"Von Heilung kann selten die Rede sein"

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EMMA Herr Urbaniok, was erhoffen Sie sich bei einem Gewaltverbrecher von einer Therapie? 

Frank Urbaniok Risikosenkung: also Opferschutz. Dabei handelt es sich meist um ein Risikomanagement auf Dauer. Von Heilung kann man in den meisten Fällen nicht sprechen, von der Bereitschaft und den entwickelten Fähigkeiten zur Selbstkontrolle. Dem muss natürlich ein Problembewusstsein vorausgehen.

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Wie der Fall Nicole Dill zeigt, weiß man nicht immer, ob die Therapie wirkungsvoll war oder nicht, weil dies bei der Haftentlassung nicht überall obligatorisch geprüft wird. Somit gelangen unter Umständen jedes Jahr hunderte von erfolglos therapierten Gewalt-, und Sexualstraftäter in Freiheit. Wiegt sich die Öffentlichkeit in einer falschen Sicherheit?
In der Schweiz gibt es große regionale Unterschiede in der Verfügbarkeit professioneller Risikobeurteilungen und entsprechender Therapieangebote. Das hat vor allem mit kantonalen Unterschieden zu tun. Die Situation in Deutschland ist aber noch viel schlechter. Da fehlen einerseits entsprechende gesetzliche Grundlagen, andererseits gibt es noch größere Defizite in der therapeutischen Versorgung innerhalb des Strafvollzugs und vor allem in der ambulanten Nachbetreuung. Vergessen wir nicht, dass 99 Prozent aller Gewalt- und Sexualstraftäter nach Ablauf ihrer Strafe entlassen werden müssen. Klaus Michael Böhm, Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe hat mit seiner Behandlungsinitiative Opferschutz einen Vorschlag für eine Gesetzänderung in Deutschland eingereicht. Der Ball liegt nun bei der Politik.

Nicole Dill wurden im Vorfeld des Verbrechens Informationen vorenthalten, die sie hätten retten können. Was muss sich in dieser Hinsicht in der Schweiz wie in Deutschland ändern?
In der Zürcher Opferschutz-Charta stellen wir die Forderung auf, dass jeder Mensch das Recht hat, nicht Opfer einer Gewalt- bzw. Sexualstraftat zu werden. Wir haben zehn Paradigmen für einen besseren Opferschutz formuliert. Für ein effektives Gefährlichkeitsmanagement von Gewalt- und Sexualstraftätern ist die flächendeckende Verfügbarkeit professioneller Risikobeurteilungen sowie risikosenkender Therapien für rückfallgefährdete Straftäter von großer Bedeutung. Andererseits geht es aber auch darum, die kleine Gruppe der hoch gefährlichen und nicht therapierbaren Täter frühzeitig zu erkennen und langfristig zu sichern. Die Charta betont: Opferschutz hat Vorrang vor Datenschutz

Die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung war in der Schweiz lange Zeit heftig umstritten. Wie kam es, dass die Politik ihre Meinung änderte?
Ich habe mich bereits vor elf Jahren vehement für die Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung in der Schweiz eingesetzt. Damals wurde dieses Anliegen abgelehnt – aus meiner Sicht aus ideologischen Gründen. Nach der damaligen Rechtslage mussten wir acht Täter, die als unbehandelbar und hochgefährlich eingeschätzt wurden, nach Ablauf ihrer Strafe entlassen. In der „High-Risk-Offender“ Studie konnten wir belegen, dass alle rückfällig wurden. 24 weitere Opfer waren der Preis. Diese Studie war dann mit ausschlaggebend dafür, dass im Jahr 2007 in der Schweiz die nachträgliche Sicherungsverwahrung eingeführt wurde.

Ist das Thema „Sicherheitsverwahrung“ in Deutschland ähnlich stigmatisiert wie in der Schweiz?
Wie bekannt, hat das Bundesverfassungsgericht jüngst alle Verwahrungsartikel als verfassungswidrig erklärt. Man kann nur hoffen, dass mit der anstehenden neuen gesetzlichen Regelung der Erkenntnis Rechnung getragen wird, dass es unbehandelbare, hochgefährliche Straftäter gibt, die lebenslang verwahrt werden müssen! Diese Erkenntnis ist in Deutschland aber noch weit mehr umstritten als in der Schweiz. Und das aus ideologischen und zum Teil rechtsdogmatischen Gründen. Doch im Zweifelsfall sollte bei hohen Risiken immer zugunsten der öffentlichen Sicherheit entschieden werden. In diesem Sinn kann ich bestimmte Argumente der Gegner der Sicherheitsverwahrung nicht nachvollziehen. Beispielsweise das Argument: Jeder hat eine zweite Chance verdient. Ja, sicher – aber nicht auf Kosten potentieller Opfer.

Im Bereich der Therapierbarkeit gibt es Grenzen oder Täter verstellen sich, geben eine Besserung vor, wenn es um eine anstehende Haftentlassung geht. Wie erkennt man den Lügner?
Es ist sehr wichtig, dass nicht nur auf das gesprochene Wort geachtet wird, sondern vor allem auf das Verhalten. Gut ausgebildete Experten erkennen mit hoher Wahrscheinlichkeit, wenn nur eine scheinbare Anpassung erfolgt. Wichtig ist dabei, dass man immer das Tatmuster genau analysiert und daraus seine Schlussfolgerungen zieht. Diese Informationsquelle ist dann mit den Aussagen des Täters abzugleichen. Hier können schon häufig Diskrepanzen oder Täuschungsmanöver aufgedeckt werden. Zum anderen ist es wichtig, dass alle Informationen über das Verhalten des Täters – beispielsweise in einer Strafanstalt also im nicht-therapeutischen Bereich – zusammenfließen. Ich habe eigene Therapieinterventionen wie die Deliktrekonstruktion entwickelt, durch die ein Täter gezielt wieder in die Tatsituation zurückversetzt wird. Auch solche Intervention führt dazu, dass Diskrepanzen aufgedeckt werden. Bei uns in Zürich funktioniert es gut. Wir können außerordentlich niedrige Rückfallraten vorweisen.

Von welchen Umständen hängt die Einschätzung der Gefährlichkeit eigentlich ab?
Von den prognostischen Syndromen, das sind Persönlichkeitsmerkmale, die mit Risiken für Straftaten verbunden sind. Prognostische Syndrome dürfen nicht mit Diagnosen verwechselt werden. Ein Selbstmord-Attentäter, der aus religiöser Überzeugung einen Sprengstoffanschlag verübt und überlebt, ist gefährlich – ohne dass er im psychiatrischen Sinn krank sein muss. Schwierig wird es, wenn prognostischen Risiko-Merkmale fest in der Persönlichkeit verwurzelt sind. Dies können beispielsweise Fantasien zu gewalttätigem Sex sein, politische Überzeugungen, dissoziale Lebensweisen, um nur einige zu nennen. Was einer Therapierbarkeit im Weg stehen und somit zur Gefährlichkeit beitragen kann, ist auch ein mangelndes Problembewusstsein des Täters.

Welchen persönlichen und therapeutischen Weg muss ein Sexualstraftäter zurücklegen, damit er für die Allgemeinheit keine Gefahr mehr darstellt?
Zentral ist, dass der im Einzelfall wirksame Deliktmechanismus erkannt wird und dementsprechend an den individuellen Risikomerkmalen gearbeitet wird. Wir verwenden FOTRES und integrieren Gefährlichkeitseinschätzungen transparent in jeden therapeutischen Prozess. Das heißt, die individuellen Risikomerkmale, die verlässlich bestimmt worden sind, dienen als Maßstab für therapeutische Fortschritte und Entlassungen.

Welche rechtlichen Unterschiede gibt es zwischen Deutschland und der Schweiz?
In der Schweiz werden beim Gerichtsverfahren professionelle Risikoeinschätzungen durch Gutachten bei Gewalt- und Sexualstraftaten häufig, in Deutschland jedoch nur selten erstellt. In der Schweiz gibt es eine breite Palette gerichtlich angeordneter Therapiemaßnahmen, die begleitend und auch über den Strafvollzug hinaus durchgeführt werden. Ein vergleichbares Instrumentarium existiert in Deutschland nicht. Dies sind nur zwei Beispiele, die zeigen, dass das deutsche System zu wenig auf Prävention und Opferschutz ausgerichtet ist. Grundsätzlich gilt: Man muss zwischen dem Schuld- und dem Präventionsprinzip unterscheiden. Für die Prävention ist nicht die Schuld in der Vergangenheit wichtig, sondern die Gefährlichkeit eines Täters in der Zukunft. Das deutsche Recht und die deutsche Justizvollzugspraxis aber sind zu sehr und zu einseitig auf das Schuldprinzip ausgerichtet. Das Augenmerk liegt darum in der Vergangenheit des Täters, Maßnahmen gegen das Risiko in Zukunft und der Schutz potentieller Opfer werden zuwenig berücksichtigt.

Bei Dominique Strauss-Kahn aber auch im Fall Kachelmann wurden die Aussagen der Frauen in Zweifel gezogen. Was halten Sie davon?
Es gibt das Phänomen der Falschanschuldigungen. Viel häufiger ist jedoch, dass wirklich etwas vorgefallen ist, das aber nicht bewiesen werden kann.

Zur Person:
Frank Urbaniok ist seit 1997 Chefarzt des Psychiatrisch Psychologischen Dienstes im Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich und Professor für Forensische Psychiatrie an der Universität Konstanz. Daneben ist der 48-Jährige als Psychotherapeut, Gutachter und Supervisor tätig. Sein Arbeitsschwerpunkt sind Sexual- und Gewaltstraftaten. Er entwickelte mit FOTRES (Forensisch Operationalisiertes Therapie- und Risiko-Evaluations-System) ein eigenes Qualitätsmanagement- und Dokumentationsinstrument für Risikobeurteilungen bei Straftätern, das heute in fünf verschiedenen Ländern zum Einsatz kommt.
 

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