Phyllis Chesler über Frauen & Wahnsinn

FOTO: Ivan Henry
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„Warum erzählen uns unsere Mütter und Großmütter nicht, welche Schlacht das war, die wir verloren oder nie geschlagen haben? Dann hätten wir begriffen, wie vollkommen unsere Niederlage ist, und dass Religiosität und Wahnsinn und Frigidität der Ausdruck unserer Trauer ist.“ Diese Worte schrieb Phyllis Chesler 1974. Wahnsinn als Verweigerung der Frauenrolle. Psychotherapie und Psychiatrie als letzte und infernale Stationen zur Anpassung der aus der Rolle ausbrechenden Frauen.

Chesler polemisierte: „Schon die ­sogenannten ‚wissenschaftlichen Kriterien‘ für Wahnsinn sind geschlechtsspezifisch. Lebten wir in einem Matriarchat, würde vielleicht eine matriarchalisch geprägte Psychologie Vagina-Neid und Vaterinstinkt als normal propagieren, ehrgeizige Männer wären verrückt und passive Frauen reif für den Psychotherapeuten.“ Die heute 83-jährige Psychologin, Frauenfor­scherin und Mutter eines Sohnes lehrte an der City University New York und veröffentlichte 1974 „Women and Madness“, ein Grundlagen­text, der PsychologInnen und Feministinnen der ganzen westlichen Welt prägte. Der Blick auf den „Wahnsinn“ von Frauen veränderte sich.

Waren die Kriterien für Wahnsinn Instrumente der Unterdrückung von Frauen im Patriarchat? Und weiblicher Wahnsinn etwa auch ein Akt des politischen Widerstandes? Seither veröffentlichte Chesler über ein Dutzend Bücher als Autorin und noch mehr als Herausgeberin. Die Tochter orthodoxer jüdischer Einwanderer aus Osteuropa lebte in den 60ern eine Zeitlang in Afghanistan, was ihr früh die Augen öffnete für die Entrechtung der Frauen im Namen des Islam. Seit zwanzig Jahren analysiert sie auch den „neuen Anti­semitismus“. Als Autorin kommentiert Chesler bis heute die Aktualität.

Warum sind Frauen seelisch „gestört“, und warum werden sie in Anstalten eingewiesen? Warum begeben sich Frauen in psychotherapeutische Behandlung? Wie äußern sich „Schizophrenie“ oder andere Geisteskrankheiten bei Frauen heute, und welche Ursachen haben sie? Die Wissenschaftler Bruce und Barbara Dohrenwend haben jüngst erklärt, dass Männer in gleichem Maß „psychisch gestört“ seien wie Frauen: „Da nun Männer ein Übermaß an Persönlichkeitsstörung aufweisen, wohingegen Frauen relativ hohe Neurose-Raten haben und keines der beiden Geschlechter eine allgemein höhere psychologische Störungsrate zeigt, bedeuten diese Unterschiede bei den Geschlechtern nicht, dass auf das eine oder andere Geschlecht ein höheres Maß an sozialem Druck einwirkt. Eher besagen sie, dass jedes Geschlecht dazu neigt, eine andere Art zu erlernen, mit der es auf die Faktoren reagiert, die psychologische Störungen hervorrufen.“ 

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Ich will dieser Feststellung nicht direkt widersprechen, sondern sie nur weitgehend relativieren. Viele Männer sind tatsächlich schwer „gestört“ – aber die Art, wie sich ihre „Störung“ äußert, wird weder als „neurotisch“ angesehen noch durch psychiatrische Internierung behandelt.

Theoretisch haben alle Männer, besonders aber die weißen, reichen und älteren Männer, mehr Möglichkeiten, viele ihrer „gestörten“ (und nicht „gestörten“) Triebe auszuleben als die Frauen. Männern wird ganz allgemein eine größere Skala „akzeptabler“ Verhaltensweisen zugestanden als Frauen. Psychiatrische Etikettierungen und Hospitalisierung umfassen alle jene Verhaltensweisen, die von der Gesellschaft als „inakzeptabel“ angesehen werden. Da Frauen weniger akzeptable Verhaltensweisen zugebilligt bekommen und sie durch das weibliche Rollenstereotyp stärker eingeengt sind, ist es klar, dass sie mehr Verhaltensweisen zeigen, die als „krank“ oder „inakzeptabel“ gelten.

Untersuchungen über Verhaltensstörungen im Kindesalter haben ergeben, dass Jungen am häufigs­ten wegen aggressiven, destruktiven (anti­sozialen) und rivalisierenden Verhaltens zu Erziehungs­beratungsstellen gebracht werden; Mädchen aber (falls überhaupt) wegen Persönlichkeitsstörungen wie übermäßige Angst und Unruhe, Scheu, Schüchternheit, Mangel an Selbstvertrauen und Minderwertigkeitsgefühlen.

Ähnliche geschlechtsspezifische Symptome existieren auch bei Erwachsenen: Die meisten Patientinnen weisen geschlechtsspezifische Symptome wie Depressionen, Frigidität, Paranoia, Neurosen, Suizidversuche und Angst auf. Den typisch weiblichen Symptomen ist die „Furcht vor dem Glück“ gemeinsam, ein Ausdruck, den Thomas Szasz geprägt hat, um die „indirekte Form der Kommunikation“ zu beschreiben, die die „Sklavenpsychologie“ kennzeichnet.

Männliche Patienten neigen mehr zu „männ­lichen Krankheiten“ wie Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, psychopathische Störungen und hirnorganische Erkrankungen.

Viele Kliniker, die männliche Patienten für „verrückt“ halten, halten ihre Patientinnen für noch „verrückter“. Für die seelische Gesundheit und Behandlung von Schwarz und Weiß, Arm und Reich und natürlich auch von Frau und Mann gibt es unterschiedliche Maßstäbe. Aus einer neueren Untersuchung von Dr. Inge K. Broverman et al. geht hervor, wie stark die Einstellung der heutigen Kliniker zu ihren Patientinnen immer noch von Freud beeinflusst ist – und wie zäh an einem „Doppelstandard“ seelischer Gesundheit festgehalten wird. 

79 Kliniker (46 männliche und 33 weibliche Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter) füllten Fragebogen über Geschlechtsrollenstereo­typen aus. Der Fragebogen umfasste 122 gegensätzliche Begriffspaare wie beispielsweise: „sehr subjektiv/sehr objektiv“, „überhaupt nicht aggressiv/sehr aggressiv“. Die Versuchspersonen wurden aufgefordert, jene Eigenschaften anzukreuzen, die für sie gesundes männliches, gesundes weibliches oder gesundes menschliches (geschlechtsunspezifisches) Verhalten repräsentierten. Dabei ergab sich folgendes:

  1. Unter den Klinikern herrschte ein hoher Grad an Übereinstimmung in den Attributen, die gesunde erwachsene Männer, gesunde erwachsene Frauen und gesunde Erwachsene ohne Geschlechtsspezifizierung kennzeichnen.
  2. Es gab keine Unterschiede zwischen männ­lichen und weiblichen Versuchspersonen.
  3. Alle Kliniker gingen von verschiedenen Gesundheitsbegriffen für Männer und Frauen aus. Ihre Vorstellungen vom gesunden erwachsenen Mann wichen nicht signifikant von ihren Vorstellungen vom gesunden Erwachsenen im Allgemeinen ab, aber ihre Vorstellungen von der gesunden Frau unterschieden sich signifikant von den beiden übrigen Kategorien. 

Die Experten vertraten überwiegend die Ansicht, gesunde Frauen neigten im Gegensatz zu gesunden Männern zu Unterordnung, seien weniger unabhängig, weniger abenteuerlustig, leichter zu beeinflussen, weniger aggressiv, weniger dem Konkurrenzkampf zugeneigt, leichter erregbar bei kleineren Krisen, leichter gekränkt, emotionaler, eitler in Bezug auf ihr Aussehen, weniger objektiv und weniger an Mathematik und Naturwissenschaft interessiert.

Daraus folgt, dass sich eine Frau, um als gesund zu gelten, an die Verhaltensnormen für ihr Geschlecht „anpassen“ und diese akzeptieren muss, obwohl diese Verhaltensweisen im Allgemeinen als weniger gesellschaftlich erwünscht angesehen werden. Wie die Verfasser selbst bemerken, sei „diese Konstellation … eine äußerst ungewöhnliche Art, einen gesunden, erwachsenen Menschen zu definieren“.   Phyllis Chesler, 1974

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