“Gib dem Onkel Kurt ein Küsschen!”
In meiner frühesten Kindheitserinnerung bin ich vier Jahre alt und esse wahnsinnig gerne. Ich matsche mir beim Abendessen Kartoffelpüree zusammen aus sehr viel Butter und einem Schuss Milch; ich löffele Nutella gleich aus dem Glas in der Küche, während meine Mutter im Wohnzimmer mit ihrer Freundin telefoniert. Vorteil Festnetz in den Achtzigern. Damals konnten Kinder noch in Ruhe im Nebenzimmer etwas ausfressen. Von der Nutella-Aktion gibt es sogar ein Foto. Ich stehe als kleiner Lockenkopf auf einem Stuhl vor dem Kühlschrank, mit Nutella beschmiert und dem Glas in der Hand. Doch als ich sechs wurde, begannen meine Eltern, meine Freude am Essen mit Sorge zu betrachten.
Ich erinnere mich, dass wir in einem Raststätten-Restaurant in Belgien saßen und dort so eine Art Toast Hawaii aßen. Meine Schwester, meine Mutter, mein Vater und ich. Meine Schwester bekam ihren Teller nicht auf, also übernahm ich. Mit kindlicher Freude aß ich auch den Rest vom zweiten Toast. Als ich dann noch nach dem Toastrest meiner Mutter fragte, schauten meine Eltern sich an. „Caroline, du kannst nicht noch einen Toast essen. Das sind dann insgesamt drei Spiegeleier. Das ist sehr viel.“
Mein sechsjähriges Ich war enttäuscht und peinlich berührt. Wie konnte Essen etwas sein, das rationiert werden musste? Ich glaube nicht, dass meine Eltern es böse meinten, als sie mir das dritte Spiegelei auf den Index setzten. Ich denke, sie waren als Reformhaus-Kunden eher um meine Gesundheit besorgt, aber eben auch um die Tatsache, dass ich als Mädchen nicht zu dick werden sollte. Dass ich als junge Frau mit einem Normalgewicht weniger Probleme haben würde, egal wo anzukommen, Freunde zu finden, den Beruf zu ergattern, den ich mir gewünscht hatte, war ihnen sehr bewusst. Meine Eltern sorgten sich sehr um ein ideales soziales Umfeld für mich. Die beste Schule sollte es sein, gute Manieren, sie wollten, dass ich mich kultiviert ausdrücken kann, dass ich süß und beliebt bin.
Was mich anging, war trotz aller elterlichen Bemühungen, mit meinem sechsten Lebensjahr dennoch das absolute Worst-Case-Szenario für Eltern heute, gestern und alle Zeiten eingetreten: Denn ich war pummelig bis übergewichtig, eigenbrötlerisch, merkwürdig und ein MOF – ein Mensch ohne Freunde. Es gab die Mädchen in der Klasse, die Zöpfe und Kleider trugen, eine saubere Schreibschrift hatten – und es gab mich.
Unkämmbare dicke Locken, lila Sweatshirts, Turnschuhe und wenn mal ein Kleid, dann unförmig aufgrund der Speckröllchen am Bauch und an den Hüften. Die Mädchen in der Ballettstunde hänselten mich. Zum Kaffeekränzchen mit den Großeltern trug ich ein rosa Blumenkleid und meine Tanten fragten mich, ob ich Onkel Kurt ein Küsschen geben könnte. Wollte ich nicht. Ich tat es trotzdem. Auf dem Schulhof gab es das Jungs-fangen-Mädchen-Spiel, bei dem die Mitschüler meinen Freundinnen und mir zwischen die Beine griffen. Die Jungs nannten das „Ärgern“.
In der Pubertät zeigte mir mein Freund den ersten Porno, damals noch eine VHS-Kassette. Gina Wild im Leoparden-Slip. Was sie tun musste, sah nicht gesund oder nach Spaß aus, sagte ich mir, traute mich aber nicht, es meinem gleichaltrigen Freund zu sagen.
Sowieso lernte ich zu schweigen. Wenn meine Mutter und die Tanten mir empfahlen, weniger zu essen und auf den Märchenprinzen zu warten. Meine Pubertät und meine junge Erwachsenenzeit über war ich im Dauergefecht mit meiner Figur. Fernsehsendungen, Zeitschriften und Werbung erklärten uns Mädchen, dass der weibliche Körper bitteschön nicht schwabbeln, stinken, haaren oder bleich sein darf. Das Ergebnis: Bevor ich jemals ein Achselhaar hatte, besaß ich einen Ladyshaver; bevor mein Körper je nach Schweiß stank, roch er nach „Vanilla Kisses“; und meine Haare blondierte ich mir das erste Mal mit 14 Jahren.
Ich habe Angst vor dem Älterwerden. Vor dem unsichtbar werden.
Ich verstand, dass ich schlau sein durfte, aber gutaussehend sein musste – und verfügbar, offen, fröhlich, „keine Zicke“, sagten meine Tanten und Bekannten. Wenn später der Chef an meinen Schreibtisch kam und fragte, ob wir heute Abend essen gehen könnten, sagte ich Ja.
Erst Jahre später und nach der #MeToo-Bewegung fällt mir auf, wenn ich Erlebnisse Revue passieren lasse: Da stimmte doch schon damals irgendwas nicht. Ein komplexes Baukastensystem aus Erziehung, Handlungsempfehlungen und nett verpackten Tipps regulierte schon damals mein inneres und äußeres Erscheinungsbild.
Heute bin ich eine berufstätige zweifache Mutter. Morgens treibe ich die Kinder vor mir her, helfe Reißverschlüsse zu schließen und Schnürsenkel zu binden. Vor mir liegen immer Tage gefüllt mit Konferenzen und Abgabeterminen. Wir rennen zur Schule. Wenn Max in der Schule ist, nehme ich Lila, die neuerdings nur noch „Paprika“ heißen möchte, auf den Arm, und wir rennen zur Bushaltestelle, zur Kita. Dort setze ich sie ab. Ein paar schnelle Handküsse noch am Fenster, dann renne ich zur Arbeit. Ich habe das Gefühl, dass ich meine Kinder nie sehe, dass ich ihnen zu wenig Märchen vorlese, Pusteblumen pflücke und Spiegeleier brate. Mein Vater benutzte zwei Oliven für das Spiegelei als Augen und eine Schlange Tomatenmark für den Mund. Das Eigelb war die Nase. Ich brate keine Clownsspiegeleier, ich komme abends nach Hause, wenn „Paprika“ und ihr Bruder schon Schlafanzüge anhaben und in meinem E-Mail-Fach wieder 20 Mails warten.
Frauen dürfen und müssen alles sein, Mütter sogar unfehlbar. Die perfekte plus sexy Mama ist in aller Munde, die MILF ein groteskes Ideal. Sei fürsorglich und sexuell verfügbar.
Nach der Geburt meines zweiten Kindes habe ich mir die Brüste machen lassen, als sei das alles nie passiert: die Schwangerschaft, das Stillen. Ich habe Angst vor dem Älterwerden. Vor dem unsichtbar werden, so wie es viele ältere Frauen berichten. Der Kellner im Restaurant lässt sich nicht mehr heranwinken, die Aufmerksamkeit im Job bleibt einem verwehrt.
Zeitgleich haben Diskussionen um #MeToo, den § 218, Frauen-Quoten und Gender Pay Gap unsere Gesellschaft verändert. Stück für Stück zerbrechen alte männerbesetzte Strukturen, weil Pandoras Box nicht mehr geschlossen werden kann. Darüber, dass in der Erziehung von Mädchen grundsätzlich etwas falsch läuft, dass viele Männer ein missbräuchliches Verhalten gegenüber Frauen an den Tag legen und wir Frauen viel zu wenig darüber sprechen, herrscht immer mehr Konsens. Mädchen blicken zu ihren berufstätigen Müttern auf, die Kinder von Alleinerziehenden, Regenbogen- und Patchwork-Familien werden die nächsten Generationen prägen.
Die Geister der Vergangenheit lassen sich schwer abschütteln.
Und dennoch sind sie noch da, die Geister der Vergangenheit, sie lassen sich schwer abschütteln und gruseln uns weiter. Bis heute überlege ich mir, wie auch heute morgen beim Frühstück, ob ich mir das Brot mit Brandybutter noch „leisten“ kann (schreckliches Wort). Ich frage mich, ob meine Umgebung, meine Kinder und Freunde mich noch wertschätzen werden, wenn ich alt bin, wenn ich keine Jugendlichkeit mehr einbringen kann in unsere Verbindung, wenn ich den Wert meiner sexuellen Verfügbarkeit nicht mehr in die Waagschale werfen kann. Denn es gibt für viele Frauen meiner Generation kein weibliches Wollen. Die Anziehung liegt darin, von Männern gewollt zu werden: im Bett, im Supermarkt, in einem Büro oder Gerichtssaal, beim Finanzamt, zum Elternabend, in der Sauna, im Spa oder einer Bar. Immer ist es eine andere Frau in uns, die da steht, kämpft, tröstet oder der Zerstreuung dient. Bleib mutig, sage ich mir. Für deine und unsere Töchter. Für die kann sich noch alles ändern.
CAROLINE ROSALES
Die Autorin arbeitet als Redakteurin der FUNKE-Zentralredaktion in Berlin und ist Kolumnistin der Berliner Morgenpost. Von ihr erschien gerade das Buch „Sexuell verfügbar“ (Ullstein, 18 €)