Wilde Pferde & echte Kerle
Die Erde im Merfelder Bruch beginnt zu beben. Eine Naturgewalt ist im Anflug. 12.000 ZuschauerInnen springen von ihren Plätzen auf. Da kommen sie. 400 Wildpferde donnern in die Natur-Arena. Aufgebrachte Falben und Graue mit ihren Fohlen. Allen schaut das Ungestüme, die Urwüchsigkeit aus den Augen. Was für ein Anblick.
Die Wildpferde des Merfelder Bruchs bei Dülmen, zwischen Münster und Ruhrpott, sind die letzten auf dem europäischen Kontinent. Ihre Geschichte reicht zurück bis ins 14. Jahrhundert. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde ihnen durch die Familie des Herzogs von Croÿ ein auf mittlerweile rund 400 Hektar erweitertes Reservat geschaffen.
Ein Fänger im Merfelder Bruch zu sein, schlug jeden Schützenkönig
Sobald sich die Herde in der abgezäunten Arena allmählich beruhigt, beginnt die Arbeit der Fänger. 35 starke Männer, die von den umliegenden Höfen kommen, trennen die einjährigen Hengste von der Herde. Natürlich nicht ohne die Gegenwehr der Tiere. Im letzten Jahr war erstmals auch eine starke Frau dabei. In diesem Jahr sollen es noch mehr Fängerinnen werden.
Warum man nicht einfach alle Pferde in freier Wildbahn lässt? Weil manche der Tiere, die jungen Hengste, raus müssen aus der Herde. Weil selbst in der weitläufigen Wildpferdebahn nicht genug Raum für die rivalisierenden Hengste wäre. Tödliche Zweikämpfe und Inzucht wären die Folge. Jedes Jahr am letzten Samstag im Mai werden die einjährigen Hengste aus der Herde gefangen und versteigert. Sie leben dann als Beistell- und Gespannpferde.
Noch bis vor wenigen Jahren waren nicht nur die Pferde die Stars des „Dülmener Wildpferdefangs“, sondern auch die handfesten Kerle, die es tollkühn mit den Hengsten aufnahmen. Sie warfen die Tiere zu Boden, manchmal drückten sie ihnen die Luft ab, zogen sie am Halfter hinter sich her. Das Fangen wurde zelebriert wie eine öffentlich zur Schau gestellte Mutprobe. Die Fänger wollten das Publikum beeindrucken. Blaue Flecken und Schrammen wurden hinterher an der Theke gefeiert. Ein Fänger beim Wildpferdefang zu sein, schlug jeden Schützenkönig. Nur Söhne von Fängern durften selbst Fänger werden. Eine absolute Ehre und eine Tradition seit 1907.
Dass sich Traditionen aber manchmal ändern müssen, um zu bleiben, das hat im Merfelder Bruch die Oberförsterin Friederike Rövekamp durchgesetzt. Seit 1998 führt die studierte Oberförsterin BesucherInnen durch das Naturschutzgebiet und versorgt die Tiere in strengen Wintern mit Futter. Ansonsten wird die Herde sich selbst überlassen. „Pflege, Tierarztbesuche und Medikamente gibt es für sie nicht. Die Natur richtet über Leben und Tod“, sagt Rövekamp. Sie ist für die Organisation des Fangs zuständig und coacht die Fängergruppe. Weil es immer wieder Kritik von TierschützerInnen gab, ist Friederike Rövekamp auf sie zugegangen, hat gefragt: „Wie können wir es denn besser machen?“ Die Biologin Willa Bohnet vom Institut für Zoologie der Tierärztlichen Hochschule Hannover hat sich 2008 darauf eingelassen und ein Konzept erarbeitet, wie der Fang für die Herde verträglicher wird. Die Hengste wurden fortan nicht mehr zu Boden geworfen und am Halfter hinter sich hergezogen, sondern mit einem langen Band vor sich hergetrieben, um ihre Fluchtdistanz nicht dauerhaft zu unterschreiten, weil das Pferde stresst. Die Zäune in der Arena, die für ordentliche Schrammen bei Mensch und Tier sorgten, wurden gepolstert. Auf das Brandzeichen-Setzen, bei dem mit einem Brandeisen die oberste Hautschicht verbrannt wird, wurde verzichtet. Nicht mit Kraft, sondern mit Geschick und Fingerspitzengefühl zu arbeiten, lautet die neue Devise. Und Försterin und Biologin haben den Fängern klargemacht: „Jungs, so wie der Papa euch das beigebracht hat, so läuft das nicht mehr. Und wer nicht mitzieht, der kann hier nicht weiter mitmachen.“
Vor jedem Fang schauen sich die beiden Expertinnen das Video des Vorjahres an. „Wer meint, er kann bei uns für einen Tag den Cowboy spielen, der ist fehl am Platz“, sagt Rövekamp. Nach erstem Zähneknirschen haben sich die Fänger auf den Prozess eingelassen. Jetzt ist nicht mehr der der Größte, der verbeult an der Theke steht, sondern der, der keine Blessuren abbekommen hat. „Der Wildpferdefang stand auf der Kippe, der Tierschutz hätte das nicht länger mitgemacht, das haben letzten Endes alle hier verstanden“, sagt Rövekamp.
Und noch etwas hat sie gleich „mitgeändert“. Die Sache mit dem Frühschoppen. „Es war mit dem Tierschutz und auch mit dem Versicherungsschutz nicht mehr zu vereinbaren, dass die Fänger den Tag mit einem ordentlichen Frühschoppen begonnen haben. Ich wollte aber auch nicht wie die Mutti dastehen, die den kleinen Jungs, die zum Teil älter sind als ich, das Bier verbietet.“ Rövekamp, verheiratet und Mutter von vier Kindern, hatte deswegen einen Grillabend ins Leben gerufen, mit den Familien der Fänger.
Jetzt wo es um Geschick geht, könnte doch eine Frau an den Start gehen
„Da hatte ich schnell die Ehefrauen und Mütter auf meiner Seite, denen das auch nicht gepasst hat“, lacht sie heute. Denn der Wildpferdefang ist gefährlich. Immer wieder geraten Fänger unter die Herde, ein ausschlagender Pferdehuf ist wie ein kleiner Vorschlaghammer und auch einjährige Hengste haben die Power, fünf ausgewachsene Männer durch die Wiese zu ziehen.
Die Oberförsterin ist im vergangenen Jahr noch einen Schritt weitergegangen. „Ich dachte mir, jetzt, wo Gewalt und Kraft nicht mehr ausschlaggebend sind, da könnte doch eigentlich mal eine Fängerin an den Start gehen“, erzählt sie. Eine Interessentin war bereits da: Lioba Rishmawi, 24 Jahre alt, von Beruf Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin und Fan des Wildpferdefangs, solange sie denken kann.
„Die Männer und ich, wir mussten uns am Anfang ein wenig beschnuppern“, erzählt Lioba, „aber eigentlich sind das nette Kerle, die durch Frau Rövekamp ja auch schon vorgeprägt waren.“ Als der Arena-Sprecher Lioba beim Wildpferdefang 2022 als „erste Fängerin seit 100 Jahren“ vorstellte, begann das Publikum zu johlen und zu klatschen.
Nachdem Lioba als erste Frau in die Arena eingezogen ist, können sich das in diesem Jahr gleich mehrere Frauen auch vorstellen. „Einige Töchter von Fängern haben beim letzten Grillabend großes Interesse bekundet“, freut sich Försterin Rövekamp. Und was sie noch mehr freut: „Ihre Väter sind total begeistert!“
Der Dülmener Wildpferdefang am 27. Mai 2023 im Merfelder Bruch.