Männlich, vernetzt und krank

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Rudolf Morali ist onlinesexsüchtig. Nach einer sechs Monate währenden Odyssee durch die Praxen ratloser Ärzte fand er endlich den Weg in eine Spezialklinik für "nicht-stoffgebundene Suchterkrankungen". Die Sozialtherapeutin dort erinnert sich gut an Rudolf Morali. An seine fast aggressive Entschlossenheit, loszukommen von den virtuellen Pornobildern. Aber vor allem daran, dass er es geschafft hat, seine Ehe zu retten. Wenn man weiß, was diese Sucht für eine Beziehung bedeutet, dann kann man das – vorläufige – Happy End der Moralis als einmalig bezeichnen. Nun möchten die beiden auch anderen Paaren in ähnlicher Situation helfen. Für EMMA ein Glücksfall, denn eine zweimonatige Recherche bei allen Beratungsstellen, Therapeuten und Selbsthilfegruppen in Deutschland war gänzlich erfolglos, obwohl die Betroffenen anonym bleiben sollten. "Um Vertrauen haben zu können", wollten die Moralis ihrer Gesprächspartnerin persönlich gegenüber sitzen. Also fuhr Lisa Ortgies in eine kleine Mietwohnung in einer norddeutschen Stadt, wo die Moralis nach erfolgreicher Therapie mit den zwei Töchtern und einem Sohn hingezogen sind, um mit der alten Heimat in Hessen endlich "alles andere hinter sich zu lassen". An den therapiefreien Wochenenden, bei stundenlangen Spaziergängen am Meer, hatten die beiden hier wieder zueinander gefunden. Das geblümte Übereck-Sofa, auf dem Rudolf Morali fast zwei Jahre mit einem Laptop auf dem Schoß verbracht hat, haben sie mitgenommen. Zu Beginn des Gesprächs kommt der 13-jährige Johann reingestürmt, turnt einmal über die Lehne, wirft einen prüfenden Blick auf den Besuch und wird mit seiner Schwester Janine nach draußen geschickt, zum Spielen. Das Paar sitzt weit auseinander und hört sich gegenseitig zu, aufmerksam aber angespannt. Eine große Thermoskanne Kaffee steht bereit und zwei Aschenbecher, die im Laufe des Interviews mehrere Male geleert werden müssen.

Herr Morali, im Moment sind Sie "clean". Wie muss man sich eine Abstinenz bei einem Onlinesexsüchtigen vorstellen?
Zunächst mal muss ich stimulierenden Bildern aus dem Weg gehen, ob im Netz oder im Fernsehen. Ich gehe nie allein ins Internet und schaue auch nur mit meiner Frau fern, damit sie zur Not weiter zappen kann, wenn ich es nicht schaffe. Außerdem haben wir eine Kindersicherung fürs Internet. Ich muss den Computer sozusagen neu nutzen lernen, als Arbeitsgerät. Und ich habe kein eigenes Geld und auch keine Bankverbindung. Das muss ich noch eine zeitlang durchhalten, bis ich den Suchtdruck nicht mehr so spüre.

Wie hat es angefangen?
Bei einer Umschulung habe ich mich 1994 überhaupt erst mit einem Computer und dem Internet vertraut gemacht. Zunächst habe ich mir nur harmlose Stripspielchen runter geladen. Das Angebot damals war ja vergleichsweise harmlos. Aber es gab schon ein paar Pornodarstellerinnen wie Theresa Orlowski, die man aus den Filmen kannte und die haben auch im Netz Werbung für die einschlägigen Portale gemacht. Von Jahr zu Jahr kamen dann neue und abgefahrenere Sachen dazu, und ich bin immer weiter reingerutscht.

Wie muss man sich das vorstellen?
Nach der Arbeit habe ich acht bis zehn Stunden vorm PC verbracht. Wir hatten kein Arbeitszimmer, deshalb habe ich immer mit dem Laptop auf dem Schoß im Wohnzimmer gesessen – immer so, dass niemand Einblick auf den Schirm hatte. Am Wochenende gab es gleich nach dem Frühstück Pornos. Abends habe ich immer darauf gewartet, dass meine Frau endlich ins Bett geht und bin bis in die frühen Morgenstunden am Rechner hängen geblieben. Oder ich bin nachts noch mal aufgestanden und habe mich ins Wohnzimmer geschlichen, wenn alle schliefen.

Was haben Sie sich angeschaut?
Das hat ständig gewechselt, denn um denselben Grad an Erregung zu erreichen, musste ich immer mehr Bilder und Filme runter laden, immer härteres Zeug. Die Darstellungen wurden immer extremer. Irgendwann habe ich nur noch auf Genitalien in Großaufnahme reagiert. Dann kamen Gang Bangs oder Anal- verkehr in Nahaufnahme. Gesichter haben mich nicht mehr interessiert. Bei den Darstellerinnen habe ich nur noch abgecheckt, ob mir Busen und Genitalien gefallen. Inzwischen war ich bei Anbietern gelandet, wo man gegen eine Flatrate 50 Gigabyte an Material runterladen konnte.

Hatten Sie trotzdem noch eine gemeinsame Sexualität mit ihrer Frau?
Der Sex in der Beziehung wurde immer weniger und die Selbst- befriedigung immer wichtiger. Ich habe mir selbst vorgemacht, dass meine Frau sowieso nicht will und habe ihr das auch eingeredet. Das Masturbieren hat stark zugenommen, bis zu fünf Mal am Tag. Wahrscheinlich hätte ich es noch öfter gemacht, aber da ich im Wohnzimmer saß mit meinem Laptop musste ich mich immer zurückziehen. Das war am Ende so, als würde man auf Toilette gehen. Beim Sex mit meiner Frau habe ich den Orgasmus gar nicht mehr gespürt. Das sexuelle Empfinden zu zweit war einfach weg. Ich musste mich dabei immer konzentrieren, um keine Pornobilder aus dem Netz hochkommen zu lassen. Dazu kam, dass ich beim Verkehr Schmerzen hatte, weil ich mich so oft selbst befriedigt habe.

Konnten Sie noch arbeiten?
Ich habe es zwar zur Arbeit geschafft, konnte mich aber nicht mehr konzentrieren. Ich musste oft nacharbeiten und mein Chef hat mich irgendwann angesprochen, was denn mit mir los sei und dass die Qualität meiner Arbeit nachgelassen hatte. Acht Wochen vor der Therapie ging dann gar nichts mehr, und ich musste mich krankschreiben lassen.

Hat sich ihr Familienleben verändert?
Eigentlich habe ich meiner Frau gar nicht mehr zugehört. Egal wer, mein Umfeld war mir gleichgültig. Ich wollte nur noch, dass alle mich in Ruhe lassen. Das Abendessen habe ich so schnell wie möglich und wortlos runter geschlungen. Und wenn ich nach dem Essen noch meinen Teller abräumen sollte oder die Wäsche in den Keller bringen, war ich schon komplett genervt.

Wie war der Umgang mit ihren Kindern?
Die Töchter sind mir mehr oder weniger freiwillig aus dem Weg gegangen. Und wenn unser Sohn Kontakt gesucht hat, habe ich ihn grundsätzlich abgewimmelt. Aber irgendwann war mir auch das egal. Wenn ich zwischendurch auf die Toilette bin, habe ich mein Laptop mit einem Porno auf dem Schirm einfach stehen lassen. Mir war auch gleichgültig, ob mein Sohn neben mir saß, wenn ich gesurft habe. Manchmal hat er die Bilder sogar kommentiert: 'Die hat aber einen geilen Arsch und große Titten'. Das ist mir gar nicht mehr negativ aufgefallen. Es kam soweit, dass ich mich auch an Gespräche oder Dinge, die ich gesagt habe, nicht mehr erinnern konnte. Meine Frau ist dann schließlich aus Kummer über meine Sucht selbst alkoholabhängig geworden.

Wie sind Sie anderen Frauen in ihrem Umfeld begegnet?
Irgendwelche Frauen draußen, also an der Supermarktkasse, oder auf der Straße, habe ich auch nicht mehr als Personen wahrgenommen. Gesichter haben mich gar nicht mehr interessiert. Ich habe Frauen nur noch zoombezogen betrachtet. Also ihren Busen und Hintern abgescannt. Wenn die mit mir geredet haben, wusste ich Minuten später nicht mehr, was gesprochen wurde. Das ging soweit, dass ich mich überhaupt nicht an einen Wortwechsel erinnern konnte und darüber auch Streit mit meiner Frau hatte.

Gab es nie einen Punkt, an dem sie die Bilder satt hatten, wo sie nichts mehr erregen konnte?
Nein, die Dosis ließ sich ja immer weiter steigern. Webcams haben mich zum Beispiel ganz schnell gar nicht mehr interessiert, weil da einfach zu wenig passierte. Das war für meine hohe Reizschwelle unbrauchbar. Auch Sexchats zum gegenseitigen Anheizen waren für mich nur noch Geplänkel in den Pausen, harmlos. Irgendwann habe ich die auch gar nicht mehr gelöscht und meine Frau konnte mitlesen. Meine Logik war: wenn die mich nicht mehr erregen, wie soll sich dann jemand anders daran stoßen? Ich habe gar nicht verstanden, warum meine Frau darauf eifersüchtig war. Ab einem gewissen Punkt wurde diese Surferei zur sinnlosen Suche nach dem perfekten Bild. Das reichte dann für ein oder zwei Erregungen, danach war es abgenutzt und ein neues musste her. Ich habe immer öfter riesige Datenmengen aus dem Netz geladen, die ich nie wieder angeschaut habe. Es ging nur noch darum, all diese Bilder zu besitzen.

Sind sie auch bei Gewalt- oder Kinderpornos gelandet?
Hardcore habe ich mir selten angeschaut, weil man da immer auch eine Bankverbindung und die Nummer des Personalaus- weises angeben musste. Das war oft eine finanzielle Hürde. Auf Kinderpornos stößt man im Netz automatisch, wenn man so exzessiv unterwegs ist. Da taucht plötzlich ein Pop-up auf, nach dem man gar nicht gesucht hat. Aber bei so was geht meine Erregung sofort flöten. Ich habe solche Links oft als Mail an die Polizei weiter geleitet. Aber generell ist diese sinkende Hemmschwelle und die ständige Dosissteigerung auch der Grund, warum Sexsüchtige, die eigentlich nichts damit am Hut haben, in die Pädophilie abrutschen. Diese Geschichten liest man auch häufig in den Foren für Süchtige wie www.onlinesucht.de. Seit ich in Therapie war, kann ich die Beschreibungen solcher Surfkarrieren nicht mehr lesen, weil sich bei mir sofort ein Suchtdruck aufbaut.

Warum haben Sie aufgehört?
Weil meine Frau die Scheidung eingereicht hat. Da habe ich zum ersten Mal die zwei Jahre zuvor Revue passieren lassen und festgestellt, dass ich jede freie Minute vorm Computer verbracht habe. Kurz vor Weihnachten 2006 habe ich dann aus eigener Kraft aufgehört. Es war die Hölle. Ich hatte Entzugserschei- nungen – Unruhe, Nervosität und Depressionen bis hin zu Selbstmordgedanken.

Was war das Schlimmste auf dem Weg raus aus der Sucht?
Das Unverständnis der Ärzte, an die ich mich gewandt habe. Die meisten haben das verharmlost und meinten nur lapidar: 'Das macht doch jeder' oder: 'Lass es doch einfach sein.' Keiner hat mich ernst genommen. Oder sie fühlten sich überfordert und haben mich weiter geschickt zu Fachärzten, Urologen zum Beispiel. Das war eine richtige Odyssee durch verschiedene Arztpraxen. Am Ende war es ausgerechnet eine Ärztin, die mir geholfen hat, obwohl ich nie mit einer Frau darüber sprechen wollte, eine Neurologin. Die kam als einzige auf die Idee, mich zu einer Suchtberatung zu schicken, weil sie kurz vorher einen ähnlichen Fall hatte. Ich war dann neun Wochen in stationärer Therapie, habe mich 24 Stunden am Tag mit der Sucht befasst, weit weg von zu Hause. Sonst hätte ich das nie geschafft.

Sind Sie in der Therapie auf etwas gestoßen, das eine Erklärung für ihre Sucht sein könnte?
Das Unangenehmste war, dass ich meinen Vater in mir selbst wiedererkannt habe. Plötzlich war die Erinnerung wieder da: dass er zwar zu Hause, aber immer abwesend war. Gleich nach der Arbeit ist er immer im Keller verschwunden, wo er seine Pornohefte versteckt hatte. Als ich zwölf Jahre alt war, habe ich sie dann beim Schnüffeln gefunden. Die Bilder konnte ich eigentlich gar nicht richtig deuten, aber die Erregung, die ich dabei empfand, die fand ich cool. Das war damals ein einschneidendes Erlebnis, das ich Jahrzehnte verdrängt hatte. Diese ersten Pornos aus der Schublade meines Vaters haben mich wohl schon damals aufs Gleis gesetzt. Meine Schwestern waren zumindest überhaupt nicht überrascht, als ich ihnen von meiner Sucht erzählt habe. Die meinten nur: Wir wissen ja, von wem Du das hast. Als ich 15 war, hat meine Mutter mich einmal im Keller erwischt und mit meinem Vater geschimpft. Den hat das aber gar nicht gekratzt, im Gegenteil. Plötzlich war da so ein stilles Einverständnis zwischen uns. Für ihn gehörte das zum Mannsein.

Wie schützen sie sich heute davor, rückfällig zu werden?
Vor allem schützt mich meine Frau. Wenn ich auf eine Seite will, die das Wort 'Sex' enthält wie die Portale für Onlinesüchtige, dann muss sie mich frei schalten. Die Passworte kennt nur sie. Außerdem haben wir eine Kindersicherung. Ein falscher Klick, dann wird das Fenster geschlossen und es erscheint eine Seite des Kinderschutzbundes. Und wenn ich im Fernsehen etwas sehe, was mich erregt, dann sage ich ihr sofort Bescheid. Dann lässt sie sofort alles stehen und liegen und wir reden. Manchmal merke ich aber auch erst am nächsten Tag, dass ich unruhig werde. Ein Bericht bei Spiegel TV über einen Amateurpornodreh in Russland zum Beispiel – der hat mir zwei Tage zu schaffen gemacht. Leider kann man solchen Bildern beim Rumzappen gar nicht mehr aus dem Weg gehen. Ab einer bestimmten Uhrzeit läuft soviel Telefonsexwerbung, dass ich das Gerät eigentlich abschalten müsste.

Haben Sie sich in der Therapie verändert?
Ich habe Verhaltensweisen entwickelt, die ich vorher nicht kannte. Meine Bedürfnisse nach Intimität und Nähe, die habe ich vorher schlicht verleugnet. Ich war immer der Meinung, ich bin gar nicht der Typ dafür, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich bin jetzt viel anhänglicher und kuscheliger. Und ich fordere das auch ein. Ich glaube, damit muss meine Frau jetzt erstmal klar kommen.

Wie sieht Ihre Prognose für Sie selbst aus?
Erstmal nehme ich mir vor, das nächste Jahr zu überstehen. Was mir zu schaffen macht, sind die Pornobilder, die mir manchmal unvermittelt in den Kopf schießen. Dass ich das überhaupt nicht steuern kann. In der Therapie haben sie mir erklärt, dass ich damit leben muss, weil sich so viele Bilder tief ins Unterbewusst- sein eingeprägt haben. Das ist wie eine Tätowierung im Hirn. Diese "Einschüsse" werden immer ein Problem bleiben, aber wenigstens werden sie im Laufe der Jahre seltener ... Im Frühjahr möchte ich eine Selbsthilfegruppe für Onlinesexsüchtige gründen, denn das war genau das, was mir gefehlt hat

Frau Morali, Ihr Mann hat erfolgreich eine Therapie abgeschlossen. Wie sieht Ihr Eheleben im Moment aus?
Wir sind immer noch dabei, uns anzunähern, reden stundenlang. Gleichzeitig bin ich für ihn so eine Art Bewährungshelferin. Ich weiß genau, wann bei ihm das alte Verlangen hoch kommt. Beim Fernsehen zum Beispiel schaue ich ihn immer genau an. Wenn Bilder von nackten Frauen auftauchen, kann ich an seinem Gesichtsausdruck sehen, dass er in seine gewohnte Welt abrutscht. Dann wird sofort weiter gezappt. Auch das ist neu: einfach mal zusammen vorm Fernseher sitzen. Das haben wir früher nie gemacht, es gab nur den Computer. Wir gehen jetzt auch mal spazieren oder spielen Karten. Mein Mann ist plötzlich sehr anlehnungsbedürftig. Als er das erste Mal seinen Kopf in meinen Schoß gelegt hat, habe ich einen richtigen Schreck bekommen. Vorher habe ich dieses Schmusige vermisst, jetzt wird es mir manchmal fast zuviel.

Was ist mit dem Sexleben?
Wir kuscheln viel, schmusen auf dem Sofa, aber Sex haben wir sehr selten. Ich kann nicht. Sobald es ins Bett geht, ziehe ich die Decke bis ans Kinn. Ich denke immer darüber nach, ob ihm dabei vielleicht Pornobilder aus dem Netz in den Kopf schießen. Ich kann mich immer noch nicht fallen lassen. Was mir Sorgen macht ist, dass er behauptet, meine Distanz im Bett würde bei ihm Suchtdruck aufbauen. Aber ich brauche einfach noch Zeit.

War Ihr Mann schon pornosüchtig, als Sie ihn kennen lernten?
Wahrscheinlich hat das Ganze schon vor 30 Jahren angefangen als er die Pornos seines Vaters gefunden hat. Aber als wir zusammen kamen, habe ich nichts geahnt. Obwohl er es mir schon sehr früh gesagt hat, indirekt. Als wir uns drei oder vier Wochen kannten, hat er mir erzählt, dass er ab und zu Bilder runterlädt und meinte gleich dazu: 'Das macht ja jeder'. Und ich dachte, stimmt, macht ja auch jeder. Da ich keine Pornos mag, habe ich mich auch nicht weiter dafür interessiert. Gerade, weil er so offen war und mir einzelne Bilder zeigte, hatte ich sogar grenzenloses Vertrauen.

Hat er sich in der Sucht verändert?
Er saß immer öfter mit seinem Laptop auf dem Schoß im Wohnzimmer – aber so, dass niemand auf den Bildschirm schauen konnte. Er hat dort Stunden um Stunden verbracht und war kaum noch ansprechbar. Wenn ich wissen wollte, was er da die ganze Zeit macht, dann hat er immer behauptet, dass er Musik und Filme für die Kinder runterlädt. Aber je näher ich dem Laptop kam, desto hektischer wurden seine Bewegungen mit der Maus. Er hat dann immer schnell ein harmloses Portal angeklickt. Unseren Sohn hat er regelrecht weggeschubst, wenn der sich neben ihn aufs Sofa setzen wollte.

Welchen Einfluss hatte seine Pornosucht auf ihren Alltag?
Nach und nach hat er sich aus allem raus gezogen, was mit Verantwortung zu tun hat. Die Finanzen, Schule, Einkäufe, alles blieb plötzlich an mir hängen. Unsere pubertierenden Töchter haben die Situation genutzt und ihn immer dann nach irgendeiner Erlaubnis gefragt, wenn er in den Schirm vertieft war. Er hat dann immer zu allem Ja gesagt, ohne auch nur hoch zu schauen, weil er seine Ruhe haben wollte. Plötzlich sind die beiden bis in die Nacht weggeblieben, aber er konnte sich hinterher nicht mal mehr daran erinnern, die Zustimmung gegeben zu haben. Er hat jedes Interesse an der Familie verloren. Wenn wir es doch mal geschafft haben, das Haus zu verlassen, um Verwandte zu besuchen, dann ist er gefahren wie ein Berserker – um so schnell wie möglich wieder am Rechner zu sein. Gleich nach der ersten Tasse hat er ständig auf die Uhr geschaut und gedrängelt, er müsse nach Hause zurück.

Haben Sie sich nie dafür interessiert, was er sich da den ganzen Tag anschaut?
Doch. Aber die härtesten Bilder hat er immer vor mir versteckt. Er hat mich sogar mal bei einer dieser Anheiz-Chats (ähnlich wie Telefonsex nur per Mail, Anm. d. Red.) mitlesen lassen. Er hielt das für besonders lässig nach dem Motto: Das sind doch nur Worte. Ich war total geschockt und eifersüchtig. Immerhin stand da genau beschrieben, was die gern im Bett miteinander anstellen würden, welche Stellung usw. Er hat meine Gefühle gar nicht verstanden und meinte, das sei doch alles nur ein Spiel, um zu sehen "wie weit die gehen würde". Ich habe erst im Nachhinein erkannt, dass da bei ihm schon jede Hemmschwelle verschwunden war. Ich glaube, er hat sich gedacht: 'Das lasse ich sie lesen, dann denkt sie, das ist ja harmlos und lässt mich in Ruhe'. Und verglichen mit dem Kick, den er zu diesem Zeitpunkt schon brauchte, um wirklich erregt zu sein, waren diese Sex-Chats ja tatsächlich softes Zeug. Aber für mich war das alles andere als harmlos.

Hatten Sie jemals den Verdacht, dass er sich – wie manche Onlinesexsüchtige – auch für Kinderpornos interessiert?
Ja, den hatte ich. Ich habe schließlich zwei Töchter und war monatelang nicht zu Hause, als ich selbst eine Therapie gemacht habe. Ich habe ihn deswegen irgendwann zur Rede gestellt. Aber er hat mir glaubhaft versichert, dass Kinder für ihn ein absolutes Tabu seien. Dass er sofort weiter klickt, wenn er solche Bilder auf den Schirm bekommt.

Was für eine Beziehung haben Sie damals geführt?
Die fand im Grunde nicht mehr statt. Nach der Arbeit hat er seine gesamte Zeit am Laptop verbracht. Wenn ich ins Bett ging, saß er immer noch davor. Oder er ist wieder aufgestanden, weil er angeblich nicht schlafen konnte und ist dann bis morgens am Schirm hängen geblieben. Zwischen uns beiden ist nach und nach alles Liebevolle verschwunden. Wenn wir miteinander geschlafen haben, dann nur, wenn ich darauf gedrängt habe. Dabei hatte ich dann immer das Gefühl, er zieht so ein Pflichtprogramm durch. Ich habe gespürt, dass er sich richtig Mühe geben musste, um erregt zu sein. Damals war er schon längst auf Pornos angewiesen, um überhaupt in Fahrt zu kommen.

Wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Ich habe zunächst alles auf mich bezogen. Ich dachte, ich bin eben nicht interessant genug oder ich muss eine Diät machen. Meine Miniröcke habe ich im Schrank gelassen und angefangen weite Pullis zu tragen. Ich wollte einfach nicht mit diesen perfekten Frauen im Netz verglichen werden und habe mich immer mehr versteckt. Mein Selbstbewusstsein war im Keller.

Wieso haben Sie ihn damals nicht konfrontiert?
Ich habe immer schnell aufgegeben. Er konnte sich so unheimlich geschickt rausreden – wie alle Süchtigen. Und im Grunde bin ich davor zurückgeschreckt, alle Details zu wissen, denn dann hätte ich ja reagieren müssen. Ich wollte aber meine "heile" Familie nicht kaputt machen. Oder die Vorstellung davon. Dabei war die seit langem kaputt. Ich war ja längst selbst alkoholsüchtig. Und er hat mich damit auch noch ausgetrickst. Am Sonntagmittag zum Beispiel hat er sich beim Surfen das erste Bier aufgemacht. Er wusste ganz genau, dass es nicht lange dauern würde, bis ich mir auch eins hole. So konnte er sicher sein, dass er seine Ruhe hat.

Aber trotzdem waren Sie ja irgendwann soweit sich scheiden zu lassen?
Ja, aber erst als ich selbst in Therapie war und endlich über vier Monate Distanz zu ihm hatte. Noch in den ersten Wochen in der Klinik war ich der festen Meinung, ich hätte einen wunderbaren Mann, der mich auf Händen trägt. So sehr habe ich mich selbst belogen. Diese Fassade ist dann langsam gebröckelt. Und dann kam ein Schlüsselerlebnis: Ich habe mir von dort Kontoauszüge geholt. Darauf habe ich Abbuchungen mit IP-Nummern gefunden. Das sind bestimmte Seiten, die man gegen Gebühr für vier Wochen frei schalten kann, um Bilder oder Filme herunter zu laden. Ich wusste sofort, was für Kosten das sind: Verschiedene Einzelposten von bis zu 180 Euro. Ich musste mich wahnsinnig zusammenreißen, um ihn nicht gleich am Telefon zu konfrontieren. Denn dann hätte er mich wieder bequatscht, das war mir klar. So habe ich ihm beim nächsten Besuch die Auszüge unter die Nase gehalten und danach war ich auch bereit, zu gehen.

Was haben Ihre Kinder von der Sucht Ihres Mannes mitbekommen?
Vor allen Dingen war er überhaupt nicht mehr für sie da. Aber es hat sie auch verändert. Als mein Mann tief in der Sucht steckte, ist auch die Hemmschwelle gegenüber den Kindern gesackt. Er hat sich Sexbilder als Bildschirmschoner geladen und hat sein Laptop mit diesen Bildern einfach stehen lassen. Er hat auch nicht immer gemerkt, wenn der Junge neben ihm saß und ihm beim Surfen zugeschaut hat. Heute sagt der Kleine manchmal Sachen, von denen er glaubt, sie würden seinem Papa imponieren – also dem Papa, der immer stundenlang nach Pornos gesurft hat. Der kommt aus der Schule nach Hause und sagt über seine neue Mathelehrerin: 'Die hat tolle Titten. Die würdest Du bestimmt auch ganz gern mal anfassen, Papa!' Dabei ist er noch so jung!

Und ihre Töchter?
Die Ältere weiß bis heute nicht, was los war. Aber der Jüngeren hat mein Mann alles erzählt, hat sie über seine Sucht aufgeklärt. Das fand ich, ehrlich gesagt, sehr schlimm, weil ich nicht da war, um das aufzufangen. Ich war zu der Zeit selbst weg von zu Hause, in Therapie. Ein paar Tage, nachdem ich zurück war, ist sie ausgezogen und wohnt jetzt bei meiner Mutter. Sie sagt nur, der Grund dafür fiele in die Zeit meiner Therapie. Und dass sie sich eine Überweisung geholt hat für die Kinderpsychiatrie. Das hat mich sehr aufgewühlt. Ich wollte dann eine Familienhilfe holen, aber sie hat mich mit ihrem Auszug vor vollendete Tatsachen gestellt. Jedes Kind hat eben seine eigene Art und Weise damit umzugehen. Im Moment komme ich nicht an sie ran. Sie steht wohl sehr unter dem Einfluss ihrer Großmutter und die redet ihr ein, sie müsse raus aus unserer Familie.

Ist Ihr Mann jetzt über die Sucht hinweg?
Grundsätzlich gibt es da keine Heilung. Man kann die Sucht nur kontrollieren. Aber es wird immer eine Gefahr bleiben, denn wir können ja nicht ganz auf einen Computer oder aufs Netz verzichten. Ich würde sagen: Wir stecken noch mittendrin, beide. Aber im Mai ist er ein Jahr suchtfrei. Dann will er eine eigene Selbsthilfegruppe für Onlinesexsüchtige gründen.

Was raten Sie anderen Frauen in einer ähnlichen Situation?
Sie sollten ihren Mann knallhart konfrontieren, von Anfang an. Keine Ausflüchte wie: 'Ich glaube' oder 'Ich vermute', sondern 'Du schaust Dir diese Bilder an und dann holst Du Dir einen runter'. Aber zuerst sollten sie heimlich Beweise sammeln, die keine Ausrede mehr zulassen: Rechnungen, Abbuchungen. Man darf ihm weder verbal noch sachlich ein Schlupfloch lassen, sonst hat man verloren. Und die Frau sollte Konsequenzen androhen: 'Ich ziehe aus!' Das muss sie dann aber auch durchziehen ...

Zum Weiterlesen:
Wenn Online-Sex zur Sucht wird (3/2008)
morali-oss@web.de
www.onlinesucht.de
www.internet-sexsucht.de
www.sex-sos.net
www.anonyme-sexsuechtige.de
www.scheidungsprobleme.de

Beratung Charité: Tel. 030 - 450 52 95 25

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