Wie und wann haben Sie bemerkt, dass Sie intersexuell sind?
Als meine Menstruation nicht kam, ist meine Mutter mit mir zu ihrem Gynäkologen gegangen, einem alten Landarzt. Der hat eine Bauchspiegelung gemacht. Danach hat er mir gesagt, meine Gebärmutter und meine Eierstöcke wären nicht normal entwickelt. Dass ich beides überhaupt nicht habe, hat er nicht gesagt, auch meiner Mutter nicht. Dafür bin ich ihm heute sehr dankbar, weil er mir damit noch sieben sehr schöne Jahre geschenkt hat.
Dann kam die Entdeckung also erst im Erwachsenenalter?
Ja. Ich habe mich dann irgendwann verliebt, in einen Mann. Ich habe diesen Mann mit Anfang zwanzig geheiratet und wir hatten eine sehr erfüllte Partnerschaft. Bis zu dem Tag, an dem ich eine Blutung hatte. Der Arzt hat bei der Untersuchung die Stirn krausgezogen und mir nonverbal mitgeteilt, dass da etwas ganz Furchtbares sein muss. Er hat mich sofort ins Krankenhaus geschickt. Da hat man 14 Tage lang jeden Tag viele Untersuchungen mit mir gemacht. Nachdem mich der gefühlt 25. Arzt vaginal und anal untersucht hatte, habe ich aufgehört, etwas zu fühlen. Das kam mir vor wie Vergewaltigungen.
Und was wurde festgestellt?
Man hat mir gesagt, ich hätte das falsche Geschlecht, ich wäre eigentlich ein Mann. Ich hätte Hoden, die aber im Inneren meines Körpers lägen. Was mich natürlich erstmal aus den Socken gehauen hat. Das hat mich völlig verunsichert. Ich habe Angst vor mir selbst bekommen. Dann musste ich nach Hause und es meinem Mann erzählen. Und da habe ich wirklich einen Moment überlegt, ob ich aufs Dach gehe. Ich habe es ihm dann aber gesagt, und er hat sich drei Tage lang zurückgezogen. Dann hat er gesagt: Das kann uns nicht trennen, weil ich dich als Person und deinen Körper so liebe, wie er ist. Ich hatte ihm freigestellt, mich zu verlassen, was ich damals durchaus verstanden hätte. Heute natürlich nicht mehr (lacht)!
Wie ging es dann weiter?
Ein paar Wochen später hat man mir die Hoden entfernt. Man hat mir gesagt, die seien entartet, und wenn man sie nicht sofort entfernen würde, müsste ich wohl sterben. Da habe ich zugestimmt. Das mit der Entartung stimmte aber überhaupt nicht. Ich habe mir 2005 mit einem Rechtsanwalt den histologischen Befund meiner Hoden geholt. Da stand drin, dass es darin eine Spermatogenese gegeben hat, dass also Spermien produziert wurden. Theoretisch hätte ich also sogar Vater werden können. Ich habe den Operateur dann nochmal damit konfrontiert und ihn gefragt: „Warum haben Sie mir damals die Hoden entfernt, obwohl Sie wussten, dass sie vollkommen in Ordnung waren?“ Da hat er zu mir gesagt: „Frau Veith, in Ihren weiblichen Körper gehören doch keine Hoden!“ Da wusste ich endgültig, dass der Eingriff medizinisch gar nicht notwendig gewesen war.
Wenn die Hoden funktionierten, dann fehlte Ihnen jetzt aber das Testosteron, das sie produziert hatten.
Ja. Mir wurden dann Östrogene verschrieben, denn die bräuchte ich als Frau, wurde mir gesagt. Damit wurde aber mein ganzer Fett- und Zuckerstoffwechsel gestört. Mir ging es immer schlechter. Ich wurde immer dicker, ich bekam eine Depression und einen leichten Diabetes, Harnwegsentzündungen, das volle Programm. Dabei haben sie mich nicht über die Folgen der OP und der Hormongaben informiert.
Haben Sie irgendwann rebelliert?
Ich habe die Östrogene einfach abgesetzt. Ich bin dann fast 20 Jahre ohne Hormonersatz gewesen. Als ich Mitte 40 war, hat mir mein Mann zum Geburtstag einen Internet-Anschluss geschenkt. So bin ich dann zu der Selbsthilfegruppe der XY-Frauen gestoßen. Da wurde die Frage der Hormon-Substitution stark diskutiert, und ich habe mich intensiv mit der Wirkung von Hormonen beschäftigt. Ich war dann die erste XY-Frau, die sich Testosteron hat verschreiben lassen. Damit ging es mir wieder besser. Meine Depressionen schwanden von Tag zu Tag, ich spürte meinen Körper wieder, mein Diabetes war verschwunden. Das zeigte mir, dass die Medizin mit ihren „Behandlungsmethoden“ völlig falsch liegt.
Die meisten intersexuellen Menschen haben traumatische Erlebnisse mit der Medizin gemacht, die schon Babys via Operation „vereindeutigen“ will.
Ja. Wenn zum Beispiel eine „zu große“ Klitoris abgeschnitten wird. Oder wenn bei Intersexuellen, die zur „Frau“ gemacht werden sollen, eine „Neovagina“ angelegt wird. In diesem Fall wird ein Loch aus Darm-Material oder Haut geformt. Diese „Scheide“ ist völlig unempfindlich und dient nur der Penetration. Für wen wird das gemacht? Hinzu kommt: Narbengewebe zieht sich zusammen und wächst nicht mit. Deshalb muss diese „Scheide“ bougiert werden, also mit einer Art Dildo immer wieder geweitet werden. Ich kenne sehr viele intersexuelle Menschen, die aufgrund solcher traumatischen Erfahrungen in der Kindheit oder frühen Jugend überhaupt keine Sexualität mehr wollen. Die sagen: Nein danke, das hat mir schon als Kind sehr weh getan! Die Mediziner begründen das damit, dass das Kind andernfalls später diskriminiert und gehänselt würde. Erstens: Es ist Aufgabe des Staates, gegen Diskriminierung und Ausgrenzung vorzugehen. Und wenn wir sehen, welche Kosten diese Operationen verursachen – es sind ja meist mehrere, weil nachkorrigiert werden muss – wie viele Aufklärungs- und Antidiskriminierungs-Programme könnte man für dieses Geld fahren! Zweitens: Wenn Eltern heute mit diesem Problem zu mir kommen würden, würde ich ihnen sagen: Wenn ihr das Kind operieren lasst, dann besteht die Gefahr, dass dieses Kind am Ende der Behandlung kein sensibles Gewebe mehr hat. Wollt ihr riskieren, dass euer Kind niemals eine erfüllende sexuelle Erfahrung machen darf?
Hat die Ärzteschaft das inzwischen eingesehen? Greift sie heutzutage weniger schnell zum Messer?
Solche Behandlungen werden bis zum heutigen Tag gemacht. Ich habe vor Kurzem einen spezialisierten Chirurgen gefragt, ob er solche Eingriffe in seiner Klinik noch macht. Er hat geantwortet: „Wir raten davon ab. Aber wenn wir erkennen, dass Eltern das unbedingt wollen, dann machen wir es – bevor es jemand anders macht, der weniger spezialisiert ist.“
Sie fordern ein gesetzliches Verbot der OPs bis zum 18. Lebensjahr.
Genau. Jede kosmetische Operation an Minderjährigen im Genitalbereich hat zu unterbleiben. Und die Entfernung gesunder hormonproduzierender Organe ebenfalls. Ausnahme: Wenn eine lebensbedrohliche Erkrankung besteht.
Inzwischen müssen sich Eltern, deren Kind ohne eindeutiges Geschlecht geboren wird, in der Geburtsurkunde nicht mehr für „weiblich“ oder „männlich“ entscheiden, sondern können die Angabe des Geschlechts weglassen. Ist das in Ihrem Sinne?
Das ist schon mal ein erster Schritt. Aber das Gesetz kommt nur einem ganz kleinen Teil der Intersexuellen zugute, nämlich den 10 bis 15 Prozent, bei denen innerhalb einer Woche nach der Geburt die Intersexualität festgestellt wird. Außerdem haben wir neben „männlich“ und „weiblich“ nicht wirklich eine dritte Option. Ich zum Beispiel könnte auf Basis dieses Gesetzes beantragen, dass mein weiblicher Personenstand in „kein Geschlecht“ geändert wird. Was das für Folgen für meine Ehe und damit für meine Renten- oder Erbansprüche hätte, weiß ich nicht. Das ist alles ungeklärt. Deshalb wäre es wichtig, dass wir eine echte dritte Option haben. Die Frage ist ja auch: Wofür brauchen wir diesen Personenstand überhaupt? Wie wäre es denn mit der Lösung: Wir tragen bei allen Kindern erstmal gar nichts ein – und ein Mensch kann sich dann, wenn er möchte, irgendwann einen Personenstand eintragen lassen.
Kennen Sie Eltern, die ihrem Kind einen geschlechtsneutralen Namen gegeben haben und es nicht „als Mädchen“ oder „als Junge“ erziehen wollen?
Ja. Diese Kinder sind aber noch sehr klein und ich kann noch nicht sagen, wie die Geschichte ausgeht. Darauf bin ich selbst sehr gespannt.
Sie selbst sind weiblich sozialisiert. Was bedeutet das für Sie?
Ich habe von meinen Eltern, von der Gesellschaft und den Frauen um mich herum all das gelernt, was eine Frau so tut und was sie nicht tut, wie sie tickt, wie wir miteinander kommunizieren. Ich bin ein sehr sozialer Mensch, das wurde in unserer Familie immer als sehr weiblicher Part angesehen. Und ich fühle mich in dieser Sozialisation auch nicht unwohl. Aber ich sehe mich als Gesamtpaket. Ich entspreche dem Geschlecht Lucie.
Sie möchten nicht „Frau Veith“ genannt werden, sondern „Lucie Veith“. Weisen Sie immer darauf hin, dass sie intersexuell sind?
Beim Arzt muss ich das, damit ich zu einer korrekten Bewertung der Untersuchungsergebnisse komme. Wenn die Bäckersfrau mich als weiblich erkennt, dann lasse ich sie in dieser Wahrnehmung. Wenn ich aber politisch unterwegs bin, bestehe ich ausdrücklich darauf, denn das ist Teil einer Strategie des Sichtbarmachens von Intersexuellen. Da provoziere ich dann auch schon mal. Wenn ein Staatssekretär mich konstant mit „Frau Veith“ anspricht, obwohl ich ihn schriftlich darum gebeten habe, das nicht zu tun, dann spreche ich den Herrn halt mit „Fräulein“ an.
Ich kann Sie zwar mit Lucie Veith ansprechen, aber ich komme sprachlich nicht umhin, Sie in der dritten Person als „sie“ zu bezeichnen. Bräuchten wir neben „sie“ und „er“ ein drittes Pronomen?
In Schweden hat man ja kürzlich neben „hon“, also: sie, und „han“, also: er, das Pronomen „hen“ eingeführt, das geschlechtsneutral sein soll. Aber ich finde: So lange wir Kinder wegen ihres Geschlechts verstümmeln, habe ich andere Sorgen als ein Pronomen. Was ich mir allerdings wünsche, ist, dass sich die Ansprache auf Dokumenten ändert. Wenn ich mir im Internet ein Paar Socken kaufen oder bei der Deutschen Bahn ein Ticket buchen will, dann habe ich meist nur die Möglichkeit, „Frau“ oder „Herr“ anzugeben.
2004 haben Sie den Verein „Intersexuelle Menschen“ gegründet.
Dieser Verein ist aus einer Selbsthilfegruppe der XY-Frauen entstanden. Alle Mitglieder der Gruppe hatten in ihrer Kindheit oder Jugend Gewalt und Traumatisierungen durch Diagnostik und Behandlungen erlebt. Deshalb sind das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung für uns die zentralen Punkte. 2008 haben wir anlässlich des offiziellen Berichts der Bundesregierung zur UN-Frauenrechtskonvention einen so genannten „Schattenbericht“ erfasst. In diesem Bericht haben wir ein ziemlich vollständiges Bild der Lebensrealität und Diskriminierung intersexueller Menschen dargestellt.
Was tut der Verein „Intersexuelle Menschen“?
Wir unterstützen verschiedene Selbsthilfegruppen: die XY-Frauen, die Selbsthilfegruppe Intersexuelle Menschen und Selbsthilfegruppen für Eltern. Wir bieten Patenschaften für intersexuelle Kinder an, damit sie ein „Vorbild“ haben und sie und ihre Eltern sich mit der Patin oder dem Paten austauschen können. Wir bilden LehrerInnen und MitarbeiterInnen von Beratungsstellen weiter. Wir schulen Peer-BeraterInnen, bieten Beratung und Lebenshilfe, betreiben Lobbyarbeit. Wir halten Vorträge bei Ärzteorganisationen oder PsychologInnen.
Intersexuelle Menschen tauchen ja auch in der Buchstabenkette LGBTTIQ auf. Fühlen Sie sich dort richtig aufgehoben?
Ich sehe uns als Teil dieser Community, weil alle Buchstaben etwas mit Geschlechtlichkeit zu tun haben und wir an bestimmten Punkten zusammenarbeiten können.
Ihr Ansatz unterscheidet sich ja diametral von dem der Transsexuellen. Sie fordern, dass Menschen „dazwischen“ bleiben dürfen. Sie sind strikt gegen „vereindeutigende“ OPs. Für viele Transsexuelle scheint gerade
diese Vereindeutigung via OP die Lösung.
Da gibt es natürlich Kontroversen. Deshalb halte ich gerade die Nennung von Inter- und Transsexuellen in einem Zuge für problematisch. Man möchte das Thema politisch gern gemeinsam abhandeln. Aber das ist nicht denkbar. Ich kenne übrigens auch viele Transmenschen, die erkennen, dass das Schaffen von Eindeutigkeit zur Schädigung des eigenen Körpers führt – und die sich dann für andere Wege entscheiden. Warum darf eigentlich an den Schulen gelehrt werden, dass es nur zwei Geschlechter gibt? Das stimmt nicht. Dann können wir uns auch gleich an die Kreationisten halten, die behaupten, die Welt sei in sieben Tagen erschaffen worden. Ich sehe Geschlecht als Kontinuum zwischen männlich und weiblich und jeder findet darin seinen Platz. Wissenschaftlich belegt gibt es mehr als 4.000 Varianten von Geschlecht. Und wo fängt da Mannsein und Frausein an?
Sie selbst könnten im Alltag problemlos als Frau durchgehen.
Ja, ich könnte mich einfach auf meinen Personenstand und meinen nach außen weiblich erscheinenden Körper zurückziehen. Dann würde ich aber immer mit einer Art Minderwertigkeitskomplex herumlaufen, also mit der Gewissheit, dass ich nicht das bin, was ich vorgebe zu sein. Und das liegt mir überhaupt nicht. Für mich ist es wichtig, nach außen zu gehen und zu sagen: Ich bin anders – und das ist überhaupt nicht schlimm und fühlt sich auch gar nicht schrecklich an! Das hat auch mit meinem Stolz zu tun. Das hat viele Jahre gedauert und es hat viel Arbeit und viele Tränen gekostet. Aber: Ich stehe jetzt meinen Menschen.
Das Gespräch führte Chantal Louis. Es ist erstmals in der Januar/Februar-EMMA 2016 erschienen.
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