Wir haben abgetrieben! Reloaded.
Die Schauspielerin Samie Detzer hat abgetrieben. Sie hat zu Hause noch Blaubeerkuchen gefrühstückt und sich dann zu Fuß auf den Weg in die Abtreibungsklinik um die Ecke gemacht. Im Wartezimmer hat sie zusammen mit der besten Freundin dem Song „Let it go“ von Idina Menzel gelauscht, hat laut gelacht und schlimm geweint, und als der Eingriff vorbei war, hat sie ein Glas Orangensaft getrunken und danach die Krankenschwester umarmt. Dann ist sie beim Mexikaner gegenüber eine Enchilada essen gegangen. „Ich war nicht unglücklich oder wütend und ich habe mich auch nicht verletzt gefühlt!“, sagt Samie. Und den Mann, der sie geschwängert hat, den hat sie auch nicht eingeweiht.
Meine Abtreibung hat mich auf eine seltsame Art glücklich gemacht!
All das erzählt Samie mit schüchternem Lächeln aber festem Blick in die Kamera. Jede und jeder kann und soll ihre Geschichte kennen. Denn Samie ist eine von 24 Frauen aus der Video-Kampagne #ShoutYourAbortion (etwa: Schrei deine Abtreibung heraus!). Jede dritte Frau in Amerika treibt vor ihrem 45. Geburtstag ab.
Amelia Bonow aus Seattle war die erste, die es rausschrie. Ein Tag, nachdem das Repräsentantenhaus angekündigt hatte, der Organisation „Planned Parenthood“ (PP) die öffentlichen Mittel zu streichen. Die gemeinnützige Organisation gibt es seit 94 Jahren, sie bietet in 700 Gesundheitszentren und Kliniken in den USA verschiedene Leistungen an - von der Krebsvorsorge über Verhütungs- und Schwangerschaftsberatung bis hin zu Abtreibungen.
Ein Jahr zuvor war die 30-jährige Amelia Bonow selbst bei „Planned Parenthood“ gewesen: Sie hat abgetrieben. Als sie von dem drohenden Aus las, entschied sie, auf ihrer Facebook-Seite von ihrer Abtreibung zu berichten. Sie schrieb: „Viele Leute glauben scheinbar immer noch, dass eine Abtreibung mit Trauer, Scham oder Bedauern einhergeht – zumindest wenn man eine anständige Frau ist. Aber wisst ihr was? Meine eigene Abtreibung hat mich auf eine seltsame Art total glücklich gemacht! Warum sollte es mich auch nicht glücklich machen, dass ich nicht gezwungen bin, Mutter zu werden?“ Dazu setzte sie den Hastag #ShoutYourAbortion. Eine Freundin postete den Hashtag sofort auf Twitter. Daraufhin brachen alle Dämme.
Bis heute hat es über 250.000 Tweets dazu gegeben. Vor allem von Frauen, die ebenfalls ihr Schweigen brechen und von ihren Abtreibungen berichten. Aber auch von den on- wie offline effizient vernetzten LebensschützerInnen, die nicht lange zögerten und die Aktion für ihre Zwecke kaperten. Sie twittern Fotos von blutigen Babyleichen oder schleudern den Bekennerinnen Sätze an den Kopf wie: „Es gäbe keine Abtreibung, wenn der Unterleib von Frauen ein Fenster hätte!“
Die Frau, die mir bei meiner Abtreibung geholfen hat, hat mir das Leben gerettet!
Dass der Kampf für das Recht auf Abtreibung so scharf geführt wird, ist kein Zufall. Seit Amerika auf den von Feministinnen initiierten massenhaften Protest der Frauen hin 1973 die Fristenlösung verabschiedete, hören die Gegner nicht auf, dieses Recht unterlaufen und wieder abschaffen zu wollen. Allen voran fanatisierte Evangelikale.
Am 27. November eskalierte die Situation: Der 57-jährige Robert Lewis Dear hatte sich sechs Stunden lang in einer Planned-Parenthood-Abtreibungsklinik in Colorado Springs verschanzt, nahm 24 Geiseln, erschoss einen Polizisten und zwei ZivilistInnen und verletzte neun weitere. Nach dem Attentat habe er von "nicht noch mehr Babyteile!" gesprochen und sich eindeutig gegen Abtreibungen geäußert. Zu dem Zeitpunkt, als dieser Text geschrieben wird, hat die Gerichtsverhandlung gegen Dear begonnen. Ihm drohen lebenslange Haft oder die Todesstrafe.
Es war nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Seit den 80er Jahren haben selbsternannte „Lebensschützer“ vier Ärzte, die ungewollt Schwangeren halfen, abgeknallt wie räudige Hunde. Dr. Barnett Slepian haben sie 1998 durch das Küchenfenster erschossen, seine Frau und die Kinder standen neben ihm. Dr. George Tiller verteilte gerade das Kirchenblatt seiner Gemeinde vor der Kirchentür, als 2009 der tödliche Schuss fiel. Auf dem Konto der Pro-Life-Bewegung: mindstens elf Morde und über ein Dutzend weitere Mordversuche. Plus: hunderte Säureattacken, Körperverletzungen sowie Bomben- und Brandattentate auf Abtreibungs-Kliniken. In Amerika spricht man in diesem Zusammenhang schon lange von einem „Anti-Abtreibungs-Terrorismus“.
Die medizinischen Fakultäten lehren in den USA schon seit Jahrzehnten diesen am häufigsten durchgeführten medizinischen Eingriff in der Frauenheilkunde überhaupt nicht mehr. Die Einschüchterung der Krankenschwestern und ÄrztInnen ist so groß, dass alleine seit 2010 rund 70 Abtreibungskliniken geschlossen haben, vor allem in Texas, Arizona und Michigan.
Ich war nicht unglücklich, nicht wütend und habe mich auch nicht verletzt gefühlt!
Wie groß auch der gesellschaftliche Druck auf die Frauen ist, zeigt die Videokampagne #ShoutYourAbortion eindrücklich. Oana war 21 Jahre alt und „gläubig“, als sie von ihrer ungewollten Schwangerschaft erfuhr. Ein Bekannter ihrer Eltern schickte sie „in diesen schrecklichen Laden“, wo man ihr ein Ultraschallbild ihrer Gebärmutter zeigte, auf dem nur ein kleiner Kreis zu sehen war. „Du musst das Baby nicht töten!“, sagten sie. Zum Abschied drückten sie Oana eine Babydecke und Babyschuhe in die Hand. Die junge Frau war völlig verunsichert. Als dann auch noch ihre Mutter, die mit 16 das erste Kind von acht bekam, die Tochter drängte, das Kind auszutragen, begriff Oana: „Ich wollte nicht so enden wie sie – nicht so früh!“ Zehn Wochen schob sie die Abtreibung vor sich her, dann ging sie zu „Planned Parenthood“ und trieb ab. „Ich habe es nicht einmal bereut!“, sagt Oana heute. Und: „Es ist wunderbar, dass wir die Wahl haben!“
Wie groß die Verzweiflung ist, wenn das Recht auf Abtreibung nicht garantiert ist, zeigt die Videokampagne ebenso deutlich. Die Autorin Lesley Hazleton war mit 20 gerade erst nach Jerusalem gezogen, als sie feststellte, dass sie ungewollt schwanger war. „Abtreibungen waren illegal in Israel und ich war auch noch pleite bis auf die Knochen“, erzählt die heute 70-Jährige. Glücklicherweise fand sie eine Frau, die dafür bekannt war, „unschuldigen Wesen wie mir zu helfen“. Diese Frau habe ihr „das Leben gerettet“.
Eine andere Frau, die anonym bleibt, berichtet von ihrer Abtreibung im Amerika der 1970er Jahre. Sie war 16 Jahre alt und wurde vor der Klinik von dem Protest der Abtreibungsgegner empfangen, die mit Fäusten auf ihr Auto schlugen. Aber sie ließ sich nicht einschüchtern. Sie erinnert sich: „Die Prozedur war schnell vorbei, die Mitarbeiter der Klinik waren engagiert und fähig und ich habe mich mit meiner Entscheidung komplett wohl gefühlt!“
Hätte diese Frau nur drei oder vier Jahre zuvor abtreiben wollen, wäre sie heute genauso traumatisiert wie ihre Mutter und ihre beiden Großmütter, die alle drei eine illegale Abtreibung nur knapp überlebt haben. Amerika hatte allein für das Jahr 1969, vier Jahre vor der Legalisierung der Fristenlösung, rund 5.000 Todesfälle infolge illegaler, unsachgemäßer Abtreibungen gemeldet. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt heute 47.000 Todesopfer jährlich, über 20 Millionen Frauen sind dem Risiko einer unsachgemäßen Abtreibung ausgesetzt.
Ich habe meine Abtreibung nie bereut, es ist wunderbar, dass wir die Wahl haben!
„Meine Töchter und alle Frauen haben heute das Recht auf eine sichere und legale Abtreibung! Lasst uns dafür sorgen, dass es so bleibt!“, heißt es unter dem Hashtag #ShoutYourAbortion. Damit es so bleibt, haben Amelia Bonow und ihre Mitstreiterinnen eine Webseite und eine Crowdfunding-Kampagne aufgesetzt. Mit dem Geld wollen sie weitere Bekennerinnen-Videos produzieren. Und in möglichst vielen Städten Aufklärungs-Veranstaltungen machen.
Übrigens: In Amerika wie (West)Europa sinken die Abtreibungszahlen seit Jahren. Von 1,19 Millionen im Jahr 1997 auf 699.202 in 2012 in Amerika; und im gleichen Zeitraum von 130.890 auf 106.815 in Deutschland. Was nicht etwa den „Lebensschützern“ zu verdanken ist, sondern der Frauenbewegung: Dank ihr sind Frauen heute selbstständiger und aufgeklärter als je zuvor. Das heißt: maximal geschützt vor ungewollten Schwangerschaften.