„Zieh das jetzt rüber oder ich knall‘ dir eine!“ – als ein Kunde das sagte, reichte es ihr. Kassiererin Martina Wegmann (so wollen wir sie nennen) rief über den Lautsprecher nach dem Filialleiter. Der Mann hatte sieben Packungen Klopapier kaufen wollen, obwohl nur noch eine pro Haushalt verkauft werden durfte. Der Filialleiter rief den Security-Service - der Mann verließ den Supermarkt ohne eine einzige Rolle.
Martina hätte am liebsten sofort losgeheult. Zwölf-Stunden-Schichten, gereizte KundInnen und das Gefühl, sich selbst null gegen Corona schützen zu können - das alles macht sie mürbe. Viele ihrer Kolleginnen, die auf Mini-Job-Basis arbeiten, haben bereits gekündigt. Martina kann das nicht. Die 34-jährige Kölnerin ist alleinerziehend. Auf ihre siebenjährige Tochter Sarah passt zurzeit die Großmutter auf, wenn Martina an der Supermarktkasse sitzt. Das machen alle ihre Kolleginnen so. Martina und ihre Kolleginnen haben sich Corona mehr oder weniger ergeben. Was anderes bleibt ihnen gar nicht übrig. Pro Stunde schieben sich bis zu 15 KundInnen an den Kassiererinnen vorbei, macht bei einer Acht-Stunden-Schicht 120, macht pro Woche 720. Mindestens. Der Abstand voneinander? Vielleicht 30 Zentimeter. Seit ein paar Tagen baumelt eine 50 Zentimeter breite Plexiglasscheibe vor ihrer Nase. Martina verdreht die Augen. Sie hat ein Passfoto ihrer Tochter draufgeklebt. „Dann weiß ich wenigstens, wofür ich das hier mache.“
Arbeitsschutz spielt keine Rolle
Martina und Kolleginnen sind wütend: „Die Supermarktketten sind doch die großen Gewinner von Corona. Die Branche erlebt den totalen Boom. Aber Arbeitsschutz spielt einfach keine Rolle. Ob der Kassen-Scanner krebserregend ist, interessierte ja auch niemanden. Diese dämliche Scheibe hier und die Klebestreifen auf dem Boden sollen doch nur den Kunden Sicherheit vorgaukeln. Wir werden geopfert.“ Die Forderungen von ver.di nach besseren Hygienemaßnahmen liefen in vielen Ketten bislang ins Leere. Und nicht nur die. Jetzt, wo die „Systemrelevanz“ der Kassiererinnen erkannt wurde, müsste es auch um bessere Löhne gehen, finden endlich auch die Kanzlerin und Arbeitsminister Hubertus Heil. Der kürte die Kassiererinnen zu "Heldinnen des Alltags" und kritisierte die „lausige Tarifbindung“ im Einzelhandel. Viele Supermarkt- und Drogerieketten denken momentan medienwirksam „darüber nach“, Corona-Prämien zu zahlen. Die will Finanzminister Olaf Scholz dann auch großzügig steuerfrei stellen. Real wird das Gegenteil der Fall sein: Lohnkürzungen. Das sagt der Handelsverband Deutschland (HDE), und der lässt sich von der Politik nicht reinquatschen. Der HDE vertritt alle Unternehmen des Einzelhandels, nicht nur die Supermärkte, Discounter und Drogerien. Außer denen haben ja fast alle Läden derzeit geschlossen, und deswegen hält der HDE auch gar nichts von mehr Geld für irgendjemanden. Nein, er möchte sogar die 2019 vereinbarte Tariflohnerhöhung, die eigentlich im Mai erfolgen soll, bis zum Ende des Jahres aufschieben. Außerdem fordert der HDE einen „Arbeitsplatz-Rettungs-und-Unternehmens-Nothilfe-Tarifvertrag“ inklusive „Entgegenkommen“ aller im Einzelhandel Beschäftigten. Da gehören die Kassiererinnen natürlich dazu.
Kassiererin Ulrike Schuster (wie wir sie nennen wollen), die in einem großen Supermarkt am Kölner Stadtrand arbeitet, wundert das kein Stück: „Die ganze Branche ist zutiefst unmoralisch und zeigt gerade ihr wahres Gesicht. Die Manager der Discounter sind Meister im Preiskampf. Sie drücken Zulieferer bis es nicht mehr geht. Da sind Geschenke an uns Kassiererinnen so ungefähr das letzte, woran die denken. Was glauben Sie, was los ist, wenn mal ein paar Cent in der Kasse fehlen? Das passiert jeder von uns mal. Man greift ins falsche Fach, gibt fünf Cent statt zwei zurück. Meistens gleichen wir das mit unserem eigenen Geld aus, um Ärger zu vermeiden.“
Eine Kultur des Misstrauens
In Discountern herrscht eine Kultur des Misstrauens. Dass MitarbeiterInnen videoüberwacht werden, ist noch immer Usus. Auch Umkleiden und Pausenräume werden systematisch überprüft. Warum man sich das bieten ließe? „Weil Frauen sich das bieten lassen“, sagt Ulrike.
Eine Million Angestellte arbeiten in Deutschland im Lebensmitteleinzelhandel. 72 Prozent von ihnen sind Frauen. Die Tariflöhne im Einzelhandel sind nochmal niedriger als in allen anderen Branchen. Der Großteil der Frauen arbeitet für den gesetzlichen Mindestlohn von 9,35 Euro, jede zweite bis dritte in Teilzeit. Das Durchschnittsgehalt dieser Gruppe liegt bei 1.200 Euro brutto.
Auch die Berufsgruppe von Altenpflegerin Eva Ohlerth wird neuerdings zu den „Heldinnen des Alltags“ gezählt. Seit 30 Jahren arbeitet sie in verschiedenen Heimen. Sie ist eine der ersten Pflegerinnen, die die katastrophalen Zustände in deutschen Pflegeheimen öffentlich machte. Den seit Jahren beschworenen „Pflegenotstand“ nahm Deutschland bislang stillschweigend hin.
Das System bricht zusammen
Die alten Menschen in den Pflegeheimen sind nun die ersten, die in großen Zahlen sterben. Nicht nur an Corona, sondern auch, weil sie nicht mehr betreut werden können. Das System bricht zusammen. Von den wenigen Pflegerinnen, die es überhaupt noch gibt, sind viele krank oder in Quarantäne. Die Angehörigen, die bisher einen großen Teil der Pflege übernommen hatten, dürfen nicht mehr kommen. Die alten Menschen werden also sich selbst überlassen. „Auf den Gängen hört man Schreie der Verzweiflung. Demenzkranke verstehen nicht, warum niemand mehr kommt. Die Menschen sind in Panik und dazu verdammt, vor sich hin zu vegetieren. Sie starren weiße Decken an, werden nicht mehr ordentlich versorgt“, klagt Eva Ohlerth. „Weil wir keine Masken und Schutzkleidung haben, dürfen wir nicht einmal mehr einem Menschen, der stirbt, die Hand halten.“ Es sei ein grausames Warten auf einen grausamen Tod. „Und das war schon lange vor Corona so.“
1,2 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland in der Altenpflege, über 90 Prozent sind Frauen. 40.000 Stellen sind derzeit unbesetzt. Im Schnitt muss eine Pflegekraft in Deutschland 13 Patienten gleichzeitig betreuen. Das ist einer der höchsten Werte in ganz Europa. Ohlerth hat erlebt, dass eine Pflegerin nachts sogar für mehr als 90 BewohnerInnen allein zuständig ist. Sie berichtet: „Alte Menschen in Heimen sind eine willenlose Verfügungsmasse. Ihnen werden Windeln angezogen, obwohl sie sie nicht brauchen. Manchen werden die Haare abgeschnitten, damit sie nicht mehr gekämmt werden müssen. Einige müssen auf dem Toilettenstuhl Mittag essen, weil das Zeit spart. Und sie werden oft geschlagen, wenn sie nicht funktionieren. Würde man Kinder in den Kitas so behandeln wie ältere Menschen in Heimen behandelt werden, würden Eltern mit Steinen werfen – und das zu Recht.“ Ohlerth hat 2019 das Buch „Albtraum Pflegeheim“ über diese Missstände geschrieben. Ihre Petition zur Verbesserung der Pflege in Deutschland haben bereits über 380.000 Menschen unterschrieben, durch Corona steigt die Zahl jetzt täglich.
Viele opfern sich für den Beruf auf
Die Schuld allein bei den Pflegerinnen zu suchen, ist allerdings falsch. Es sind die schlechten Arbeitsbedingungen, die sie verzweifeln lassen. Viele opfern sich regelrecht für den Beruf auf, verzichten auf das freie Wochenende, verschieben Urlaube, um die Versorgung nicht abbrechen zu lassen. Es fehlt überall an gut ausgebildeten Fachkräften, viele haben den Job wegen der schlechten Bedingungen gewechselt. Mehr als die Hälfte der Pflegekräfte sind mittlerweile Hilfskräfte, obwohl Pflege eine professionelle Arbeit und lebensentscheidend ist. 11,05 Euro in West- und 10,55 Euro in Ostdeutschland, das ist der Mindestlohn in der Pflege. Altenpflegerinnen verdienen im Durchschnitt knapp 2.400 Euro brutto pro Monat. Viel zu wenig, finden nicht nur die Pflegerinnen, sondern auch die zuständige Gewerkschaft ver.di. Inzwischen hat die Pflegekommission, ein achtköpfiges Gremium aus VertreterInnen der privaten, freien und kirchlichen Pflegeeinrichtungen und ArbeitnehmervertreterInnen, ihre Empfehlung für neue Mindestlöhne in der Pflegebranche abgegeben. Im Januar empfahl sie eine schrittweise Anhebung der Mindestlöhne, einheitlich in Ost und West, auf 13,20 Euro pro Stunde. Das ist übrigens schon seit Jahren der Mindestlohn im Dachdecker- oder Maler- und Lackiererhandwerk. Ab Juni soll es dann auch einen Pflegemindestlohn für Pflegefachkräfte geben, der im April 2022 auf 15,40 Euro steigen soll.
Der Druck durch die Coronakrise scheint zu wirken. Gerade stimmte die Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) der ver.di-Forderung nach einer Sonderprämie von 1.500 Euro zu. Dieser spezielle Tarifvertrag gilt allerdings nicht für alle. ver.di-Vorstandsmitglied Sylvia Bühler fordert deshalb, den Tarifvertrag unbedingt für allgemein verbindlich zu erklären, damit alle Arbeitgeber diese Prämie zahlen müssten – auch die kommerziellen Anbieter, die nicht der BVAP angehören und „die faire Löhne für die verantwortungsvolle Arbeit in der Pflege verweigern“.
Die Politik muss umsteuern!
Für Bühler ist die Ökonomisierung und Kommerzialisierung der Pflegebranche der wahre Kern allen Übels: „Markt und Wettbewerb haben im Gesundheits- und Sozialwesen nichts verloren. Die Altenpflege ist zu einem Geschäft geworden, in dem Hedgefonds unterwegs sind. Und wie holt man am meisten Geld raus? Indem man die Beschäftigten schlecht bezahlt. Die kommerziellen Anbieter verweigern sich Tarifverhandlungen und drücken die Löhne. Corona macht nochmal allen offensichtlich, wohin dieses Modell geführt hat, die Politik muss dringend umsteuern.“
ver.di (der Fachbereich Gesundheit, Soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen hat übrigens einen Frauenanteil von 76 Prozent) ruft die Pflegerinnen dazu auf, sich gewerkschaftlich zu organisieren – nicht einmal jede zehnte Altenpflegerin ist Mitglied. Wohlwissend, dass kommerzielle Anbieter alles versuchen, um ihre Angestellten von Gewerkschaften fern zu halten – und Gewerkschaftssekretärinnen nicht selten ein Hausverbot erhalten. Auch ein Streik ist für die Pflegebranche eine Herausforderung, Pflegebedürftige lässt man nicht im Stich, das nutzen Arbeitgeber schamlos aus. Verschärfend hinzu kommt, dass sich Frauen traditionell schwer damit tun, Forderungen zu stellen. Zumal für Arbeiten, die Frauen früher umsonst gemacht haben. Früher lag die Altenpflege in der Hand von Nonnen, die für „Gottes Lohn“ arbeiteten. Krankenschwester Eva Ohlerth klagt: „Frauen nehmen viel zu viel hin, lassen sich ohne Ende ausnutzen. Mit all diesen netten Worten rund um Hingabe und Berufung werden wir Frauen manipuliert. Männer würde man damit nicht kleinkriegen. Corona zeigt das gesamte Ausmaß der falschen politischen Weichenstellung. Jetzt muss neu verhandelt werden! Wir sind systemrelevant!“ Die aktuell „systemrelevanten Berufsgruppen“ sind zu 75 Prozent „Frauenberufe“. In Krankenhäusern arbeiten 76 Prozent Frauen, im Einzelhandel 72 Prozent, in Kindergärten und Vorschulen sind es 92 Prozent. Da zeigt sich jetzt mal, auf welche Berufe es wirklich ankommt im Notfall. Corona zeigt, dass über den Wert der Arbeit neu verhandelt werden muss. Zu dem Schluss kommt auch Ute Klammer, Professorin der Uni Duisburg-Essen und Leiterin des Instituts „Arbeit und Qualifikation“ (IAQ). Sie forscht zu „gleichwertiger Arbeit“, „Systemrelevanz“ und „Gender Pay Gap“ (die Lohnlücke zwischen Mann und Frau, die in Deutschland 21 Prozent beträgt).
Ihre Bewertungskriterien für die Berufsgruppen: Wissen und Können, Verantwortung, Einfühlungsvermögen und Kommunikationsfähigkeit. Je mehr Punkte, desto mehr Geld. Professorin Klammer: „Eine examinierte Pflegekraft erfüllt mindestens die gleichen Anforderungen wie ein Elektrotechniker. Die Lohnlücke beträgt aber bis zu 40 Prozent, zu Ungunsten der Frauenberufe. Auch die Löhne im Baugewerbe sind deutlich höher als in der Pflege, obwohl die körperliche Arbeit vergleichbar ist.“ Der Mindestlohn im Baugewerbe liegt bei 12,55 Euro. Fazit der Studien: „Die Verantwortung für Maschinen, Gebäude oder Zahlen (typische Männerberufe) wird höher bewertet als die Verantwortung für Menschen (typische Frauenberufe).“ Ein gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit existiert also nicht. Die Wissenschaftlerin: „Frauen wissen oft gar nicht, dass ihre Arbeit mehr wert ist. Ich wünsche mir mehr Protest von den Betroffenen. Sie dürfen sich nicht länger so abspeisen lassen!“
Beifall auf Balkonen und warme Worte sind nett, doch es muss mehr passieren. Auch nach Corona.