vor allem Frauen: Rund vier Millionen Stellen fallen unter das Mindestlohngesetz, rund 62 Prozent davon sind nach Angaben des Statistischen Bundesamtes von Frauen besetzt. Besonders in der Gastronomie und im Einzelhandel sind die Gehälter gestiegen.

Auch in den oberen Lohngruppen sollte sich etwas tun, deshalb brachte Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) das „Entgeltgleichheitsgesetz“ auf den Weg. Ursprünglich sollte es den „Gender Pay Gap“ beseitigen, die Lohnlücke zwischen Mann und Frau. 21 Prozent soll die Lücke nach Angaben des Statistischen Bundesamts noch immer betragen. Rechnet man verschiedene Faktoren heraus – wie längere Auszeiten und Teilzeit -, bleibt eine „bereinigte“ Lücke von etwa sieben Prozent. Die wird mit so weichen Kriterien wie „schlechter Verhandlungsstrategien der Frauen“ begründet.
Von dem Versprechen der „Gleichheit“ ist nicht viel übrig geblieben. Nach etlichen Diskussionen ist das Lohngleichheitsgesetz auf ein „Entgelttransparenzgesetz“ geschrumpft, seit Juli ist es in Kraft.

Der Grundgedanke dabei: Nur wenn Frauen wissen, dass sie weniger verdienen, können sie auch dagegen vorgehen. Deshalb bekommen sie nun einen individuellen „Auskunftsanspruch“ gegenüber ihrem Arbeitgeber – vorausgesetzt, sie arbeiten in einem Unternehmen mit mehr als 200 MitarbeiterInnen. Frauen, die sich unterbezahlt fühlen, können nun verlangen, dass das Gehalt einer Vergleichsgruppe -offengelegt wird; nicht einzelner Kollegen, sondern nur von einer anonymen Gruppen männlicher Kollegen, die die „gleiche“ oder eine „gleichwertige“ Arbeit erledigen. Übrigens gilt das Gesetz umgekehrt auch für Männer, wenn sie Auskunft über die Gehälter ihrer Kolleginnen verlangen. Die Regelungen sind – wie es sich gehört – geschlechtsneutral formuliert.

Vor allem einen Haken hat das Gesetz: Die Frauen, die gleichen Lohn einfordern, tun das innerhalb des bestehenden Arbeitsverhältnisses – und da fällt es naturgemäß schwer, irgendjemandem auf die Füße zu treten. Arbeitsrechtlerinnen wie die Frankfurter Rechtsanwältin Regina Steiner fürchten deshalb, dass das Gesetz ein ähnliches Mauerblümchen-Dasein fristet wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das schon im August 2016 eingeführt wurde.

Was war der Hype nach der Einführung groß! Arbeitsrechtler und Betriebsräte stürzten sich in Sonderschulungen, allerorten wurde eine Gleichstellungsbeauftragte installiert. Nun, elf Jahre später, ist die Aufregung weitgehend abgeflaut. Das liege nicht etwa daran, dass es keine Diskriminierungen mehr geben würde, stellt Steiner fest. Im Gegenteil: Immer wieder ist sie erstaunt, wie ungeniert Arbeitgeber und Kollegen sich im Jahr 2017 gegenüber Frauen oder ethnischen Minderheiten noch immer äußern. „Aber es gibt keine Sensibilisierung bei den Betriebsräten“, kritisiert sie. Außerdem gebe es ein großes Problem: „Solange man im Arbeitsverhältnis steht, will niemand klagen.“

Dreh- und Angelpunkt für den unterschiedlichen Verlauf der Erwerbsbiografien sind ohnehin noch immer die Kinder. Das zeigt sich schon beim Elterngeld, eingeführt 2007 von der damaligen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU). Seither zahlt der Staat den Eltern während ihrer Auszeit 65 Prozent ihres letzten Nettogehaltes, aber maximal 1.800 Euro. Doch für diese staatliche Unterstützung können sich bisher überwiegend die Frauen begeistern. Nicht nur, aber auch, weil sie weniger verdienen. Fast 80 Prozent der Elterngeldbezieher sind Mütter, sie schöpfen häufig auch die maximal möglichen zwölf Monate aus. Die Männer beschränken sich zum überwiegenden Teil auf das notwendige Minimum von zwei Monaten. Das wird häufig bedauert, übrigens auch auf Ebene der Europäischen Union. Dort ist gerade eine Richtlinie in Planung, die den bisher sehr sanften Druck verstärken soll. Künftig soll es auch für Männer Väterurlaub geben und sie sollen eine bezahlte Auszeit von vier Monaten erhalten. 

Immerhin: Das Elterngeld hat tatsächlich die Einstellungen zu Familie und Elternzeiten verändert, und zwar bis in die Großelterngeneration, wie eine Studie des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) feststellte. Für ihre Untersuchung haben die Forscherinnen 12.000 Deutsche sowie deren PartnerInnen, Eltern und Kinder befragt, insgesamt also drei Generationen. Interessant ist dabei vor allem, welchen Eindruck das Elterngeld bei den Großeltern hinterlässt: Gab es für das Baby Elterngeld, finden Großeltern die Karriere von Frauen plötzlich wichtiger als vorher ohne Elterngeld. Das messen die Forscher an der Zustimmung zum Satz „Frauen sollten sich mehr um ihre Familie kümmern als um ihre Karriere.“ Mit Einführung des Elterngelds stieg der Anteil der Großmütter, die diesem Satz widersprechen, um 20 Prozent. Auch bei Großvätern veränderte sich die Einstellung, allerdings nur leicht.

Außerdem führt das Elterngeld dazu, dass Frauen deutlich früher in den Beruf zurückkehren. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. Im zweiten Lebensjahr des Kindes sind inzwischen 43 Prozent der Mütter berufstätig, verglichen mit 35 Prozent, die früher arbeiteten, bevor es das Elterngeld gab. Sie arbeiten meist Teilzeit, aber mehr Stunden als früher.

Das „Elterngeld Plus“ sollte noch weiter in Richtung Angleichung gehen. Eltern, die nach der Geburt des Kindes Teilzeit arbeiten, können die Bezugszeit des -Elterngeldes verlängern: Aus einem Elterngeldmonat werden zwei Elterngeld-Plus-Monate. Entscheiden Mütter und Väter sich, zeitgleich mit ihrem Partner in Teilzeit zu gehen – für vier Monate lang parallel und zwischen 25 bis 30 Wochenstunden – erhalten sie für vier weitere Monate die staatliche Finanzspritze. Doch auch das lockte vor allem die Frauen, die auch bei alleiniger Teilzeit den Elterngeldbezug um zwei Monate strecken können. Die Männer konnten sich hingegen kaum dazu durchringen, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Noch immer ist Teilzeit vor allem eine Frauendomäne. Nur neun Prozent der Männer arbeiten in Deutschland Teilzeit, hingegen reduziert jede zweite Frau ihre Arbeitszeit.

Die Zeiten ändern sich also – ein wenig. Die große Revolution am Arbeitsmarkt lässt jedoch auf sich warten. Und Anwältinnen wie Regina Steiner befürchten, dass es dafür mehr bedarf. „Das ist ein gesellschaftliches Problem“, sagt sie. „Und manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass wir schon mal weiter waren. Ich beobachte in vielen verschiedenen Bereichen eine Rolle-Rückwärts.“

Anna Grindel, immerhin, konnte sich aus ihrer Teilzeitfalle inzwischen befreien. Zweimal ging sie noch zu ihrem Chef und bettelte um mehr bezahlte Arbeitszeit. Erst beim dritten Mal erwischte sie einen guten Zeitpunkt: Die Laune war bestens, denn die Auftragslage hatte sich merklich gebessert. Schwungvoll genehmigte er ihr die Aufstockung auf eine Vier-Tage-Woche. Seitdem arbeitet sie wieder wesentlich entspannter.

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