Emel hat das Kopftuch abgelegt!
Sie ist die Tochter des Milli-Görüs-Gründers – was die sechsfache Mutter nicht hindern konnte, irgendwann über das angebliche „Gottesgebot“ zur Verschleierung nachzudenken. Mit Konsequenzen.
Emel Algan stürmt wie ein Wirbelwind in die EMMA-Redaktion. Die enge Hose und die dünne Bluse leuchten türkis, Ringe glitzern an ihren Fingern, Armbänder klirren an ihren Handgelenken, ihre braunen Augen leuchten, und ihre
schwarzen Locken wirken wie elektrisch geladen. „Meine Haare machen, was sie wollen, sie neigen zur Wildheit“, sagt sie und lacht. Dieser vor Lebenslust sprühende Irrwisch, diese mädchenhafte Frau hat sechs Kinder und bis vor 18 Monaten das nicht zu bändigende Haar unter dem islamischen Kopftuch verborgen.
Von Emel Algan ist neuerdings immer mal wieder in den Medien die Rede, nur in EMMA bislang noch nicht. Also rief die öffentlich Abtrünnige kurzerhand bei uns an, um der Zeitschrift, die seit einem Vierteljahrhundert kritisch wie keine andere über den politischen Missbrauch von Kopftuch und Islam berichtet, ihre Geschichte zu erzählen. Hier ist sie.
Mit 16 wird Emel versprochen und mit 19 verheiratet. Und seit sie mit zwölf ihre erste Periode bekam, trug sie 30 Jahre das islamische Kopftuch – im Februar 2005 hat sie es, mit 42 Jahren, abgelegt. Als Zeichen ihrer neuen Identität legte sie sich zugleich einen neuen Namen zu: Emely Abidin. Abidin ist ihr Geburtsname; Emely ist der Kosename, den der geliebte Vater seiner Erstgeborenen gab.
Dass Emel Algan kein Kopftuch mehr trägt, ist alles andere als Privatsache: Es ist ein Politikum. Denn diese Frau stammt aus dem Kern der politischen Islam-Szene in Deutschland. Ihr 1986 verstorbener Vater, der irakische Arzt Yusuf Zeynel Abidin, gründete 1976 in Köln die deutsche Sektion der türkischen ‚Milli Görüs‘ und wird bis heute hochverehrt in der Szene. Für Emel und ihre jüngere Schwester Muna arrangierte er Ehen mit zwei türkischstämmigen Brüdern: Ahmet und Haldun Algan. Die beiden Männer sind federführend in der ‚Islamischen Föderation Berlin‘ aktiv, die Berliner Variante von ‚Milli Görüs‘. Und ihre Frauen hoben 1985 unter dem Föderationsdach den islamischen Frauenverein ‚Cemiyet-i Nisa‘ aus der Taufe, der inzwischen als Träger von Kindertagesstätten Mitglied im ‚Paritätischen Wohlfahrtsverband‘ ist. Emel und Muna sind außerdem offiziell die Gründerinnen des ‚Islam-Kollegs Berlin e.V.‘: Träger einer islamischen Grundschule, an der auch Fereshta Ludin unterrichtet.
Ausgerechnet Ludin, die gebürtige Afghanin mit dem deutschen Pass, die sieben Jahre lang durch alle Instanzen für das Recht von Lehrerinnen auf das Kopftuch kämpfte, trug dazu bei, dass Emel heute keins mehr trägt. Als im September 2003 die Verhandlung vorm Bundesverfassungsgericht anstand, habe sie sich überlegt, wie sie die „immer dramatischer werdende Debatte etwas entspannen“ könne, erzählt sie EMMA.
Emel nahm Kontakt zu einer Berliner Hutmacherin auf, mit der sie als Kompromiss fünf „Kopfschmuckmodelle“ – eine schräge Mischung aus Kopftuch und Hut – kreierte. Der Flip war ein Flop. Zwar kamen die Modelle in den Medien gut an, aber nicht bei strenggläubigen MuslimInnen. Auch Emel trug die Kopftuch-Hüte nicht lange. Sie begann, „die Quellen zu erforschen“ – und da war endgültig Schluss mit der Bedeckung. Denn Emel wurde klar, dass die aus dem Koran abgeleiteten Regeln, die bei Strenggläubigen auch 1400 Jahre später noch gelten, reine „Interpretationen“ von heute sind.
Ganz wie christliche TheologInnen, die seit Anfang der 70er, also seit Beginn der Frauenbewegung, die Bibel kritisch lesen und neben „Gott“ die „Göttin“ stellen, ganz so begannen auch Musliminnen in den 90er Jahren, den Koran mit weiblichem Blick zu betrachten – und die angeblich vom Propheten diktierte Unterwerfung der Frauen in Zweifel zu ziehen. Inzwischen ist die frohe Botschaft also auch bei Yusufs Tochter angekommen.
Auch Emel Algan liest den Koran jetzt gegen den Strich. In Sure 33/58 zum Beispiel wird erzählt, dass ein Mann die Ehefrau des Propheten bei der Verrichtung ihrer Notdurft beobachtet hat. In der „Offenbarung“ heißt es dann: „Die Frauen der Gläubigen sollen ihre Übergewänder reichlich über sich ziehen, damit sie erkannt und nicht belästigt werden.“ Und dies vor allem zur Unterscheidung von den nicht verschleierten Sklavinnen.
Doch in keiner der beiden Suren, die als Regeln für den Alltag zur Zeit Mohammeds verstanden werden müssten, sei von „einer ausdrücklichen Kopfbedeckung für Frauen“ die Rede. Außerdem sei damals die Verhüllung „noch keine Zeichen von Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft“ gewesen. Emel zog ihre Schlüsse: „Heute kann ich nicht mehr verstehen, warum ich 30 Jahre lang fraglos das Kopftuch getragen habe!“
Emel hat Anglistik studiert, ihr neuer Name „Emely“ klingt nach Emily Dickinson. Diese amerikanische Dichterin aus dem 19. Jahrhundert, die nie den Garten ihrer Kindheit verließ, hat sich die Welt jenseits des Zauns nur vorstellen können. Als die Emely aus dem 20. Jahrhundert noch Emel hieß, bewegte sie sich zwar in der Welt draußen, aber ihr Kopftuch trennte sie von dieser Welt, in der sie als „Fremde“ weithin sichtbar war. Doch auch Emel wollte nicht länger die „Andere“ sein, sie wollte dazu gehören – und zog das Kopftuch ab.
Das erste Mal bei einem Restaurantbesuch mit ihrem Halbbruder, dem bekannten Schauspieler Ünal Silver. Emel ging mit Kopftuch zur Toilette – und kehrte „probeweise“ ohne zurück. „Erst kam ich mir vor wie nackt“, sagt Emely rückblickend – und kann heute die Emel von vorher selber kaum noch verstehen. Doch was war der Auslöser für den so schwerwiegenden Entschluss? Emel Algan nennt es ihr „Spiegelerlebnis“. Wir würden vielleicht sagen: Sie hat sich verliebt. Kurzum: Sie ist einem Menschen begegnet, in dem sie sich wiedererkannt, gespiegelt hat. Einem Gleichen, vor dem sie sich nicht länger unterm Kopftuch verbergen wollte.
Emel Algan tauchte nun nicht nur bei ihrer Familie kopftuchlos auf. Nein, sie besuchte wenige Tage nach der Ermordung von Theo van Gogh (durch einen radikalen Islamisten) auch in Berlin eine mit ihrer islamischen Community anberaumte öffentliche Diskussion in der katholischen Akademie. Nun war der Skandal komplett.
Die noch netteste Reaktion in ihrem Bekanntenkreis lautete: Sie ist verrückt geworden, bzw. sie ist „vom Teufel besessen“! Um zu beweisen, dass letzteres nicht der Fall ist, ging Emel „freiwillig“ zu dem besten islamischen „Teufelsaustreiber“ von Berlin (im Hauptberuf Händler). Und siehe da: Kein Teufel sprach aus ihr bei der rituellen Beschwörung. Stattdessen sprach Emel: „Ich möchte einfach anders leben! Allein, eigenverantwortlich - mit einem selbstgewählten Partner.“ Fremde Töne. Der Hoca sprach, sie solle froh sein, einen Mann zu haben, der sie nicht schlage.
Nach einem Jahr Kopftuch-Abstinenz, bei Dreharbeiten für einen WDR-Dokumentarfilm im Februar 2006, musste Algan sich noch einmal für eine ganze Stunde bedecken: „Schrecklich, grausam war das! Ich hatte das Gefühl, ich bin Luft für die Leute. Und die Frisur war hin.“
Doch Emel-Emely hat mit der Welt hinter dem Zaun nicht wirklich gebrochen – sie ist immer noch eine Gläubige. Allerdings glaubt sie nicht mehr an einen „strafenden Gott“, sondern an einen „liebenden Schöpfer“. Was ihr so übel genommen wurde, dass sie am Anfang fürchtete, sich „in die Position eines potenziellen Ehremordopfers und einer Abtrünnigen katapultiert“ zu haben.
Inzwischen wird sie sogar „wieder eingeladen“, erzählt sie. Wie neulich zu einem Workshop in London über die „europäische Staatsbürgerschaft von Muslimen“. Da hat Emely-Emel neben Tariq Ramadan, dem Enkel des Begründers der Muslimbrüder und führenden islamistischen Theoretiker in Europa, auf dem Podium gesessen, ohne jedoch mit ihm direkt ins Gespräch zu kommen: „Dabei haben wir was ganz Spannendes gemeinsam. Mein Vater war in jungen Jahren ein Anhänger von Ramadans Großvater Hassan Al-Banna, der 1928 in Ägypten die Muslimbruderschaft gegründet hat.“ Das erzählt sie so unbefangen stolz, als ob es um den Gründer des ‚Paritätischen Wohlfahrtsverbandes‘ ginge – und nicht um die Urzelle der militant-islamistischen Bewegung, die unter anderem auch ‚Al Quaida‘ gebar. Doch für Emel Algan ist diese Entwicklung nicht die Schuld ihrer Gründerväter: „Beide Organisationen, Milli Görüs wie die Muslimbruderschaft, haben im laufe der Zeit ihre sozialen Beweggründe verloren.“
Tut Emel Algan so naiv oder ist sie es womöglich? Kann es sein, dass eine Frau wie sie, die in ihrer Welt hinter dem Zaun wichtige Ämter und hohe Posten hatte, eigentlich nie wirklich begriffen hat, in welchen Zusammenhängen sie agierte; angefangen mit dem eigenen Vater, den sie bis heute – 20 Jahre nach seinem Tod – bedingungslos liebt?
Der aus dem Irak stammende Yusuf Zeynel Abidin wurde zum Medizinstudium nach Istanbul geschickt. Dort begegnete er im Alter von 24 einer 30-jährigen Schönheit ohne Kopftuch, in der er sich Hals über Kopf verliebte: Emels Mutter. Die war mit 14 zwangsverheiratet und Mutter geworden. Emels Halbbruder Ünal Silver wuchs in einem reinen „Frauenhaushalt“ auf: bei der Mutter und der verwitweten Großmutter. Erst nach der Heirat mit ihrem Vater begann Emels Mutter Kopftuch zu tragen: „Ich glaube, aus Liebe zu ihm.“
Emel Algan geborene Abidin kam 1960 in Istanbul zur Welt. Als sie sieben Monate alt war, ließ sich ihr Vater als Arzt in Lehrte bei Hannover nieder, wo ihre drei Jahre jüngere Schwester Munal geboren wurde. Bald darauf zogen die Abidins nach Hückeswagen bei Köln. Yusufs Älteste machte in der katholischen Ursulinen-Schule im benachbarten Wipperfürth ihr Abitur. „Es war klar, dass ich anschließend studieren sollte“, erzählt sie. Die Verheiratung mit 19 versteht sie bis heute als Ausdruck der Fürsorge ihres Vaters, der sie nicht „ohne den Schutz der Ehe“ in die Hochschulwelt entlassen wollte.
Die früher brave Ehefrau hat „30 Semester Anglistik studiert, ohne je einen Abschluss zu machen“, dafür bekam sie Schlag auf Schlag sechs Kinder: als ältestes eine Tochter und dann fünf Söhne. Ihre Tochter, 25, ist mit der strengen Version des islamischen Kopftuchs (dem Kopftuch unter dem Kopftuch) verschleiert, aus dem auch nicht ein einziges Häärlein hervorlugen kann. Was sagt diese Strenggläubige zu den Eskapaden ihrer aufmüpfigen Mutter? „Sie akzeptiert das, weil sie mich liebt.“ Und die fünf Söhne, von denen der älteste 23 und der jüngste fünf ist? „Die fragen mich, ob ich mal wieder einen Ghandi-Text geschrieben habe.“ Und die verschleierte Schwester? „Die spricht nicht mehr mit mir, obwohl wir früher alles zusammen gemacht haben und heute noch Tür an Tür wohnen!“
Und was würde Emels Mann Ahmet antworten, wenn wir ihn fragten, was er von ihrem friedfertigen Gott hält? – „Der glaubt immer noch an den strafenden Gott!“ Wir in der Welt diesseits des Zauns können es nicht wirklich verstehen, warum Emel und Ahmet Algan immer noch in einem Haus zusammenleben. Sie sagt, sie wären „muslimisch getrennt“, das staatliche Scheidungsverfahren laufe, aber wegen der drei minderjährigen Kinder blieben sie ohnehin zusammen. „Wir mögen uns, das ist nicht der Punkt.“
Der Punkt sei, dass sie sich nie geliebt hätten; bei ihrer Heirat seien sie „über Religion definiert“ worden: „Wir waren die religiöse Emel und der religiöse Ahmet. Wenn überhaupt, waren 30 Prozent Sympathie dabei, mindestens 70 Prozent waren Fremdbestimmung, um unseren Eltern einen Gefallen zu tun.“
Emel Algan hat sich, als sie das Kopftuch ablegte, auf eine Entdeckungsreise in eine Welt begeben, in der Männer Frauen immer öfter achten – und sogar manchmal berühren, ohne gleich über sie herzufallen. Seit zwei Jahren tanzt Emely-Emel in einer irischen Folkgruppe, paarweise. Seit einigen Monaten praktiziert sie auch noch den Kampfsport Aikido, ebenfalls gemischtgeschlechtlich. Welche Erfahrung sie da macht? „Dass Männer auch Menschen sind“.
Cornelia Filter, EMMA September/Oktober 2006