Und dein Kind, Cate Blanchett?
„Was ist Ihr liebster Woody Allen-Film? Bevor Sie antworten, sollten Sie wissen: Als ich sieben Jahre alt war, nahm mich Woody Allen an der Hand und führte mich in eine schummerige Dachkammer im zweiten Stock unseres Hauses. Er wies mich an, mich auf den Bauch zu legen und mit der elektrischen Eisenbahn meines Bruders zu spielen. Dann missbrauchte er mich sexuell. Seit diesem Tag finde ich es schwierig, mir Spielzeugeisenbahnen anzuschauen.“
So beginnt der Offene Brief, den die heute 28-jährige Dylan Farrow jetzt in der New York Times veröffentlicht hat. Es ist nicht das erste Mal, dass die Adoptivtochter von Mia Farrow und damals soziale Tochter von Woody Allen, diese Vorwürfe ausspricht. Sie hatte es schon als Siebenjährige getan, im Jahr 1992. EMMA berichtete damals mehrfach ausführlich über Dylans Missbrauchs-Vorwürfe und den Sorgerechtsprozess, den Allen gegen seine Lebensgefährtin Mia Farrow anstrengte. Er hatte inzwischen eine sexuelle Beziehung mit Farrows 18-jähriger Adoptivtochter Soon-Yi begonnen und wollte, nachdem Farrow sich fassungslos von ihm getrennt hatte, das Sorgerecht für drei gemeinsame (Adoptiv)Kinder.
Der Prozess endete damit, dass der Richter ihm den Umgang mit den Kindern verweigerte. Wenn die Medien überhaupt berichteten, dann über Farrow als verletzte, rachsüchtige Ehefrau und Allen als „sympathisch-zappeligen Stadtneurotiker“ (Spiegel). Dann ging man zur Tagesordnung über. Für Dylan allerdings begann eine jahrzehntelange Hölle mit Essstörungen und Selbstverletzungen.
„Nachdem meinem Vater in einem Sorgerechtsprozess das Besuchsrecht entzogen worden war, entschied sich meine Mutter gegen eine Strafanzeige, obwohl die Staatsanwaltschaft von Conneticut bei ihren Ermittlungen Belege gefunden hatte und den Missbrauch für wahrscheinlich hielt“, schreibt Dylan heute. „Der Staatsanwalt riet wegen der ‚Zerbrechlichkeit des kindlichen Opfers' ab. Woody Allen wurde nie eines Verbrechens angeklagt.“ Und das habe sie sehr lange verfolgt, ebenso wie die Tatsache, dass Hollywood so tat, als wäre nichts gewesen. „Schauspieler überreichten ihm Preise. Sender luden ihn ins Fernsehen ein. Kritiker druckten ihn in Magazinen.“ Lange habe sie diese Ignoranz „verstummen lassen“.
Dylan: „Es fühlte sich an, als ob mir all die Awards und Lobreden sagen sollten, dass ich die Klappe halten und abhauen sollte. Aber all die Opfer sexuellen Missbrauchs, die sich an mich wandten – um mich zu unterstützen und ihre Ängste mit mir zu teilen, als Lügner hingestellt zu werden und denen erzählt wurde, ihre Erinnerungen seien nicht ihre Erinnerungen – haben mir den Anstoß gegeben, nicht länger zu schweigen, damit auch sie nicht das Gefühl haben, weiter schweigen zu müssen.“
In der November 2013-Ausgabe von Vanity Fair redete Dylan zum ersten Mal seit ihrer Kindheit. EMMA berichtete, aber im deutschen Blätterwald herrschte weiterhin Schweigen – wie seit 22 Jahren. In keinem der zahlreichen Interviews zum Start von Allens aktuellem Film „Blue Jasmine“ wurde die Frage nach Dylan gestellt. Als Allen kürzlich den Golden Globe für sein Lebenswerk bekam und für „Blue Jasmine“ für den Oscar nominiert wurde, hat es Dylan offenbar gereicht. „Was, wenn es dein Kind gewesen wäre, Cate Blanchett?“ fragt Dylan die „Blue Jasmine“-Protagonistin. „Oder du, Scarlett Johansson? Du hast mich als kleines Kind gekannt, Diane Keaton. Hast du mich vergessen?“
Woody Allen hat seine Sprecherin auf Dylans Offenen Brief reagieren lassen: „Mr. Allen hat den Artikel gelesen und fand ihn unwahr und beschämend.“ Und prompt sekundiert die Presse: „Es gibt Menschen in seinem Umfeld, die Dylan Farrows Anschuldigungen für unglaubwürdig halten“, schreibt die Süddeutsche. „Kein Mensch außer Woody Allen und seiner Adoptivtochter kennt die Wahrheit.“ Eins ist jedenfalls klar: Sollte Allen am 2. März einen Oscar bekommen, wird über dem strahlenden Filmhelden ein Schatten liegen. Dazu hat es 22 Jahre gebraucht – und Dylans Mut.