Die sprechende Vagina
"Wegen eines gewaltigen Menschenauflaufs vorm Eingang des Hammerstein Ballroom Theaters begann die Vorstellung mit erheblicher Verspätung. Als sich der Vorhang endlich hob, präsentierte eine geballte Ladung Starpower Unerhörtes auf der Bühne: Glenn Close, Whoopie Goldberg, Susan Sarandon, Lily Tomlin, Winona Ryder und ein Dutzend weiterer Hollywood-Stars." Sie alle funktionierten zusammen mit Feministin Gloria Steinem den Valentinstag, den 14. Februar, kurzerhand zum "V-Day" um, berichtete die "New York Times" beeindruckt.
Das war 1998. Seither ist der V(alentin)-Day in den USA zum V(agina)-Day geworden. Denn auch am "Tag der Liebe" bekommt so manche Frau statt Rosen ein Veilchen verpasst. Und beim Sex gehe es meist um seine Lust, nicht ihre. Steinem: "Jeder Tag ist "P-Day(Penis-Tag)!". Deshalb riefen die Amerikanerinnen den "V-Day" aus: gegen "violence" (Gewalt) und für die "Vagina", die weibliche Lust.
Mit verteilten Rollen trugen die Stars die "Vagina Monologues" vor, ein Bühnenstück von Eve Ensler, entstanden aus Interwiews mit 200 Frauen über "das da unten". Eine sprechende Vagina berichtet da von Vergewaltigung, genitaler Verstümmelung, Menstruation, Geburt. Aber auch von Lust. Ein Jahr später, am V-Day 1999 spielten Studentinnen zeitgleich an 150 Colleges und Unis die "Vagina Monologues". In diesem Jahr sind es noch mehr.
Für Sapphire, die Autorin von "Push", besteht "die bemerkenswerte Genialität der Vagina-Monologe in Eve Enslers Fähigkeit, ihr Publikum zu verlorenen, aufgegebenen und verletzten Teilen seiner selbst zu führen, es zum Schreien und Schluchzen zu bringen und schließlich zu Lachtränen zu treiben. Es gehört zum Besten, was Amerikas Theater heute zu bieten hat."
Um Eve Ensler, die Autorin der Vagina-Monologe, ranken sich bereits Legenden. Eine handelt davon, wie die 46-jährige New Yorker Theaterautorin nach einer Sonder-vorstellung ihres Stücks "Necessary Targets" mit Hillary Rodham Clinton für ein Foto posierte. Statt des bekannten Lächel-Kommandos "Say cheese!" habe man Ensler laut schreien gehört: "Sag: Vagina!"
Die Reaktion der First Lady der USA ist nicht überliefert. Böse war sie aber offenbar nicht. Denn wenig später bat Hillary Ensler in ihr politisches Komitee zur Unterstützung ihrer Kandidatur für den New Yorker Senat – und das trotz (oder wegen?) des Tabuthemas, dem sich die Dramatikerin seit fünf Jahren widmet: "Sag: Vagina!"
Alles begann, als Ensler eines Tages mit einer Freundin, einer engagierten Feministin, über Sexualität, Körper und Wechseljahre redete. "Sie sprach mit einer solchen Verachtung von ihrer Vagina. Ich war schockiert. Mir ging ein Licht auf. Frauen haben im Kopf alles begriffen, aber wir haben es noch nicht in unseren eigenen Körpern umgesetzt."
Ensler begann, Frauen über das Verhältnis zu ihrer Vagina zu befragen. Sie fragte Mädchen und Greisinnen, Erfolgsmanagerinnen und Obdachlose, Weiße und Schwarze. Sie reiste nach Bosnien und interviewte Vergewaltigungsopfer – was den Anstoß für ihr letztes Stück "Necessary Targets" (Unentbehrliche Ziele) gab.
Aber zunächst entstand aus den über 200 Gesprächen etwas anderes: anderthalb Stunden Geflüster und Geschrei über die Vagina. Bittere Wahrheiten und süße Träume rund um die Unaussprechliche.
Knapp 80 Leute passen in den kleinen Saal des New Yorker Off-Theaters "Here", wo die Vagina-Monologe im Herbst 1996 Premiere hatten. Eve Ensler, mit lackschwarzer Bobfrisur und funkelnden dunklen Louise-Brooks-Augen, nahm auf einem Barhocker auf der Bühne Platz. Bis auf die Ornamente auf ihrem engen schwarzen Kleid sah alles sehr nüchtern aus. Karteikarten in der Hand, Mikrophonständer vor der Nase. Aber dann. "Ich wette, Sie sind besorgt", wandte sie sich ans Publikum. "Ich war besorgt... Ich war besorgt um die Vagina. So viel Dunkelheit und Geheimnis umgibt sie – wie das Bermuda-Dreieck. Niemand kommt je von dort zurück und berichtet."
Wenn deine Vagina sprechen würde, was würde sie sagen? Mach langsamer! – Wenn sich deine Vagina anziehen würde, was würde sie tragen? Einen Smoking.
Nur drei Jahre später sind die Vagina-Monologe Kult geworden. Ob Ensler sie selber spricht, noch immer eine dezente Barhocker-Sybille, aber jetzt in einem großen New Yorker Broadway Theater, oder ob Tausende von Schülerinnen und Studentinnen am 14. Februar mit ihrem Stück den "V-Day gegen Gewalt an Frauen" zelebrieren – mit den Vagina-Monologen fängt es an. Und nicht nur Frauen, auch Männer zelebrieren sie: sogar eine V-Day-Männergruppe gibt es, mit Harvey Keitel an der Spitze.
Im Hammerstein Ballroom las Shirley Knight die Erinnerungen einer alten Frau, die ihre Vagina hasste, seit sie beim Küssen im Auto einen vorzeitigen Orgasmus hatte: "Anschließend fuhr Andy mich nach Hause, und er sagte nie, nie wieder ein weiteres Wort. Und als ich ausstieg und die Autotür schloss, habe ich den ganzen Laden (da unten) geschlossen. Abgeschlossen. Nie wieder geöffnet..."
Glenn Close ließ sich zu einer Variation über die "cunt" (Möse – in der deutschen Version unpassend als "Fotze" übersetzt) hinreißen. Und wenn Ensler selbst auftritt, komisch und tragisch zugleich – ist der Höhepunkt immer eine kleine Typologie des Stöhnens: das gutbürgerliche Ehestöhnen (Stille), das Diva-Stöhnen (hohe Obertöne) und zum Schluss das überwältigte Multipler-Orgasmus-Stöhnen (unaussprechlich). Am Ende jeder Vorstellung streben die Zuschauerinnen zur Bühne und schütten Ensler ihr Herz aus.
Eve Ensler weiß, wovon sie redet. Sie wurde als kleines Mädchen von ihrem Vater missbraucht. "Er schlug mich mit Gürteln. Er drang durch alle nur denkbaren Öffnungen in mich ein." Folge: Selbsthass und Ekel. Ensler trank, nahm Drogen, trieb sich im Schlägermilieu herum. Mit Mitte 20 schaffte sie den Absprung – das Schreiben und ihr Adoptivsohn Dylan halfen ihr dabei. Mit Stücken über nukleare Abrüstung und über obdachlose Frauen machte Ensler sich in der New Yorker Off-Szene einen Namen – bis zum Eklat im Herbst 1996.
Village Voice verlieh den Vagina-Monologen den begehrten "Obie Award" und erklärte sie zum "wichtigsten feministischen Ereignis seit den BH-Verbrennungen 1968". Stars wie Glenn Close ließen sich anstecken. "Mit Eve tut man sich nicht einfach so zusammen", sagte Close, für die Ensler zur Zeit ein Drehbuch über Frauen im Gefängnis schreibt. "Man wird Teil ihres Kreuzzugs."
Die Einnahmen der V-Day-Aufführungen gehen an Frauenorganisationen. Am 14. Februar 2001 wollen Ensler und Mitstreiterinnen mit einer Massenveranstaltung im Madison Square Garden alle Rekorde brechen.
Auf Europa griff das V-Day-Fieber nur langsam über, obwohl Ensler bereits vor zwei Jahren damit auf Tournee war. Paris wird am 8. März seinen ersten V-Day zelebrieren. In Deutschland ist frau am Stuttgarter Theater und an der Jenaer Universität dabei, in Mannheim hatten die Vagina-Monologe Premiere. Vermutlich wird die gerade erschienene deutsche Fassung den Verbreitungsprozess beschleunigen.
Beim Publikum ist das Vagina-Stück in den USA ein Riesenerfolg. Und auch die Medien sind beeindruckt: "Jede Frau enthüllt mit ihrer Geschichte Besonderheiten ihrer eigenen Psyche, beschreibt aber ohne Worte gleichzeitig auch die sozialen Zwänge, denen sich jede beugt – oder die sie bricht", schreibt Village Voice. "Eine der beeindruckendsten Leistungen der Vagina-Monologe ist Enslers Fähigkeit, die Stimmen ihrer Quellen authentisch wiederzugeben und dabei selbst eine frische, ehrliche Sprache zu schaffen."
Time Out vergleicht das Stück mit Erica Jongs "Angst vorm Fliegen", seit dem "es kein so unterhaltsames und von Herzen kommendes genitales Fest mehr gegeben" habe. Und die ehrwürdige New York Times schreibt: "Die Monologe reichen von Vergewaltigung als einer Waffe (die Frau beschreibt eine Gruppenvergewaltigung als Zerstörung ihres Dorfs, und die Sprache ist so eindrücklich wie Lyrik) über die sexuelle Initiierung einer 13-jährigen durch eine 24-jährige Frau bis zur Geburt von Enslers eigener Enkelin.
Ensler interpunktiert die Monologie mit Einschüben über vergangene Unwissenheit, Misshandlung von Frauen und – sehr erheiternd – mit einer Litanei von Euphemismen und Beschwörungsformeln: gesungene Worte, die Geschmack, Berührungen, Bilder und Gerüche hervorbringen – und großes Gelächter beim Publikum".
In der Frauenforschung hat der Tabubruch bisher wenig Widerhall gefunden, ganz im Gegensatz zur Rezeption von früheren Performance-Künstlerinnen wie Carolee Schneemann und Karen Finley. Schneemann zog in den 60ern eine Schriftrolle aus ihrer Vagina, die an Sprechbanner in alten Bildern oder an einen Filmstreifen erinnerte. Finley provozierte in den 80ern mit schweinischen Rhapsodien und beschmierte sich von oben bis unten mit Schokolade. Statt einer modischen "Dekonstruktion" der Thematik benennt Ensler, gestützt auf über 200 Fallbeispiele, die Realität. Die Vagina-Monologe sind überhaupt nicht symbolisch, sondern ganz realistisch.
Beim Vagina-Workshop erkunden sich die Teilnehmerinnen selbst. Der Erzählerin schießt es durch den Kopf: "Ich musste es nicht finden. Ich musste es sein ... meine Vagina sein." Sie berührt ihre Klitoris. "... ich legte den Finger auf das, was plötzlich ich geworden war. Ein leichtes Zittern nötigte mich zum Bleiben. Dann wurde das Zittern ein Beben, eine Eruption ..." – und der Dämon der Scham war verschwunden ... Das Benennen und Berühren entfaltet in den Vagina-Monologen eine explosive Magie.
Dem gebührt frauenpolitisch mehr Anerkennung, als auf die Leseliste der Universität von Miami gesetzt zu werden. Aber Ensler ist es vermutlich sowieso wichtiger, dass eine Organisation wie die "Empire State Pride Agenda Foundation" (der Stiftung zur Förderung des Stolzes auf das Empire State Building) sie zur Benefizgala bat. "Sag: Vagina!" Auf dem Empire State Building!
Der Kreuzzug geht weiter. Auf den neuesten Anzeigen für die Vagina-Vorstellungen findet sich, unter den fetten Blocklettern VAGINA, ein Motto von göttlicher Anzüglichkeit: "Verkünde das Wort!"
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