Wird Maxwell noch reden?
Keine Träne, keine Gefühlsregung, nur ein Schluck aus der Wasserflasche. Als die Geschworenen Ghislaine Maxwell am 31. Dezember schuldig sprachen, für den New Yorker Finanzmanager Jeffrey Epstein und seine Entourage jahrelang Mädchen angeworben zu haben zur sexuellen Benutzung, bis hin zur Vergewaltigung, da blieb die Britin auffällig gelassen.
In den Wochen davor hatten zahlreiche Zeuginnen dem Bundesgericht in Manhattan vier Prozesswochen lang über sogenannte Massagen, Orgien und Maxwells Rolle als Beschafferin von Minderjährigen berichtet. Nur eine wagte es unter ihrem Klarnamen, die übrigen traten unter Pseudonym in die Öffentlichkeit. So erinnerte sich „Kate“ im Zeugenstand, wie die weltgewandte Tochter des Medienmoguls Robert Maxwell sie in den 90er Jahren in ihre Villa in London eingeladen und bedrängt hatte, den nackten Epstein zu „massieren“. Es folgten Flüge zu seinem Anwesen in Florida und sexuelle Übergriffe auf die Minderjährigen und Teenager in Schulmädchenuniform. „Kate“ war damals 17 Jahre alt.
Das Raubtiermuster
„Ich bin erleichtert und dankbar, dass die Geschworenen Maxwells Muster eines Raubtierverhaltens erkannt haben“, sagte Annie Farmer, wie „Kate“ ein Opfer der heute 60-Jährigen. Sarah Ransome, ein weiteres Opfer, wertete die Entscheidung der Jury als Signal. „Die Überlebenden von Maxwells Sexhandel wissen jetzt, dass sie gehört werden und sich nicht mehr schämen müssen. Mut ist ansteckend“, ermunterte sie die anderen Opfer, Maxwells und Epsteins Verbrechen öffentlich zu machen. Die Südafrikanerin hatte schon 2016 von den Übergriffen des Paares berichtet. Nach Morddrohungen sei sie damals in Spanien untergetaucht.
Die kalifornische Anwältin und Frauenrechtlerin Lisa Bloom, die mehrere Opfer vertritt, sieht den Schuldspruch als Absage an die in vielen Gerichtssälen gerade bei Sexualdelikten verbreiteten Schuldzuweisungen an Frauen. „Wir müssen nicht perfekt sein, um unser Recht einzufordern“, mahnte Bloom. Alle vier Zeuginnen, die gegen Ghislaine ausgesagt haben, waren während des Kreuzverhörs zu Drogenkonsum, Sexleben und Widersprüchen in ihren Statements bis auf die Knochen ausgezogen worden.
„Die Jury hat diese Taktik durchschaut“, sagte die Anwältin der Opfer von Maxwell, Epstein & Co. In der unrühmlichen Tradition des Victim Blaming hatte die Verteidigung der Täter auch während der Vergewaltigungsprozesse gegen Harvey Weinstein, R. Kelly und „America’s Dad“ Bill Cosby versucht, Zeuginnen durch detaillierte Schilderungen ihrer sexuellen Vergangenheit oder ihres Lebensstils als unglaubwürdig abzuqualifizieren.
Das Victim-Blaming
Doch das Urteil gegen Maxwell, in amerikanischen Medien als „symbolischer Sieg für alle Missbrauchsopfer“ gefeiert, geht vielen nicht weit genug. Der Britin drohen zwar bis zu 65 Jahre Haft. Ihre mutmaßlichen MittäterInnen aber wurden nicht geoutet. Und der Haupttäter, ihr Ex-Geliebter Jeffrey Epstein, ist tot.
Schon vor den Eröffnungsplädoyers hatte die Vorsitzende Richterin Alison Nathan, während Barack Obamas Präsidentschaft Beraterin im Weißen Haus, angekündigt, Maxwells und Epsteins Notizbuch mit den Namen etlicher Hundert WeggefährtInnen bzw. Komplizen bzw. Mittätern unter Verschluss halten zu wollen. Das Little Black Book birgt anscheinend zu viel Zündstoff. Neben Politikern - wie dem früheren amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, dem britischen Premierminister Tony Blair und dem ehemaligen New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg - zählten auch Wirtschaftsgrößen wie Bill Gates, Tom Pritzker und Donald Trump (damals noch Immobilieninvestor) zu Epsteins Entourage. Der einstige Gärtnerssohn aus Brooklyn und Milliardär, der nach der Festnahme im Sommer 2019 unter bis heute ungeklärten Umständen erhängt in einer New Yorker Gefängniszelle gefunden worden war, umgab sich gern mit bekannten Gesichtern. Auch Prominente wie Alec Baldwin, Kevin Spacey und der Lieblingssohn von Königin Elizabeth II., Prinz Andrew, feierten mit Epstein auf seinen Anwesen in Manhattan, Paris, Florida, New Mexico oder der Karibikinsel Little St. James.
Oft begann die Party schon in Epsteins Privatflugzeug, bei Eingeweihten bekannt als „Lolita-Express“. Immer dabei: Maxwell und sehr, sehr junge Mädchen. „Wenn wir den Auftritt der Staatsanwaltschaft bei dem Prozess betrachten, ist das Urteil schockierend. Die bekanntesten Namen, die mit Maxwell in Verbindung gebracht werden, blieben ungenannt“, schrieb der kalifornische Jurist Jesse Gessin nach dem Schuldspruch.
The Little Black Book
Über Umwege könnte dennoch noch Licht in die Tiefen des Pädophilenrings fallen. Maxwells Anwälte kündigten inzwischen einen Berufungsantrag an. Da ihre Mandantin nach dem Urteil nicht mehr viel zu verlieren hat, bietet sich für sie ein Deal mit der Staatsanwaltschaft an: die Namen von MittäterInnen im Tausch gegen eine Verkürzung von Maxwells Haftstrafe. Doch dass die Anklage wirklich an einem Handel interessiert ist, wird von vielen bezweifelt. Zu mächtig sind die Betroffenen.
Bundesstaatsanwalt Damian Williams versprach zwar die Strafverfolgung sämtlicher Schuldiger, „egal wie mächtig oder wie gut vernetzt“. Und auch Christopher Wray, der Chef der amerikanischen Bundespolizei (FBI), versicherte, Maxwells mögliche KomplizInnen noch vor Gericht bringen zu wollen. Weitere Ermittlungen oder Festnahmen aber blieben bislang aus. Zwei Klagen gegen Epsteins frühere Assistentin Lesley Groff wurden fallengelassen.
Nach Maxwells Verurteilung soll das Justizministerium Groffs Anwälten zudem versichert haben, keine weitere Anklage gegen die heute 53-Jährige erheben zu wollen. Es scheint, als versuche die amerikanische Justiz, die Causa Epstein/Maxwell möglichst schnell zu den Akten zu legen. Ganz wie 2008, als Epstein nach Vergewaltigungs- und Missbrauchsvorwürfen von mehr als 40(!) Mädchen in Florida zu nur 13 Monaten Haft verurteilt worden war und ab dem ersten Tag Haft Freigang hatte.
Rächende Opfer!
Dass der Fall Maxwell gerade dennoch weitere Wellen schlägt, hat mit Virginia Roberts Giuffre zu tun. Die Amerikanerin erhebt seit Jahren öffentlich Vorwürfe gegen „Ghislaine“ und Epstein, die sie schon als 15-Jährige vergewaltigt hatten. Angeblich zwangen sie die damals 17-Jährige 2001 auch zu Sex mit Prinz Andrew und dem amerikanischen Prominentenanwalt Alan Dershowitz. Obwohl Epstein Roberts Giuffre einige Jahre später nachweislich 500.000 Dollar Schweigegeld zahlte, setzte die 38-Jährige ihren Feldzug fort. Als Maxwell sie nach weiteren Anschuldigungen eine „Lügnerin“ nannte, reichte Roberts Giuffre 2015 Verleumdungsklage ein – und trat damit die Lawine los, die letztendlich Epstein, Maxwell und jetzt auch Prinz Andrew einholte.
Queen Elizabeths jüngster Sohn muss sich nach der Schadenersatzklage der Amerikanerin nun voraussichtlich im Herbst einem Gericht in New York stellen. Damit hätte Roberts Giuffre das geschafft, was die US-Staatsanwaltschaft bisher nicht konnte - oder wollte.
Und dann ist da noch The little black book.
Christiane Heil