Wo bleibt die Pille für den Mann?

Grafik: Franziska Becker
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Während in anderen Bereichen der Medizin ein epochaler Durchbruch nach dem anderen gefeiert wurde - HIV-positive Menschen leben plötzlich 20 Jahre und länger, andernorts wurden menschliche Organe geklont oder die exakte Lage des Gens für die Weitervererbung von Leberzirrhose entdeckt - herrschte in Sachen Verhütungsverantwortung seitens der Männer erstaunlicher Stillstand. Komisch, dachte frau sich von Zeit zu Zeit. Die forschen doch schon so lange an dem Ding, wann sind die denn endlich mal so weit?

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Jetzt kennen wir die Antwort: Nie. Der Arzneimittelhersteller Schering, der sich als weltweit einziger(!) Pharmakonzern die Entwicklung der sogenannten Pille für den Mann gewidmet hatte, hat seine Bemühungen jetzt definitiv eingestellt. Was war der Grund für den Abbruch des Feldversuchs, an dem 350 Männer in Europa, darunter auch Deutschland, teilgenommen hatten? Unzuverlässigkeit des Hormonpräparats? Aber nicht doch. Der Cocktail aus Gestagen, also "weiblichen" Hormonen, und Testosteron, also "männlichen" Hormonen, wirkte ausgesprochen sicher.

Die Herren litten unter Stimmungsschwankungen

Schwere Nebenwirkungen? Sowas wie Brustkrebs, Eileiterverklebungen, dauerhafte Unfruchtbarkeit, also ähnliche Folgen wie sie bei der Pille für die Frau seit den 60er Jahren bekannt geworden sind? Nö, gab's nicht. Sämtliche Probanden hatten wenige Wochen nach Absetzen des Präparats wieder ihre volle Ladung Spermien parat, von anderen Risiken und Nebenwirkungen wurde nichts bekannt. Also, was dann? Die Herren litten unter „Stimmungsschwankungen“. So viele Versuchsteilnehmer gaben „emotionale Hochs und Tiefs“ auf ihren Auswertungsbögen an, dass Schering jene Diagnose stellte, die das plötzliche Aus bedeutete: „ungenügendes Marktpotenzial“.

Einer, der an dem Feldversuch teilgenommen hat, ist Clint Witchalls. Der Brite hat über seine emotionalen Hochs und Tiefs während der 18-monatigen Testphase ein Buch geschrieben. Was man ihm nicht wirklich verübeln kann, weil er freier Journalist ist. Er erklärt uns, wie die Sache funktioniert: Das Gestagen sorgt dafür, dass die Hoden ihre Spermienproduktion herunterfahren. Damit nun der Mann nicht „verweiblicht“, wird das Testosteron gewissermaßen zum Ausgleich gespritzt.

Die Testosteron-Phase birgt keine neuen Erkenntnisse: Nach den Injektionen verursacht Witchalls Autounfälle wegen aggressiven Fahrens, er beschimpft seine Auftraggeber, er hört seiner Frau nicht zu (was er schon vor dem Feldversuch nie tat). Kurz: Er verhält sich wie das Gros der männlichen Bevölkerung. Witchalls fühlt sich dabei super und lechzt der nächsten Testosteron-Spritze entgegen. Interessant dagegen die Gestagen-Phasen. Hier stellt der Proband fest, dass sich sein Verhaltens- und Gefühlsrepertoire erheblich erweitert. Er hört seiner Frau zu und führt bei Rotwein auf dem Sofa lange Gespräche mit ihr. Als ihm - diesmal unverschuldet - ein Autofahrer den Wagen zu Brei fährt und er anschließend unter Megastress einen Artikel bis zum nächsten Tag überarbeiten muss, bricht er in Tränen aus. Angesichts seiner Hüftspeckröllchen (die er Zeit seines Lebens besaß) fühlt er sich plötzlich "zu fett". Panik bricht aus ob der Möglichkeit, dass seine Gattin ihn unzulänglich findet und ihn daher betrügen oder verlassen könnte.

All die Liebe, die Aufmerksamkeit - alles nur die Hormone...

Das Gegenteil ist der Fall. Als die Testphase beendet ist, ist seine Frau not amused. „Es kommt mir so vor, als hätte ich ein Jahr lang mit einem anderen Menschen zusammengelebt. All die Liebe und Aufmerksamkeit - das waren nur die Hormone. Du bist wieder wie immer.“ Das findet wiederum der enthormonisierte Ehemann deprimierend: „Jetzt komme ich mir vor, als sei mein altes Ich eine Beta-Version mit Programmierfehler gewesen. Mein neues Ich war ein großer Fortschritt, aber letztlich eine Eintagsfliege (und ein Weichei). Ich hasse dieses neue Ich. Warum musste es in Erscheinung treten und alles kaputt machen? Jetzt, da Sam eine Vorstellung davon hat, wie ich sein kann, will sie, dass ich immer so bin." Auf seinem Auswertungsbogen antwortet Witchalls auf die Frage „Würden Sie das Medikament nehmen, wenn es auf dem Markt verfügbar wäre?“: "Nein, mit Sicherheit nicht."

P.S. Das Schönste kommt noch. Bei dem Feldversuch gab es, wie bei solchen Versuchen üblich, eine sogenannte Kontrollgruppe. Diese Gruppe, ein Zehntel der Probanden, bekam statt des Hormon-Cocktails Placebos gespritzt und eingepflanzt. Und auch diese Versuchsteilnehmer hatten - jawohl, Stimmungsschwankungen. "Am meisten erstaunte uns, dass auch jene Männer die Begleiterscheinungen beklagten, die das Placebo bekommen hatten", erklärt Professor Eberhard Nierschlag, Androloge am Institut für Reproduktionsmedizin der Uniklinik Münster, das die deutsche Männergruppe begleitet hatte. Für dieses Phänomen gibt es zwei mögliche Erklärungen. Erstens: Allein die grauenhafte Vorstellung, der mannhafte Körper werde mit weiblichen Hormonen überschwemmt plus die Fantasie eines Hodensacks, in dem statt kraftstrotzender Stammhalterproduzenten nur nutzlose milchige Pampe vor sich hindümpelt, könnte die Weinerlichkeit hervorgerufen haben. Zweitens: Auch Männer sind mal anhänglich, traurig, kuschelig und von Selbstzweifeln geplagt, und die Placebo-Probanden konnten dies nun endlich wissenschaftlich legitimiert zugeben.

P.P.S. Nach dem Abbruch des Feldversuchs wendet sich Schering jetzt wieder seinen vier tragenden Forschungssäulen zu: der Onkologie, der Kardiologie, der diagnostische Bildgebung und - der Pille. Die Pille für die Frau.

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