Patti Smith: Patin des Punk
Wir befinden uns Mitte der 70er Jahre und der Zeitgeist ist ... eine Rebellin. Frauen stellen Werte, Lebensverhältnisse und die gesamte Gesellschaft auf den Kopf. In autonomen Zentren reden, denken, tanzen wir, bis die Nacht zum Tag wird und wieder zurück. Frau-Sein bedeutet: Wir waren niemals müde und niemals ängstlich.
Genau in dieser Zeit hörten wir auf den Festen und Festivals eine Stimme, wie wir sie noch nie gehört hatten: den Sound unseres Aufbruchs - Patti Smith. Da war „Gloria“, ein Song über Begehren, der zur Hymne wurde. Halb Gedicht, halb Coverversion des berühmten van-Morrison-Liedes. Patti Smith verkündet der Welt in ihren ersten, eigenen Zeilen: „Jesus died for somebody’s sins, but not mine.“ Und sie besingt die Lust auf eine Frau: „Da kommt sie. Sie tänzelt über den Flur in einem schönen roten Kleid. Und oh, sie sieht so gut, so toll aus. Ich fühle, dass ich sie haben werde. Und sie lehnt sich über und flüstert mir zu, und ich mache den Riesenschritt...“
Schmale Hüften, lange Arme und Beine, raumgreifende, kraftvolle Bewegungen, so sieht das weibliche Pendant zu Keith Richards von den Rolling Stones aus. Auf der Bühne steht eine Eroberin, die etwas über Freiheit und Liebe zu sagen hat. Sexualität? Ja, klar, aber ohne zum Weibchen zu werden. Patti Smith ist nicht „sexy“, das unterscheidet sie von den stimmstarken anderen Idolen jener Jahre wie etwa Janis Joplin oder Tina Turner. Sie ist verwirrend androgyn.
Als kleines Mädchen verschlingt Patti Bücher. Die Eltern sind solide Arbeiterklasse und Zeugen Jehovas, und die Bücher daheim sind entweder schön religiös oder schön patriotisch. Sie verehrt Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orléans. Eine Kämpferin, die für die große Sache mit Männern ins Feld zieht und Geschichte schreibt. Sie fantasiert von großen Missionen, von einer Heldenwelt. In ihrer jetzt erschienenen Autobiografie „Just kids“ seziert Patti Smith genau, wie wenig sie Mädchen sein wollte, und wie fremd ihr die Weiblichkeit der Mutter war:
„Gegen die aufdringlichen Parfüms und blutroten Lippenstiftschlitze, so weit verbreitet in den Fünfzigern, sträubte sich alles in mir. (Meine Mutter) war die schlechte Nachricht und Überbringerin in Personalunion. Geschockt und aufsässig, meinen Hund zu meinen Füßen, träumte ich von Reisen. Träumte davon, auszureißen und zur Fremdenlegion zu gehen, schnell im Rang aufzusteigen und mit meinen Männern durch die Wüste zu ziehen“.
Als 16-Jährige liebt sie Bücher mehr als Jungs, entdeckt den französischen Dichter Arthur Rimbaud. Er wird zu ihrem Schlüssel zu einer Welt, die der Außenseiterin schöner und geheimnisvoller als jede Realität vorkommt. Rimbauds Gedichte und auch Bob Dylans Lieder geben ihr den Schwung, die öden Fabrikjobs daheim zu verlassen, wo sie schon als „Kommunistin“ gilt, weil sie sich für Politik und ausländische Literatur interessiert. Das Provinzmädchen zieht nach New York, ohne Plan, ohne Geld, ohne Kontakte, aber mit dem brennenden Wunsch, Künstlerin zu werden.
Es sind Hungerjahre, und das magere Mädel aus New Jersey tut sich mit einem anderen Hungrigen zusammen, um gemeinsam „ihr Ding durchzuziehen“: Robert Mapplethorpe, der später einer der berühmtesten Fotografen Amerikas wird. Sie jobbt in Buchläden, er geht zur Not anschaffen. Sie sind Musen füreinander, sie beschützen sich, teilen Ideen, Geld, Bett. Blutjung, bitterarm und optimistisch:
„Mein Arbeitsbereich war ein wüstes Durcheinander von Manuskriptseiten, stockfleckigen Klassikern, kaputtem Spielzeug und Talismanen. Ich heftete Bilder von Rimbaud, Bob Dylan, Lotte Lenya, Piaf, Genet und John Lennon über ein provisorisches Pult, auf dem ich meine Federn, mein Tintenfass und meine Kladden arrangierte – mein mönchisches Durcheinander.“
New York Ende der 60er Jahre ist gleichzeitig Aufputschmittel und Plüschsofa. Elektrisierend, gefährlich und doch auch dörflich romantisch. Patti Smith beschreibt einen Ausflug nach Coney Island, an den Atlantik:
„Entlang des ganzen Piers fischten kleine Jungs mit ihren Großvätern nach Krabben. Dazu steckten sie rohes Hühnerfleisch als Köder in kleine Käfige, die sie an ein Seil gebunden ins Meer warfen. Der Landungssteg wurde in den Achtzigern von einem starken Sturm fortgerissen, aber Nathan’s, Roberts Lieblingsladen, blieb zum Glück erhalten. Normalerweise reichte unser Geld nur für einen Hotdog und eine Cola. Dann aß er den größeren Teil der Wurst und ich den größeren vom Sauerkraut. Aber an diesem Tag hatten wir genug Geld, uns von allem zwei Portionen zu leisten. Wir spazierten über den Strand, um dem Ozean Hallo zu sagen, und ich sang Coney Island Baby von den Excellents. Robert schrieb unsere Namen in den Sand.“
Auf Bildern sieht das Paar oft wie Geschwister aus. Mapplethorpe zelebriert Smiths Androgynität, stellt sie cool und attraktiv an weiße Wände, im Männerhemd und lässigem Sakko. Und selbst später, als er sich für ein homosexuelles Leben entscheidet und seine wildesten Träume auslebt, geht die Intimität zwischen den beiden nie verloren. Patti Smith kann seine Obsessionen mit Sadomaso und Fetischen, mit Strichern und schwarzen Sexprotzen nicht verstehen, aber sie teilt seinen Willen zur Freiheit:
„Er arbeitete ohne Rechtfertigungszwang.... ohne jede Manieriertheit schuf er etwas durch und durch Maskulines, ohne die feminine Ausstrahlung zu opfern.“
Das Gleiche - mit umgekehrten Vorzeichen - gilt für Patti Smith. 1969 liefern sich New Yorker Homosexuelle Straßenschlachten mit der Polizei, um sich gegen Diskriminierung aufzulehnen. Smith ist stolz auf diese Pioniere. New York in den 70ern ist Brutstätte für alle, die sich nicht mehr in Normen zwingen lassen wollen. Patti Smith dichtet, singt, zeichnet, fotografiert, rezitiert. Sie schreibt für Underground-Zeitschriften, gehört zur Szene im später weltberühmten CBGB-Club und traut sich alles zu. Sie kauft sich auf Raten die erste Gitarre in einem Pfandhaus, dazu ein Bob-Dylan-Songbuch:
„Ich lernte ein paar einfache Griffe. Anfangs klangen sie gar nicht so schlecht, aber je länger ich spielte, desto scheußlicher wurde es. Ich wusste nicht, dass man eine Gitarre auch stimmen muss...“
Die Zeit großer Namen in der Literatur, Malerei, Musik. Sie trifft Jimi Hendrix, Bob Dylan, Allen Ginsberg. Geht zu Doors-Konzerten und bewundert Jackson Pollock. Andy Warhol sagt ihr wenig, da sind Velvet Underground und Viva schon interessanter. Charakteristisch ist ihre Distanz zu allem Glamour. Das Mädchen aus einer Arbeiterfamilie inspiriert die Szene und lässt sich inspirieren, aber ohne Kompromisse.
Ihre ersten Auftritte in den Clubs von Lower Manhattan sind mehr Performance als Konzerte. Sie kaut und spuckt Wörter, assoziative Wortbilder. Energiegeladen und aufregend anders ist ihr Sprechgesang, begleitet von einem Gitarristen. Niemand zuvor hat Rockmusik und Poesie derart hypnotisierend miteinander vermählt.
In der Szene der Downtown-Exzentriker, überwiegend Männer, bekommt Patti Smith Kultstatus. Schon bald stellt sie eine Band zusammen und findet ihre Mission, „den revolutionären Geist des Rock ‚n’ Roll zu bewahren, zu schützen und weiterzutragen.“ Leidenschaftlich glaubt sie an Kunst als Massenkommunikationsmittel, das die Verhältnisse zum Tanzen bringt.
Das legendäre Debutalbum „Horses“ macht sie ab 1975 weltberühmt und bis heute zur Patin des Punk. Und nicht nur wegen „Gloria“ greifen junge Frauen überall zur E-Gitarre, wollen nicht mehr gefallen und sich schon gar nichts gefallen lassen.
Patti Smith wird für Millionen junge Frauen im Westen ein Vorbild. Ein Spiegel ihrer Zeit. Das ist vielleicht schwer nachzuvollziehen in der heutigen Zeit, wo auf MTV provoziert wird auf Porno-komm-raus und im Fernsehen Tabubrüche gang und gäbe sind.
Nicht zufällig kommt es zum großen Krach mit ihrer Plattenfirma wegen der Plattenhülle eines weiteren Albums, „Easter“. Da sind Muskeln und... shocking... haarige Achselhöhlen zu sehen. Das berühmte Mapplethorpe-Foto ist eine politische Kampfansage gegen die männerdominierte Musikindustrie. Patti sei „walking women’s lib“, Frauenbefreiung auf zwei Beinen, sagen Freunde von damals.
Während in den 70ern die Rockmusik zunehmend zu netten Popsongs verkümmert, wollen Patti und ihre Band sich nicht vom Mainstream vereinnahmen lassen:
„Wir fürchteten, die Musik würde ihre Durchschlagskraft einbüßen, wir fürchteten, sie würde in fette Hände fallen und in einem Morast von Bombast, Geschäftemacherei und leerer Virtuosität untergehen.“
Seltsam mystische Songs wechseln sich mit rohem Punk ab, die bildstarken Texte halten Pattis Mischmasch zusammen. Die Musik wird gefeiert, aber nicht unbedingt gekauft. Und die anstrengenden Tourneen, das ewige Brennen – sie fordern ihren Preis. Nach einem schweren Bühnenunfall, der sie monatelang buchstäblich lahmlegt, will Patti Smith so etwas wie Seelenfrieden. „Because the Night“, die Hymne an Liebesnächte mit dem MC5-Rocker Fred Sonic Smith, wird ihr größter kommerzieller Erfolg.
Und dann kommt die Phase, die sie lapidar ihre „Auszeit“ nennt. Während der Weggefährte Robert Mapplethorpe immer stärker in die S/M-Schwulenszene abtaucht, fühlt sie sich zunehmend genervt vom Musikgeschäft und heiratet Smith („Wenigstens musste ich nicht den Namen ändern“).
Zwischen 1980 und 1994 fand dann eine ganz andere Patti Smith statt. Das Paar zieht weg von New York, die Band ist so gut wie aufgelöst. Das Liebeslied „Frederick“ unterstreicht, wie sehr sie ihre Prioritäten verändert. Von „Fürsorge“ singt sie, vom „Wunder der Liebe“ und dem „gemeinsamen Herzschlag“ eines perfekten Paares. In der Autobiografie hingegen bleibt sie seltsam vage:
„Über diesen Mann, der schließlich mein Ehemann wurde, möchte ich nur so viel sagen: er war ein König unter den Menschen und die Menschen wussten das.“
Vielleicht hofft sie, mit ihrem Mann so etwas wie John-Lennon-und-Yoko-Ono der 80er zu werden, also auf künstlerischen und politischen Wegen gemeinsam vorwärts schreiten zu können. Eine Illusion, wie Weggefährten schnell feststellen. Patti Smith-Smith konzentriert sich zunehmend auf die Rolle der Ehefrau und Mutter von zwei Kindern, ihre Musik wird vorsichtig, zahm, undeutlich. Die Alben dieser Zeit verkauften sich nicht gut. Als in kurzem Abstand ihr Mann Fred, ihr Bruder Todd und befreundete Musiker sterben, muss sie „Geld verdienen gehen“. Sie zieht zurück nach New York und geht wieder auf Tournee.
Es ist wohl ehrlich, wenn sie heute in Interviews sagt, dass sie mit ihren Kindern, mit Fremden nicht anders ist als auf der Bühne. Sie spielt keine Rollen, auch nicht die der Ikone. Unprätentiös ist das Auftreten, wenig bedeutet ihr der Kultstatus. Sie geht ungern zu Partys, mag das Nachtleben nicht besonders und hängt auch nicht mit berühmten Rockstars ab. (Obwohl sie mit den Größten aufgetreten ist.) Beethoven schätzt sie, alte Bücher und Opernbesuche.
Eins ihrer härtesten, besten Lieder aus den Anfängen heißt Rock’nRoll Nigger und war damals ungeheuer provozierend. Kein anständiger, aufgeklärter Mensch benutzte das N-Wort. Patti Smith nahm es für sich in Beschlag und haute es dem Publikum um die Ohren: „Jimi Hendrix was a nigger. Jesus Christ and Grandma too. Jackson Pollock was a nigger. Nigger, nigger, nigger!“ Der legendäre Gitarrist, der Erlöser der Menschheit, die unangepasste Großmutter, der Avantgardekünstler – Fixsterne im Kosmos der Patricia Lee Smith. Und so nimmt sie eine besudelte Vokabel als Auszeichnung für ein kompromissloses Leben.
Zur Musikszene heute sagt die Legendäre, dass es „keine olympischen Götter vom Format eines Jimi Hendrix oder Jim Morrison gibt. Dafür ist die Szene demokratischer. Niemand genießt Ikone-Status. Im Mittelpunkt steht die Musik selbst.“ Mag stimmen. Aber auch heute wären Göttinnen nicht so schlecht, Madonna hin und Lady Gaga her. Frauen, die so auftreten, als würden sie für ihre Kunst gleichzeitig leben und sterben. Frauen, die wie Patti Smith mit 61 noch sagen:
„Freiheit bedeutet, dass ich mich nicht von anderen Leuten bestimmen lasse. Außerhalb der Gesellschaft – da will ich sein.“
Sonia Mikich
PS: Um diesen Artikel zu schreiben, habe ich viele alte Platten herausgefischt und spürte die unglaubliche Energie von damals. Empfehlung: die Konzertmitschnitte auf Youtube geben eine Ahnung von Smiths Ausstrahlung.
Zum Weiterlesen: Patti Smith: „Just kids“ (Kiepenheuer & Witsch)